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Gesellschaftliche Resilienz und der vernetzte Ansatz – liberale Demokratien stärken

Dr. Volker Jacoby ist Direktor des European Centre of Excellence for Civilian Crisis Management in Berlin, einer Organisation mit dem Auftrag, die EU-Mitgliedstaaten dabei zu unterstützen, das europäische Krisenmanagement im Rahmen der zivilen Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) zu stärken.
 
Theresa Caroline Winter ist Referentin für vernetzte Sicherheit und Verteidigungspolitik bei der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FNF). Sie ist unter anderem erweitertes Vorstandsmitglied des Netzwerkes Women In International Security Deutschland (WIIS).
 

Von Volker Jacoby und Theresa Caroline Winter

Wehrhafte Demokratien

Im März 2022 verabschiedeten die 27 Mitgliedstaaten der EU den Strategischen Kompass, in dem sie gemeinsame strategische Ziele der EU in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung beschreiben. Auf der zivilen Seite steht dort unter anderem die Verpflichtung, bis 2024 einen Prozess aufzusetzen, der zivile Fähigkeiten entwickelt und stärkt (Civilian Capability Development Process, CCDP). Dabei kann es sich zum einen um die Schaffung von Strukturen handeln, um den EU-Missionen mehr (auch weibliche) Sekundierte, also quasi von den Mitgliedsländern an die EU „ausgeliehenes“ Personal, zur Verfügung stellen zu können. Zum anderen geht es um die Entwicklung und Stärkung von innerstaatlichen und gesellschaftlichen Prozessen, die es ermöglichen sollen, anders und ganzheitlicher über eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU nachzudenken. Denn die Sicherheit liberaler Demokratien vor äußeren Bedrohungen ist keine Selbstverständlichkeit.

Spätestens seit der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 ist in Deutschland und überall sonst in Europa klar, dass Demokratien wehrhafter werden müssen. Bei diesem Prozess geht es allerdings nur oberflächlich um die Ausrichtung und Ausstattung des Militärs, die Stärkung kritischer Infrastruktur und die Neuausrichtung unserer Außen- und Handelspolitik. Im Kern geht es vielmehr um unser Mindsetund das gesellschaftliche Verständnis von Frieden und Sicherheit.

Zwar erlebte der sicherheitspolitische Diskurs in Deutschland im vergangenen Jahr eine deutliche Konjunktur, doch noch fehlt es an seiner Verankerung und damit am Umgang mit der zwar nicht neuen, aber neu definierten Sicherheitslage in Europa in der Breite der Gesellschaft. Doch gerade die gesamtgesellschaftliche Partizipation an diesem Diskurs kann (und muss) die gesellschaftliche Resilienz stärken, also die gesellschaftliche Widerstandsfähigkeit angesichts großer Herausforderungen. Denn über die auch militärische Unterstützung der Ukraine hinaus geht es nicht nur um „harte“ sicherheitspolitische Aspekte wie die Umstrukturierung der Bundeswehr, die Erhöhung des Wehretats, die Beschaffung von militärischer Ausrüstung und die Rückbesinnung auf Landes- und Bündnisverteidigung. Vielmehr muss das deutsche Verständnis von Freiheit, Demokratie und Frieden mit Blick auf Sicherheit neu gedacht werden. Liberale Demokratien müssen wehrhaft sein: Die deutschen Sicherheitsorgane müssen wieder mehr in die Gesellschaft integriert werden, jede*r Bürger*in muss das Bedürfnis nach Verantwortung für und das Mitwirken an demokratische(n) Prozessen entwickeln und in der Partizipation an diesen Prozessen gestärkt werden.

Theresa Karoline Winter spricht auf der Tagung. © Jens Schubert

Der vernetzte Ansatz

Der sogenannte „vernetzte Ansatz“ des internationalen Krisenmanagements, der seit geraumer Zeit propagiert wird und unter anderem in Afghanistan zum Einsatz kommen sollte, muss nachhaltig neu gedacht werden, damit sein bislang weitgehend ungenutztes Potenzial ausgeschöpft werden kann. Die Grundidee des Ansatzes ist folgende: Damit nachhaltig Frieden und Sicherheit geschaffen werden können, müssen verschiedenste Akteur*innen eng zusammenarbeiten. Sicherheit ist also nicht isoliert als Aufgabe des Militärs zu betrachten, sondern als gesamtheitliche Anstrengung von Politik, Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Entwicklungszusammenarbeit und natürlich auch Sicherheitsorganen wie Militär und Polizei.

