Kaum ein anderes historisches Ereignis ist erinnerungspolitisch so aufgeladen wie der 8. Mai 1945. In und zwischen den beiden deutschen Staaten wurde jahrzehntelang um den Umgang mit diesem Datum gerungen. In der alten Bundesrepublik entstand erst durch die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker im Jahr 1985 eine Art Erinnerungskonsens:
„Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.“ (Weizsäcker 1985)
In der DDR bestand von Anfang an eine Kluft zwischen dem öffentlichen antifaschistischen Gedenken der Befreiung vom Hitlerfaschismus durch den Sieg der Roten Armee und dem privaten, individuellen Erinnern an das Ende des Krieges. Diese Diskrepanz der Erinnerung hatte und hat nachhaltige gesellschaftliche und politische Folgen über die Wiedervereinigung beider deutschen Staaten hinaus.
Es gibt kaum ein Datum, das unsere Vorstellung einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur so fundamental herausfordert wie der 8./9. Mai. Es wird in den Nachkriegsjahrzehnten und bis heute überformt von politischen Debatten und Konflikten.
Auch andere wichtige Daten, wie etwa der Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 mit dem Überfall auf Polen, der D-Day am 6. Juni 1944 oder die Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 haben große Symbolkraft. Sie sind Teil einer zunehmend post-historischen, auch ritualisierten Erinnerungskultur, in der die eigentlichen historischen Ereignisse mehr und mehr in den Hintergrund geraten. Dafür rücken gegenwärtige Herausforderungen, wie z. B. das Erstarken von Antisemitismus und Rechtspopulismus, in den Vordergrund.
Doch der Umgang mit dem Kriegsende – dem 8. Mai – hat aufgrund seiner Brisanz für die politischen und gesellschaftlichen Beziehungen in Deutschland und Europa eine andere Qualität. Ist er gar der ultimative Stresstest der Erinnerungskultur und, wenn ja, was sind die Gründe dafür?
Anhand von drei erinnerungskulturellen Herausforderungen – dem rechtspopulistischen Geschichtsrevisionismus, der Geschichtspropaganda der russischen Machthaber und der Erinnerung an das Kriegsende in einer (post-)migrantischen Gesellschaft – wird im Folgenden beispielhaft die Komplexität des Gedenkens an den 8. Mai verdeutlicht. Daran anschließend wird aufgezeigt, wie wir zu einem kritischen, geschichtsbewussten Umgang mit diesem Gedenktag finden können, der sowohl zum historischen Verständnis als auch zur demokratischen Kultur beiträgt.
Die Hervorhebung der Niederlage, Flucht und Vertreibung der Deutschen – bei gleichzeitiger Ausblendung der deutschen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust – bildet eine Konstante des rechtsextremen und rechtspopulistischen Denkens. Stand jahrzehntelang die Holocaustleugnung im Vordergrund, geht es zunehmend um eine Relativierung und Bagatellisierung des NS-Unrechts. Exemplarisch dafür steht die vielfach zitierte „Vogelschiss“-Rede des damaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland von 2018 auf dem Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA). Gauland argumentierte, das Dritte Reich sei im Vergleich zu anderen Epochen der „tausendjährigen“ deutschen Geschichte eine Bagatelle, weil es nur zwölf Jahre gedauert habe.
Daraus resultiert die Forderung, den vermeintlichen „Schuldkult der Deutschen“ endlich zu beenden bzw. einen Schlussstrich unter die Erinnerung an den Nationalsozialismus zu ziehen. Neu ist, dass solche Positionen zunehmend salonfähig werden, ob in der politischen Debatte im Bundestag oder in den sozialen Medien. Sie rücken dabei auch geschichtsrevisionistische Erzählungen in die Mitte der Gesellschaft. Die mediale Verbreitung von Geschichtsmythen, wie z. B. vom „Bombenholocaust“ als Bezeichnung für die alliierte Bombardierung Dresdens im Februar 1945 oder Verschwörungserzählungen von der angeblich geplanten Vernichtung des deutschen Volkes durch einen Bevölkerungsaustausch, hinterlässt Spuren in der Debatte und im kollektiven Gedächtnis. Sie führt nicht nur zu rechtspopulistischen Hirngespinsten in Gestalt von Forderungen nach „Remigration“ von geflüchteten Menschen, sondern zu einer Diskursverschiebung in der Erinnerungsdebatte auch bei demokratischen Parteien, die z. B. in ihren Wahlprogrammen die Besinnung auf eine positive Leitkultur, deutsche Brauchtumspflege und eine Erinnerung an Flucht und Vertreibung (der Deutschen) stärken wollen.
