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„Narrative sind immer multiperspektivisch zu betrachten“: Im Gespräch mit Ilko-Sascha Kowalczuk

Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist Historiker und hat zahlreiche Bücher über die DDR-Geschichte veröffentlicht, darunter bei C.H.-Beck Wissen den Band „17. Juni 1953“. Jüngst erschien seine umfangreiche Biografie „Walter Ulbricht. Der deutsche Kommunist“ (C.H. Beck), der zweite Band „Walter Ulbricht. Der kommunistische Diktator“ erscheint 2024.

LaG: Lieber Ilko-Sascha Kowalczuk, Sie beschäftigen sich schon seit vielen Jahren intensiv mit der Geschichte der DDR. Wirft der 17. Juni 1953 trotzdem noch neue Fragen für Sie auf?

Ilko-Sascha Kowalczuk: Ich wäre ein schlechter Historiker, wenn ich behaupten würde, Geschichte könnte jemals eine erledigte Sache sein. Historiker*innen konstruieren Geschichte aus der Vergangenheit, sie suchen sich Ausschnitte, Abschnitte, Details und Kontexte heraus und sind sich bewusst, dass sie damit ähnlich einem Ritt auf der Rasierklinge agieren. Wenn ich das ernst nehme, dann ist der „17. Juni“ für mich immer noch ein sehr interessanter und mit neuen Erkenntnissen befrachteter Vorgang. Zum Beispiel: In wenigen Wochen erscheint der erste Band meiner Biografie über Walter Ulbricht. Und natürlich spielt in dieser Biografie der „17. Juni“ eine zentrale Rolle. Und ich habe gestaunt, dass, als ich nochmals ganz präzise die Perspektive der Herrschenden am und auf den „17. Juni“ rekonstruiert habe, in meiner Wahrnehmung sich doch noch einmal etwas verschoben hat. Da ich eher jemand bin, der sich Geschichte aus der Perspektive der Gesellschaft anschaut, war dieser Perspektivwechsel für mich interessant.

LaG: Was war das Besondere am 17. Juni als Protestereignis?

Kowalczuk: Bei der Frage danach, was an Protesten wirklich originär und was tradiert ist, kann man bezüglich des „17. Junis“ feststellen, dass gerade in den Industrieregionen die Tradition der Arbeitskämpfe, der Proteste aus dem sozialdemokratischen Arbeitermilieu, wachgerufen werden. Zudem wird man feststellen – ein allgemeiner Befund der Protestforschung –, dass für bestimmte Aktionen, wie etwa den Sturm auf Gefängnisse oder öffentliche Gebäude, eher jüngere, ungebundene, nicht so gut qualifizierte Arbeiter*innen bereit sind, weil es dafür eine gewisse Waghalsigkeit braucht. Während die betrieblichen Anführer eher gestandene Leute sind mit einer guten Qualifikation und einem guten Einkommen, die in den betrieblichen oder regionalen Milieus auch ein gewisses Ansehen genossen.

Als Ähnlichkeiten zu anderen Protesten wird man feststellen, dass es ein typisch männlicher Protest ist – zwar sehr viele Frauen sich daran beteiligten, aber die Männergesellschaft nimmt sie nicht wirklich ernst, sondern sieht sie eher als Füllmasse an und so werden sie selten zu Protagonistinnen. Zudem erfolgten die Proteste fast parallel, was zeigt, wie es auch in den ländlichen Regionen rumorte, und wodurch es zum Zusammenschluss zwischen dörflichen und städtischen Protesten in diesen Juni-Ereignissen kam. Das ist schon sehr ungewöhnlich und verweist auf die Ursachen, auf die allgemeine Notlage.

LaG: Sie sprachen von Juni-Ereignissen. Es kursieren mehrere Bezeichnungen für das, was rund um den 17. Juni geschah. Welche ist für Sie die zutreffendste

Kowalczuk: Das, was wirklich besonders ist am „17. Juni“ bzw. an den Juni-Ereignissen – weil der „17. Juni“ schon vor dem eigentlichen 17. Juni beginnt und erst nach dem 17. Juni endet –, ist das schichten- und klassenübergreifende Agieren. Es ist eben nicht der Arbeiteraufstand und es ist nicht der Aufstand einer bestimmten politischen Gruppe, sondern es ist der Aufstand eines großen Teils der Gesellschaft. Und gerade, weil es ineinandergreift und alle gesellschaftlichen Schichten umfasst, ist meines Erachtens die Rede vom Volksaufstand historisch zutreffend.

