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Die Rückseite der Modernisierung – Aspekte der Kolonialisierung Ostdeutschlands

Prof. Michael Hofmann ist außerplanmäßiger Professor i.R. für Kultursoziologie an der TU Dresden. Seine Forschungsfelder sind insbesondere Transformations- und Milieuforschung.

von Michael Hofmann

Die modernisierungstheoretische Deutung der postsozialistischen Transformation

Für die gesellschaftlichen Entwicklungen der Bundesrepublik Deutschland in der Nachkriegszeit wurde in den 1950er und 1960er Jahren die Modernisierungs­theorie zum wichtigsten gesellschaftswissenschaftlichen Deutungs­muster. Diese Theorie vermittelt das Bild einer nachholenden Modernisierung, die (demokratisch) rückständige Gesellschaften zu absolvieren hätten, um zu den führenden westlichen Industriestaaten (vornehmlich zu den USA) aufschließen zu können. Zwar geriet die Modernisierungstheorie bereits in den 1970er Jahren stark in die Kritik und die Konvergenztheorie, die davon ausging, dass sich kapitalistische und sozialistische Systeme aufgrund der gleichen ökonomischen und technischen Probleme und Entwicklungen eher angleichen werden, gewann an Einfluss.

Jedoch: Mit den ökonomischen Erfolgen der neoliberalen Politik bei der Bekämpfung der Öl- und Wirtschaftskrisen seit den 1970er Jahren schien sich die Modernisierungsthese wieder bestätigt zu haben. Globalisierung, Deregulierung und Privatisierung von öffentlichem und staatlichem Eigentum setzten sich in allen westlichen Staaten als Politikgrundsatz durch. Der Westen hatte sich damit (auf Kosten steigender sozialer Ungleichheiten) ein „modernes“ ökonomisches System geschaffen. Kein Wunder also, dass die Modernisierungstheorie auch als Deutungsmuster der gesellschaftlichen Transformation in Osteuropa und der DDR ein grandioses Comeback feierte. Die Vereinigungs­geschichte wurde in den deutschen Sozialwissen­schaften fast durchweg modernisierungstheoretisch gedeutet. Der Modernisierungs­blickwinkel ist auch im Alltagsverständnis wirkmächtig. Tatsächlich erlebten die Ostdeutschen eine rasche Verbesserung demokratischer Verhältnisse, der Infrastruktur und des Konsumniveaus.

Aber die Modernisierungstheorie ist eine Struktur­theorie. Die Frage, ob eine dergestalt modernisierte Gesellschaft auch eine bessere oder nachhaltigere Gesellschaft ist, lässt sich nicht so leicht beantworten. Das Zukunftsbild der Modernisierung ist die politische Überzeugung, dass westliche Gesellschaften privatwirtschaftlich effizienter seien und sich im Wettbewerb durchsetzen würden. Deshalb bleibt uneffektiveren Volkswirtschaften nichts weiter übrig, als sich dem Vorbild moderner Gesellschaften anzupassen. Dies geschieht vor allem in den ärmeren Regionen dieser Welt. Allerdings vergrößert sich dabei der Abstand zwischen den reichsten und den ärmsten Ländern eher, als dass er schmilzt. Aus diesem Blickwinkel ist es kein Wunder, dass der wirtschaftliche Aufholprozess Ostdeutschlands in den letzten Jahren zum Erliegen gekommen ist und sich die Abstände zwischen Ost und West eher verfestigen. Die Hoffnung auf ein „modernisierendes Einholen“ ist auch aus ökologischen Gründen problematisch. Wenn die gesamte Weltbevölkerung so produzieren und leben würde, wie die „Führungsgesellschaft“ USA, dann brauchten wir mehr als fünf Erden, um zu überleben (vgl. Statista 2022). Dass die nachholende Modernisierung auch auf der Macht, dem politischen Druck und der ökonomischen Erpressung der führenden kapitalistischen Staaten gegenüber Schwächeren basiert, spielt in den Analysen zur Modernisierung des Ostens kaum eine Rolle. Die Modernisierungstheorie ist eben keine kritische Theorie, sondern eher ein politisches Strukturkonzept zur Angleichung der Welt an die führenden Nationen des Westens.

Das ist ein Grund dafür, warum die grundsätzliche Kritik des Vereinigungs­prozesses als Kolonialisierung erstaunliche Resonanz erfährt. Deutet man die Transformationsgeschichte Ostdeutschlands mit einem Kolonialisierungsansatz, so kommen vor allem die Zerstörungen in den Blick. Der Blickwinkel der Kolonialisierung beleuchtet die Rückseite der Modernisierung.