Der 9. Mai – der Tag des Sieges und des Endes des „Großen Vaterländischen Krieges“ war seit 1965 ein offizieller Feiertag in der Sowjetunion. Er wurde mit großen Militärparaden z. B. auf dem Roten Platz in Moskau und offiziellen Ehrungen für Kriegsveteran:innen gefeiert. Die individuelle Erinnerung, die Trauer um Millionen von Toten, Kriegsfolgen wie Traumata und Kriegsverletzungen hatten dabei wenig Platz. In ihrer Nobelpreisrede beschrieb die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch diese persönliche Dimension so:
„Das war ein Krieg, den ich nicht kannte. Der Krieg der Frauen. Da ging es nicht um Helden. Nicht darum, wie die einen heldenhaft die anderen töteten.“(Alexijewitsch 2015)
Auch nach dem Ende der Sowjetunion wurde in der Russischen Föderation das offizielle Gedenken an das Kriegsende neben der militärischen Machtdemonstration vor allem unter der Herrschaft des russischen Präsidenten Wladimir Putin, spätestens seit 2014, ein zentrales Propagandainstrument. So wird das Gedenken dazu instrumentalisiert, krude historische Vergleiche zu ziehen und einen Bogen vom Sieg über Nazi-Deutschland zum Kampf gegen die vermeintlich faschistische Ukraine zu spannen, um den russischen Angriffskrieg zu legitimieren.
Demgegenüber bemüht sich die Ukraine darum, ihre Rolle während des Zweiten Weltkriegs und ihren Beitrag zum Sieg gegen das nationalsozialistische Deutschland zu verdeutlichen. Die immensen Zahlen ukrainischer Kriegsopfer sind der westeuropäischen Öffentlichkeit weiterhin wenig bekannt, auch weil zwischen der Sowjetunion und Russland oft nicht unterschieden wird und die damaligen Kriegsgeschehnisse in der Ukraine wenig Aufmerksamkeit erhalten.
Dieser „Krieg der Erinnerung“ birgt politische und protokollarische Herausforderungen und Risiken in sich, wenn z. B. Entscheidungen darüber getroffen werden müssen, welche offiziellen Repräsentant:innen zu Gedenkveranstaltungen eingeladen werden sollen bzw. welche staatlichen Symbole dabei gezeigt werden dürfen.