Zu lange haben wir bequem eine Kompartmentalisierung gepflegt: Für unsere Sicherheit sorgen Bundeswehr, Polizei und andere Organe, während wir unser Leben als konsumfreudige Citoyen genießen. Das Beispiel Afghanistan illustriert das Dilemma, das mit dieser Kompartmentalisierung von Sicherheit einhergeht: Dort wurden regelmäßig kurzfristige Sicherheitserfordernisse und eine langfristige strategische Stärkung gesellschaftlicher Entwicklungen gegeneinander ausgespielt. So stellten etwa große zivile Organisationen der Entwicklungszusammenarbeit aus Deutschland Listen mit Warlords zusammen, mit denen State- oder Nation Building unmöglich wäre. Und gleichzeitig arbeitete die Bundeswehr teilweise mit genau diesen Akteuren im Rahmen ihres so genannten Key Leader Engagement eng zusammen. Eine gemeinsame strategische Planung zwischen beiden deutschen Akteursgruppen fand nicht statt. Unter dem Resultat dieser und ähnlicher Fehlleistungen leidet die afghanische Zivilbevölkerung, vor allem die Frauen, seit August 2021. Was hätte es gebraucht? Vernetztes Denken und Handeln! Die Anerkennung, dass in einem kurzen Zeithorizont gedachte, „harte“ Sicherheit ohne langfristig ausgelegte Stärkung gesellschaftlicher Resilienz ein Strohfeuer bleiben muss.

Deshalb gilt es, die Dichotomie aufzubrechen, wenn es uns als Gesellschaft gelingen soll, die notwendigen Anstrengungen gemeinsam zu tragen und die Ressourcen zur Verfügung zu stellen, die es braucht, um einen substanziellen Beitrag zu nachhaltigem und gerechtem Frieden zu schaffen. Die Lessons Learned etwa aus Afghanistan und der stattfindende Krieg Russlands gegen die Ukraine bilden hierbei einen gemeinsam zu betrachtenden Hintergrund. Der politische Wille hierzu muss von einem gesellschaftlichen Konsens getragen werden, der im Moment noch nicht erkennbar ist.

Das Dilemma des ungelösten Ur-Konflikts: „Nie wieder Krieg“ oder „Nie wieder Auschwitz“

Bevor in Bezug auf das gesellschaftliche Mindset, die geistige Haltung und Mentalität, jedoch ein Umdenken stattfinden kann, steht in Deutschland eine tiefgehende Debatte um den nicht aufgelösten beziehungsweise verdrängten Ur-Konflikt aus.

Im Jahr 1991, zur Zeit des Ersten Golfkriegs, fand im Berliner Literaturhaus eine denkwürdige Diskussion zwischen dem israelischen Schriftsteller Yoram Kaniuk und Günter Grass statt. Es ging unter anderem um die Frage, ob sich Deutschland am Golfkrieg beteiligen sollte, was damals die politischen Entscheidungstragenden ablehnten mit dem Verweis auf eine aus der Zeit des Nationalsozialismus gezogene Lehre: „Nie wieder Krieg“. Saddam Hussein feuerte zu der Zeit einige Scud-Raketen nach Israel ab, die, so wurde befürchtet, mit Gas gefüllt sein könnten, das im Irak in von einem großen deutschen Industrieunternehmen erbauten Anlagen produziert wurde. Kaniuk forderte von Deutschland Solidarität ein, nicht zuletzt aufgrund der unerträglichen Vorstellung, dass wieder Juden von (deutschem) Gas bedroht würden: „Nie wieder Auschwitz“.

