Liebe Leser*innen,
Als wir vor Monaten die vorliegende LaG-Ausgabe planten, ahnten wir nicht, dass ihr Thema bei Erscheinen Gegenstand einer auch jenseits der Feuilletons geführten emotionalen und intensiven Debatte sein würde. Das Thema ist nicht neu, aber es trifft einen Nerv.
An der Frage, in welchem Verhältnis Ost- und Westdeutschland heute zueinanderstehen, erhitzen sich seit Wochen die Gemüter. Mittlerweile überlagern sich unterschiedliche Debattenstränge – angefangen von der Unsicherheit hinsichtlich der angemessenen Begrifflichkeiten über die Problematisierung der bis heute spürbaren Folgen des Transformationsprozesses bis hin zu Überlegungen, ob eine gesamtdeutsche konstruktive Perspektive zu erreichen sei.
Es ist eine Repräsentationsdebatte, in der zu Recht skandalisiert wird, dass die gesellschaftliche Teilhabe und die Chancen Ostdeutscher immer noch gravierend geringer ausfallen als die Westdeutscher, etwa was Führungspositionen, aber auch Verdienst, Möglichkeiten zum Vermögensaufbau etc. betrifft.
Es ist zugleich eine identitätspolitische Diskussion, die verhandelt, ob es eine spezifisch ostdeutsche Mentalität gibt, die sich allerdings – so zumindest die Wahrnehmung prominenter Debattenteilnehmer*innen – stets erklären müsse, ob sie demokratisch und weltoffen oder nicht doch nationalistisch bis rechtspopulistisch sei. Hier spielen unterschiedliche Formen des Othering eine Rolle: Ist „ostdeutsch“ nicht eine Konstruktion des Anderen (und hier gemeint: Schlechteren, Rückständigen) aus westdeutscher Perspektive, „der Ostdeutsche“ also eine stereotype Konstruktion des Westens?
Einigkeit besteht bislang eigentlich nur darin, dass das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland gesamtdeutsch und nicht als ostdeutsche Partikulardebatte verhandelt werden müsse, auch, indem beide (historischen) Perspektiven integriert werden. Das würde beinhalten, dass die westliche Perspektive dezentriert und so eine gesamtdeutsche Geschichte erzählt wird.
Im vorliegenden Heft versuchen wir, vielstimmig einige Fragen zu diskutieren, die sich aus Perspektive der postkolonialen Theorie an diese Debatte richten lassen:
Ist es sinnvoll, im Zusammenhang mit der Transformationszeit von „Kolonisierung“ zu sprechen? Was lässt sich ausgehend von der Kolonisierungs-Analogie über den gesellschaftlichen Zusammenhalt (und seine mögliche Erosion) zwischen Ost und West sagen? Wie verhält sich das seit den 1990er Jahren immer wieder diskutierte Kolonisierungs-Narrativ zur Konjunktur von postkolonialer Theorie in den Geistes- und Kulturwissenschaften?
Vor diesem Hintergrund stellt sich Kathleen Heft die Frage: Wie kann man heute angemessen über den Osten sprechen?
Thomas Ahbe wirft einen differenzierenden Blick auf die im Diskurs wirkmächtigen Fahnenwörter von „Wende“ bis „Kolonisierung“.
Michael Hofmann diskutiert die Frage nach einer möglichen Kolonisierung der DDR als „Rückseite der Modernisierung“.
Und um die Vielschichtigkeit der Debatte abzubilden, sprachen wir einerseits mit Dirk Oschmann über den „Osten als westdeutsche Erfindung“, andererseits am roundtable mit Katharina Warda und Heiner Schulze über die Potenziale und Fallstricke postkolonialer Terminologie und Theorie im Hinblick auf die deutsch-deutsche Transformation.
Zuletzt stellen wir unseren Leser*innen mit einer umfassenden Literaturschau verschiedene Zugänge und Perspektiven auf die zuvor verhandelten Themen vor.
Wir freuen uns sehr, dass wir die vorliegende Ausgabe in Kooperation mit dem Berliner Standort des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt, dem Zentrum für Antisemitismusforschung, umsetzen konnten und bedanken uns herzlich für die Förderung!
Das nächste LaG-Magazin erscheint voraussichtlich am 30. August und beschäftigt sich mit Umweltbewegungen und -protesten in der DDR im Vergleich zu heute.
Und nun wünschen wir Ihnen eine interessante und im besten Fall perspektiverweiternde Lektüre!
Ihre LaG-Redaktion