LaG: Was waren die Voraussetzungen dafür, dass es flächendeckend – auch im ländlichen Raum – nahezu zeitgleich zu diesen erheblichen Protesten kam?

Kowalczuk: Erstens war der Druck auf der Gesellschaft in Kap Arkona ähnlich wie am Fichtelberg. Interessant ist – und das verweist auch auf das Ursachenbündel, das zu diesem Aufstand führte –, dass die Forderungen der Protestierenden fast überall identisch waren. Natürlich gibt es in einzelnen Betrieben spezielle Forderungen, die von den örtlichen Gegebenheiten abhängen, aber im Großen und Ganzen waren die politischen und sozialen Forderungen überall gleich. Das heißt, die Grunderfahrungen der Menschen waren ganz ähnlich. Das hängt mit dem zentralistischen, letztlich totalitären Anspruch der Machthabenden zusammen, ihr System flächendeckend ähnlich auszurichten. Das hat natürlich nicht funktioniert. Aber die Ansprüche waren da und deshalb entstanden die Forderungen im Frühjahr 1953 auch nicht aus dem Nichts, sondern aus den konkreten Situationen des Alltags heraus.

Der zweite Punkt, der zu diesen eruptiven Ereignissen führte, war das außergewöhnliche Fehlereingeständnis. Die Machthabenden haben mit der Verkündung des von Moskau diktierten „Neuen Kurses“ öffentlich zugegeben: „Jawoll, wir haben Fehler gemacht“. In demokratischen Gesellschaften gereichen Fehlereingeständnisse der Demokratie normalerweise zum Vorteil. In dem Moment, in dem in einem zentralistischen Regime mit totalitären Ansprüchen, in dem die Machthabenden die Wahrheit glauben, für sich gepachtet zu haben, Fehler, so massive Irrtümer eingestanden werden, setzt augenblicklich ein Legitimitätsverfall der Herrschaft ein. 

Und das dritte – und das ist für die Mobilisierung ganz entscheidend, wird aber oft nicht gesehen: In einer Gesellschaft, die eben nicht so medial vernetzt ist wie heute, wirkt es unglaublich mobilisierend, wenn die Herrschenden signalisieren, dass das, was ich bislang nur für meine persönlichen Grunderfahrungen hielt, allen passiert. Auf einmal stehe ich mit meiner Erfahrung nicht mehr gefühlt allein da, sondern sehe mich als Teil einer Gemeinschaft und das ermuntert mich, mit meinen Nachbarn, mit meinen Bekannten, mit meinen Kollegen etwas zu unternehmen, um meine Lebenssituation zu verbessern.

Und es kommt ein vierter Punkt dazu, der oft auch übersehen wird: Die Nachrichten über die Ereignisse in den Zentren werden ins Land getragen durch Pendler, die in Großbetrieben arbeiten, aber auf den Dörfern leben. Und es gibt übrigens noch eine kleine Gruppe, die das völlig unbeabsichtigt verbreitet: Das sind die ins Land entsendeten, völlig ratlosen, entgeisterten, hilflosen Funktionäre, die gar nicht wissen, was sie sagen sollen. Aber ihre pure Anwesenheit versetzt die Leute in Erstaunen und lässt fragen: „Was machen die eigentlich hier?“, da muss – ich sage das jetzt mal schön Berlinerisch – die Kacke ganz schön am Dampfen sein, wenn die auf einmal hier auftauchen. Hier sieht man, dass ganz viele Prozesse ineinandergreifen.