Sigmund Stochlitz, ein jüdischer Überlebender des KZ Bergen-Belsen beschreibt seine Wahrnehmung des Kriegsendes folgendermaßen: „Dies war kein Happy End. Es war der Beginn von etwas Unbekanntem, Verstörendem. Ein leerer Sieg.“ (Zit. n. Chamberlin/Feldman 1987)
Das Zitat illustriert eine jüdische Perspektive unmittelbar nach Ende des Krieges. Die jüdische Erfahrung, gekennzeichnet von Flucht, Verfolgung und Verlust, spiegelt sich allerdings auch in den nachfolgenden Jahrzehnten in den bundesrepublikanischen Debatten kaum wider. Für viele vom Nationalsozialismus verfolgte Menschen, Jüd:innen und Juden, Rom:nja und Sinti:zze, queere Menschen oder als "asozial" Verfolgte, beginnt mit dem Kriegsende der lange Kampf um Anerkennung und Entschädigung, vielfach begleitet von Desinteresse, fortwährender Diskriminierung und Verleugnung durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Für andere (post-)migrantische Menschen und Gruppen, deren eigene Narrative und Erinnerungen sich nicht nahtlos in die Kategorien von Täter:innen und Opfern einordnen lassen, bleibt der Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Kriegsende bis heute herausfordernd. Autor:innen wie Max Czollek mahnen daher zu Recht die Notwendigkeit einer pluralen, vielfältigen Erinnerungskultur und die Sichtbarmachung von migrantischen Perspektiven an. Um junge Menschen mit diversen familiären Erinnerungshintergründen zu erreichen, ist es essenziell Bezüge zu anderen globalen Kriegen und Konflikten herzustellen, jenseits der mittlerweile etwas angestaubten Frage „War Opa ein Nazi?“
In der MEMO-Studie, dem multidimensionalen Erinnerungsmonitor der Universität Bielefeld und der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, sagten 77 % der Befragten, dass das Thema Befreiung im Zentrum einer gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur zum Ende des Zweiten Weltkriegs stehen sollte. Das ist ein wichtiger Befund, denn er zeigt, dass eine Beschäftigung mit dem 8. Mai auch 80 Jahre später noch relevant ist.
Gleichzeitig gilt es, der eingangs beschriebenen Gefahr einer Entkoppelung zwischen historischem Wissen und Interesse, historischem Ereignis einerseits und politischem Bekenntnis andererseits zu begegnen. Angesichts der realen Bedrohungen der demokratischen Erinnerungskultur müssen vor allem ihre Institutionen geschützt werden – also Gedenkstätten, wissenschaftliche Einrichtungen und Träger:innen der historisch-politischen Bildung. Nur so kann eine unabhängige, plurale Erinnerungslandschaft gefördert und eine lebendige Gedächtnispraxis gewährleistet werden. Gedenktage wie der 8. Mai haben in diesem Gefüge einen wichtigen Platz – im Fokus sollten hier, solange es geht, die Überlebenden selbst und auch ihre Nachkommen stehen. Um Geschichtsrevisionismus nachhaltig vorzubeugen, ist abgesehen von jährlich stattfindenden offiziellen Gedenkveranstaltungen vor allem eine partizipative und innovative Bildungs- und Kommunikationsarbeit notwendig, analog, digital und europäisch vernetzt. Denn die eigentliche Aufgabe ist es nicht, an das Ende des Zweiten Weltkriegs, sondern an das Leid von Millionen von Menschen zu erinnern und vor den fatalen Folgen menschenverachtender Ideologien und rechtspopulistischer Bestrebungen zu warnen.
Alexievich, Svetlana [Alexijewitsch, Swetlana]: Von einer verlorenen Schlacht. Nobelvorlesung anlässlich der Verleihung des Nobelpreises 2015, in: The Nobel Prize [Website], 07.12.2015, URL: https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2015/alexievich/25402-svetlana-alexievich-nobelvorlesung/ [eingesehen am 28.02.25].
Chamberlin, Brewster/Feldman, Marcia (Hrsg.): The Liberation of the Nazi Camps 1945. Eyewitness Accounts of the Liberators, Washington 1987, S. 154.
Czollek, Max: Versöhnungstheater, München 2023.
MEMO-Studie zur Erinnerungskultur in Deutschland, in: Stiftung Erinnerung, Verantwortung Zukunft [Website], URL: https://www.stiftung-evz.de/was-wir-foerdern/handlungsfelder-cluster/bilden-fuer-lebendiges-erinnern/memo-studie [eingesehen am 28.02.25].
Gauland, Alexander: Vollständige Rede 2. Juni 2018, in: AfD-Fraktion im Bundestag [Website], URL: https://afdbundestag.de/vollstaendige-rede-dr-alexander-gaulands-vom-02-juni-2018/ [eingesehen am 28.02.25].
Weizsäcker, Richard von: Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa [Rede am 08.05.1985], in: Der Bundespräsident [Website], URL: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html?nn=129626 [eingesehen am 28.02.25].