Das katastrophale Scheitern des Dialogs im Literaturhaus gründete in der Überzeugung, dass die beiden (in diesem Fall möglicherweise unvereinbaren) Maximen „Nie wieder Auschwitz“ und „Nie wieder Krieg“ ein ausreichendes sicherheitspolitisches Konzept für Deutschland darstellten. Das ist aber mitnichten so! Heute hören wir Debatten einerseits um die „Notwendigkeit von Verhandlungen“ im Krieg Russlands gegen die Ukraine, andererseits um die Notwendigkeit, die Ukraine unter anderem durch Waffenlieferungen einem Sieg näherzubringen. Und dann blicken wir auf die zuvor doch so erfolgreiche Entspannungspolitik und können uns nicht vorstellen, dass der damals oft zitierte Satz, dass Sicherheit in Europa ohne oder gar gegen Russland nicht möglich sei, bereits Teil einer eklatanten Fehleinschätzung war. Dass ein solcher Satz als Leitlinie von Außen- und Sicherheitspolitik nicht taugt, lernen wir jetzt erst. Denn Frieden ist kein selbstverständliches Ziel einer jeden Regierung auf dieser Welt, und aus einem „Nie wieder Krieg“ kann schnell eine zynische Reduktion des Konzepts Frieden auf die Abwesenheit von Krieg werden.

Volker Jacoby beim Vortrag. © Christiane Deuse

Feminist Foreign and Security Policy

Doch was bedeutet das nun konkret? Wir können vernetztes Denken und Handeln im Ausland im Rahmen von (zivilem) EU-Krisenmanagement und anderen Friedenseinsätzen von UN oder OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) nicht effektiv gestalten, wenn wir nicht im Innern, also in unserer Gesellschaft, bereit sind, uns von der Bequemlichkeit zu verabschieden, dass man Sicherheit den Profis überlassen kann. Wenn es um unsere Sicherheit auch als Gesellschaft geht, um unsere Resilienz etwa gegenüber hybriden Bedrohungen, Fake News, Populismus und dergleichen mehr, dann sind wir alle in der Pflicht.

Ein gesellschaftlicher sicherheitspolitischer Diskurs, der jenseits von männlich dominierten Eliten in Deutschland stattfindet, scheint gerade erst zu beginnen. Das verdanken wir auch dem Umstand, dass die Expertise vieler Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen in dieser Situation (endlich) verstärkt sichtbar wird. Nebenbei gesagt: Eine großartige Startposition dafür, die von Annalena Baerbock propagierte Feminist Foreign Policy zu einer Feminist Foreign and Security Policy werden zu lassen.

Um eine breit angelegte sicherheitspolitisch geprägte Debatte zu initiieren, ließe sich eine Security Policy Goes Oberstufe entwickeln: Think Tanks, Bundeswehr, zivile Organisationen (politische Stiftungen, das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze u.a.) könnten gemeinsam an Schulen gehen, um dort in der Oberstufe Debatten über Sicherheitsfragen und den gesellschaftlichen Umgang mit diesen zu führen. So können sicherheitspolitisch blinde Flecken identifiziert und gemeinsam Aufgaben für weitere Debatten formuliert werden. Über die Schulen erreichen wir auch mehr Menschen mit Migrations- und Vertreibungserfahrungen. Aus dieser Diversifizierung der walks-of-life entstehen zwangsläufig auch neue Interpretationen und Erfordernisse an sicherheitspolitische Debatten jenseits bequemer Allgemeinplätze. Denn gesellschaftliche Resilienz braucht Teilhabe, braucht das gemeinsame Erarbeiten von Fragen und Antworten. Dafür braucht es viel mehr Foren, die eine civilian capability darstellen, deren Funktionieren Voraussetzung für eine auf nachhaltige gesellschaftliche Resilienz ausgerichtete Außen- und Sicherheitspolitik ist.

 

Literatur

Kaniuk, Yoram: Dreieinhalb Stunden und fünfzig Jahre mit Günter Grass in Berlin, in: Zeit online, 21.06.1991, URL: https://www.zeit.de/1991/26/dreieinhalb-stunden-und-fuenfzig-jahre-mit-guenter-grass-in-berlin/komplettansicht [25.02.2023].

 

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