LaG: Wir stellen uns oft die Frage nach dem Verhältnis von Protest und der so genannten „schweigenden Mehrheit“. Repräsentieren die politischen Forderungen der Demonstrant*innen die Interessen der Mehrheit der DDR-Bürger*innen 1953

Kowalczuk: Wenn wir über Revolution reden – ich spreche von einer gescheiterten Revolution für 1953 –, reden wir immer von dem Phänomen, dass eine Minderheit gegen eine Minderheit aufsteht. Und die Masse steht dazwischen und wartet ab. Das war immer so. In Bezug auf 1989 glauben viele, alle wären dabei gewesen. Aber 1989 waren im Osten bis Anfang November 1989 weitaus weniger Menschen dabei als beim „17. Juni“. Es wird übersehen, dass sich historisch immer nur Minderheiten engagieren. Und insofern ist diese Minderheit vom „17. Juni“ erstaunlich groß mit etwa einer Million beteiligter Menschen und agiert relativ flächendeckend in über 700 Städten und Gemeinden. Wenn man berücksichtigt, dass die Forderungen der Protestierenden aus ihrem gesellschaftlichen Erleben entspringen, sind sie insofern über das eigentliche Protestmilieu hinaus repräsentativ. Warum? Bei vielen Forderungen, etwa denen nach freien Wahlen oder der Frage der Einheit Deutschlands, konnten sich die Protestierenden schon deshalb mit der Mehrheit der Gesellschaft treffen, weil diese Forderungen von allen erhoben wurden. Auch von den Kommunisten selbst, auch von der SED. Natürlich gab es Differenzen, wer was mit diesen Begriffen verbunden hat. Aber gleichwohl war die Forderung nach Abschluss eines Friedensvertrages mit Deutschland allen Menschen damals tief verinnerlicht. Bei den sozialen Forderungen ist es ganz genauso. Es ist erst acht Jahre nach Kriegsende, die Lebensbedingungen sind noch miserabel. Im Westen beginnt so langsam die erste große Erholungsphase. Im Osten ist dagegen seit 1952 das zaghaft erreichte Nachkriegsniveau massiv eingebrochen und das betraf Millionen von Menschen, die von der Verschlechterung der Lebensverhältnisse betroffen waren, Hunderttausende zudem von politisch motivierten Repressalien. Die hohen Fluchtzahlen zeugen davon. Beim Geld, beim Dach über dem Kopf, beim täglichen Brot, hört der Spaß auf. Auch aufgrund dieser Verflechtung von politischen und sozialen Motiven wurde das so ein breiter Aufstand.

LaG: Gab es nach dem 17. Juni Lernprozesse bei den staatlichen Akteuren der DDR?

Kowalczuk: Ich würde drei Folgen hervorheben. Die erste war: Der Gesellschaft ist durch den Einsatz von sowjetischen Militäreinheiten massiv demonstriert worden, dass die Kommunisten so lange an der Macht bleiben werden, solange die Besatzungsmacht den Herrschenden die Macht garantiert. Das hatte einschneidende, vor allem mentale Folgen. Das ist eine Erfahrung, die zur gleichen Zeit Protestierende in der Tschechoslowakei und später in Ungarn und Polen ebenfalls sammelten, jedoch noch viel massiver, weil der Militäreinsatz viel brutaler als in der DDR erfolgte, wo die Sowjets eher zurückhaltend agierten.

Die zweite Folge: Den Machthabenden ist mit großer Wucht vor Augen geführt worden, dass sie gegen die Mehrheit der Gesellschaft anregieren. Die Herrschenden haben mitbekommen, dass sie sich nur auf einen kleinen Teil ihrer eigenen Leute verlassen können. Das führte dazu, dass die Partei und ihre staatlichen Institutionen im Laufe der nächsten Jahre ein flächendeckendes Infiltrations-, Überwachungs-, Repressionssystem aufbauten, deren bekanntes, aber nicht wichtigstes Instrument das Ministerium für Staatssicherheit war. Ich nenne diesen Prozess den Prozess der inneren Staatsgründung, der 1952 einsetzte und mit dem Mauerbau 1961 endete. Ich interpretiere den Mauerbau als das eigentliche Lernergebnis vom „17. Juni“. Der Mauerbau war eine Präventivmaßnahme, die ohne die Erfahrung des „17. Juni“ nicht erklärbar und auch nicht denkbar ist: In der Krisensituation 1960/61, vieles ähnelte 1952/53, ist die gesamte Gesellschaft buchstäblich in Haft genommen worden und es wurde das größte Freiluftgefängnis der Welt errichtet. Das alles funktionierte aber nicht nur mit Repression, sondern ich möchte auf einen Lerneffekt hinweisen: Die Herrschenden initiierten nach dem „17. Juni“ einen sozialpolitischen Umschwung. Der Arbeiter- und Bauern-Staat hatte bis dahin die Intelligenz privilegiert, weil er diese soziale Gruppe für den Aufbau besonders benötigte und die Kommunisten dort kaum verwurzelt waren. Die Herrschenden wussten, dass sie eine neue Gesellschaft – zumindest in der Übergangsphase – nicht ohne die alten bürgerlichen Eliten aufbauen könnten, denen etwas geboten werden muss: ein sozialer Wohlfühlraum sondergleichen, unfassbare Privilegiensysteme. Doch davon sind sie nach dem „17. Juni“ insofern abgegangen, als nun die Sozialpolitik stärker auf die Arbeiter ausgerichtet worden ist. Das verstärkt sich nach dem Mauerbau noch. Der soziale Nivellierungsprozess wird die DDR bis 1989 prägen und wird zu einem Sargnagel des Systems. Die Gleichmacherei trug entscheidend zur Verödung bei, die wenigen Anreize waren für die meisten zu schnell ausgereizt.

LaG: Was sind dominante Narrative, die mit dem 17. Juni verknüpft sind und wie haben sie sich im Laufe der Zeit verändert?

Kowalczuk: Narrative sind immer multiperspektivisch zu betrachten: Moskau und Ost-Berlin haben schnell entschieden, dass es sich um einen konterrevolutionären, faschistischen Putsch handelt. Das sagt heute kaum noch jemand. Gleichwohl – und das wird eine interessante Debatte, die wir noch nicht geführt haben und an der ich mich gerne beteiligen würde, – muss man schon fragen dürfen, wo die ganzen Faschisten acht Jahre nach Kriegsende geblieben sind? Die sind ja weder alle Kommunisten noch Demokraten geworden. Wir kennen die Umfragen aus der Bundesrepublik, die erschreckend sind aus dieser Zeit, die man auf die DDR übertragen kann: Fast die Hälfte fand in den fünfziger Jahren den Nationalsozialismus schon ok, nur die Sache mit dem Krieg war etwas übertrieben...: Hitler war mitnichten ein Westdeutscher, obwohl die ostdeutschen Kommunisten das gerne so gehabt hätten.

In der Bundesrepublik ist der „17. Juni“ geschichtspolitisch sofort instrumentalisiert worden mit unterschiedlichen Motivlagen. Der Tag wurde zum Staatsfeiertag und als Aufstand für die deutsche Einheit instrumentalisiert. Seit 1963 ist er zudem Gedenktag. Doch dieses Narrativ vom Aufstand für die Deutsche Einheit schliff sich im Laufe der Jahrzehnte ab. In den 1970er und 1980er Jahren war der „17. Juni“ in der Bundesrepublik in der öffentlichen Wahrnehmung nur noch eine sozialpolitische Errungenschaft, nämlich ein Tag frei. Der Tag war inhaltsleer geworden. Erst seit Anfang der 1990er Jahre ist der Tag wieder stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden.

Ein weiteres Narrativ, worum in der Öffentlichkeit und Wissenschaft gestritten wurde, ist die Frage: Was war es nun für ein Aufstand? Arbeiteraufstand? Volksaufstand? Gescheiterte Revolution? Konterrevolution? Ich glaube aus den genannten Gründen, es war ein Volksaufstand. Zudem plädiere ich für den Begriff gescheiterte Revolution, verstehe aber auch, wenn jemand das überzogen findet. Das hat damit zu tun, dass in Deutschland der Revolutionsbegriff so romantisiert wird, während ich mit einem nüchternen Revolutionsbegriff arbeite. Die Ziele des „17. Juni“ bestanden darin, das Herrschaftssystem zu überwinden. So etwas nennen Historiker*innen Revolution. Und zwar entkleidet von der Vorstellung, dass eine Revolution immer etwas ist, was erreichen will, was es bisher noch nicht gab. Die meisten Revolutionen – einschließlich der von 1989 – waren Revolutionen, die etwas herstellen wollten, was es woanders schon gab.

Und ein weiteres Narrativ, über das immer noch heftig gestritten wird, nicht in der Wissenschaft, aber geschichtspolitisch: Welchen Einfluss hatten westliche Kräfte und der RIAS? Der Klassiker. Wenn man sich die Berichterstattung anschaut, dann wird man feststellen, wie peinlich bemüht der RIAS war, sich rauszuhalten, eher zu entschärfen. Es gab später sogar Untersuchungen in den USA darüber, ob der RIAS – im Kontext mit Stalins Tod am 5. März 1953 – prokommunistisch agiert hätte. Der RIAS spielte in der Propaganda der Kommunisten eine große Rolle, aber bei nüchterner Betrachtung war er ein Informationsmedium, das seinen Aufgaben nachkam, nicht mehr, nicht weniger. Und so ähnlich sieht es aus mit der Frage, welche Rolle westliche Geheimdienste spielten. Es sind viele Dokumente freigegeben worden, vom amerikanischen und vom englischen Geheimdienst und auch vom Gehlen-Dienst (BND) und vom Verfassungsschutz. Die tappten genauso im Dunkeln herum wie alle anderen. Die sind davon überrascht worden und hatten gar nicht die Chance, so schnell Einfluss zu nehmen. Ich will nicht ausschließen, dass sie es, wenn es länger gedauert hätte, nicht versucht hätten. Selbst Adenauer hat noch am Morgen des 17. Juni geglaubt, dass es eine Inszenierung der Kommunisten sei, um Ulbrichts Macht zu retten. Das hat er nicht nur laut gesagt, sondern das hat er auch geglaubt. Und das ist ein gutes Indiz dafür, dass sie mit einer großen Stange im Nebel stocherten.

LaG: Welche (Forschungs)perspektive ist in Bezug auf den 17. Juni noch unterbelichtet?

Kowalczuk: Der „17. Juni“ zeigt meines Erachtens, dass die deutsche Nachkriegsgeschichte bis zum heutigen Tage eben nicht nur eine Geschichte der Bundesrepublik mit ein paar Einsprengseln aus dem Osten ist, sondern dass wir die oft apostrophierte, bisher nicht eingelöste Perspektive einer gesamtdeutschen Geschichte einnehmen sollten. Damit wir noch stärker begreifen, wie sehr Vieles ineinandergriff. Und dafür ist der „17. Juni“ ein gutes Beispiel, weil die Gesellschaften noch längst nicht so geteilt waren, wie wir das später wahrgenommen haben oder vielleicht heute glauben.

LaG: Unser Magazin heißt „Lernen aus der Geschichte“. Können wir aus dem 17. Juni 1953 etwas für die Gegenwart lernen?

Kowalczuk: Die Antwort darauf hängt mit einem weiteren Narrativ zusammen, nämlich der Frage, warum wir uns heute noch mit dem „17. Juni“ beschäftigen. Ich glaube nicht, dass man aus der Vergangenheit und Geschichte lernen kann. Aber es gibt gute Gründe, sich mit ihr zu beschäftigen, wenn man politisch und historisch interessiert ist. Wir sollten uns bewusst machen, dass unsere Demokratie und unsere Freiheit nicht gottgegeben sind, sondern dass sie errungen wurden. Und dass sie auch verteidigt werden müssen. Wenn wir uns heute den Zustand unserer Gesellschaft anschauen, dann muss man darüber reden, wie damals Menschen unter Einsatz ihres Lebens für Freiheit, für Demokratie, für Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gingen, ohne zu wissen, wie es ausgeht.

Heute sehen wir, wie die Russische Föderation versucht, Freiheit mit allen Mitteln auszumerzen. Es geht nicht nur um die Integrierung eines fremden Territoriums. Es geht auch darum, Werte auszumerzen und der oberste Wert, den der Kreml vernichten will, ist die Freiheit. Dann sollte uns der „17. Juni“ – in einer Reihe mit anderen Aufständen – als Aufstand gegen Willkürherrschaft mahnen, wie wichtig es ist, Freiheit auch verteidigen zu wollen. Wenn wir Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit schulen wollen, als Wert und als Lebensanschauung, dann ist der „17. Juni“, neben der Revolution von 1989, geradezu ein klassisches Beispiel dafür. Beispiele, die es in einer Demokratie so nicht geben kann. In der Bundesrepublik gab es viele andere Verwerfungen, aber solche fundamental demokratischen Proteste kann es gegen eine funktionierende Demokratie nicht geben. Und insofern steht für mich der „17. Juni“ nicht nur als Aufstand für einen demokratischen Verfassungsstaat, sondern er steht für mich auch als Aufstand – ich gebe gerne zu, das ist eine geschichtspolitische Interpretation – für ein demokratisches, geeintes Europa.

Gleichzeitig beobachte ich heute etwas, das mir große Sorge macht. Dazu schicke ich voraus: Ich bin seit Jahrzehnten ein scharfer Kritiker der Putin-Diktatur, ich habe ukrainische Wurzeln. Ungeachtet dessen kann ich aber sehr genau unterscheiden zwischen meiner scharfen Kritik und meinen vernichtenden Urteilen zu Diktaturen, auch zur russischen, und meiner Wahrnehmung von Gesellschaften und von einzelnen Menschen. Jetzt beobachte ich – auch im Kontext des „17. Juni“ –, dass der in Deutschland tief verwurzelte Antislawismus neue Urstände feiert. Gerade in Deutschland ist das für mich schwer auszuhalten, dass das hier teilweise so undifferenziert hochköchelt. Oft wird gesagt: „Ja, also der 17. Juni, da haben ja die Russen schon gezeigt, was sie für“ – da werden dann nazistische Begriffe benutzt – „Menschen sind“. Aber es ist ein Unterschied, ob die Russen 1953 – sehr zaghaft, sehr zurückhaltend – ihr Hoheitsterritorium militärisch verteidigen; ob mir das nun passt oder nicht. Es ist ein großer Unterschied, weil die Russen damals nicht freiwillig in Ostdeutschland standen. Sie sind von Deutschland förmlich gerufen worden. Die Nachkriegsordnung von Jalta und Potsdam war das Ergebnis dessen.

Das sollte man nie vergessen und es führt zu einer anderen Debatte, die auch im Zusammenhang mit dem „17. Juni“ geführt wird und die wir in den nächsten Jahren massiv führen werden. Es wird immer voller Stolz berichtet, dass im Baltikum sowjetische Ehrendenkmäler abgerissen werden. Ich halte das für vollkommen richtig, weil sie dort Zeugnisse imperialistischer Besatzungswillkürherrschaft sind. Und nun fordern viele, dass sie auch in Ostdeutschland geschliffen werden müssen. Doch hier stehen die Denkmäler aus einem anderen Grund. Und diesen Grund, nämlich den Nationalsozialismus, sollten wir nicht nivellieren oder vergessen. Aber er wird laufend vergessen. Und das gipfelt darin, dass viele mittlerweile sagen, diese Denkmäler müssen weg. Es kommt ein weiterer Aspekt hinzu, weshalb ich gegen ihre Beseitigung bin: Sie sind auch ein Stachel in unserem Fleisch, den wir uns selbst zugefügt haben. Bei jedem dieser Denkmäler sind sowjetische Soldaten beerdigt. Und die sind nicht freiwillig hierhergekommen. Wir sollten nicht die Folgen der nationalsozialistischen Terrorherrschaft über Europa in Ostdeutschland tilgen wollen, indem wir sowjetische Ehrendenkmäler beseitigen. Hier verbinden sich Geschichte und Gegenwart und hier sehe ich auch Gefahren: Ganz klar gegen Putin, ganz klar gegen die russische Diktatur, kompromisslos der Ukraine mit allen Mitteln helfen. Aber auch: Nicht die russische Gesellschaft verteufeln, nicht die einzelnen russischen Menschen, auch wenn sie keinen Widerstand leisten, auch wenn sie nicht protestieren. Das Leben unter einer Diktatur sucht sich niemand aus. Wir sollten nicht übergriffig werden und jetzt Dinge miteinander vermischen. Das sage ich nicht nur, weil ich mich mit Diktaturen seit Jahrzehnten befasse, sondern weil ich selbst in einer Diktatur leben musste.

LaG: Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

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