Kann man wirklich von Kolonialisierung sprechen?

Allerdings ist Vorsicht geboten. Mit „Kolonialisierung“ bezeichnet man die Eroberungen des Westens von der Entdeckung Amerikas 1492 bis zur Unabhängigkeitserklärung der USA 1776 und der Französischen Revolution sowie den Spätkolonialismus des 19. Jahrhunderts. Hier nahmen westliche Kolonisatoren und Kolonisatorinnen auswärtige Territorien in Besitz und unterwarfen, vertrieben oder ermordeten die ansässige Bevölkerung. Davon kann im Vereinigungsprozess natürlich keine Rede sein und es wäre historiografisch fatal, das Vereinigungsgeschehen mit der Kolonialisierung zu gleichzusetzen.

Das Konzept der Kolonialisierung der DDR entstammt im Wesentlichen den Überlegungen von Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar, die es definierten als „die Unterwerfung der Gesellschaft Ostdeutschlands (die sich durchaus auf einem Weg eigenständiger demokratischer Erneuerung befand) unter die politisch-ökonomische Herrschaft der westdeutschen Republik […] Die Durchsetzung der Herrschaftsinteressen der konservativen politischen und ökonomischen Eliten der alten Bundesrepublik, d.h. der Wille – koste es was es wolle – die Wahl im März 1990 zu gewinnen, den DDR-Markt zu erobern und die westlichen Systemideologien durchzusetzen, hat die Gestaltung von Alternativen verhindert“ (Dümcke/Vilmar 1995: 7f.).

Die Autoren bezeichnen die Zerstörung der einheimischen Wirtschaftsstruktur, die Ausbeutung vorhandener ökonomischer Ressourcen, die soziale Liquidierung politischer Eliten und der Intelligenz der DDR sowie die Zerstörung einer gewachsenen – wie auch immer problematischen – Identität der Bevölkerung als Kolonialisierung (Dümcke/Vilmar 1995: 13).

Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses. © Agenda Verlag

Zwar werden in diesem Buch auch die ökonomischen Handlungsweisen westdeutscher Konzerne und der Treuhand beschrieben, aber eigentlich hat der Kolonialisierungsansatz – im Gegensatz zu kritischen Imperialismustheorien, die vor allem auf politökonomischen Analysen basieren, – keine ökonomische Kompetenz. Er geht nicht gesellschaftstheoretisch vor, um die Transformationsverwerfungen zu kritisieren. Dümcke und Vilmar bewerten vor allem politisch. Die eigentliche Stärke ihrer Kolonialisierungsthese liegt eher darin, dass sie Kultur- und Identitätskämpfe im deutschen Vereinigungsprozess erfassen kann. Denn die Kolonialisierung des Ostens habe „für Millionen aktiver Bürger der ehemaligen DDR eine verhängnisvolle Verletzung ihrer Menschenwürde und Identität“ (Dümcke/Vilmar 1995: 106) bedeutet. Betrachtet man die Vereinigung aus diesem Blickwinkel, so stehen nicht vorrangig die materiellen, sondern die kulturellen und diskursiven Dimensionen des Geschehens im Mittelpunkt. Sie lassen erahnen, dass im modernen Europa koloniale Machtverhältnisse kulturell noch nicht überwunden sind. Auch heute noch dominieren westliche Länder und Gesellschaften ökonomisch schwächere Länder und Regionen mit einem Überlegenheitshabitus. Dieser hinterlässt oft große und langfristig wirkende kulturelle Zerstörungen und Kränkungen, die auch mit kluger Infrastrukturpolitik nicht ohne Weiteres ausgeglichen werden können. So gibt das Buch „Kolonialisierung der DDR“ im Jahr 1995 bereits einen Hinweis darauf, dass wir auch in Deutschland in einer postkolonialen Welt leben.

Anregungen aus den Postcolonial Studies

In Bezug auf die deutsche Vereinigung können wir durchaus von einem modernen wissenschaftlichen Kolonialisierungsansatz, von den Postcolonial Studies, profitieren. Die Postcolonial Studies, etwa aus der Feder von Edward Said oder Homi Bhabha, dekonstruieren eurozentristische, rassistische oder paternalistische Leitbilder westlicher Dominanz. Sie ziehen die Vorstellung universaler Gültigkeit westlicher Gesellschaftsanalyse und intellektueller Weltsicht in Zweifel und können auf diese Art langfristig einem Welt- und Wissenschaftsbild dienen, in dem die Vorstellung von Heterogenität unproblematisch geworden ist. Aus der Vorgehensweise der Postcolonial Studies können wir in Bezug auf den deutschen Vereinigungsprozess vieles lernen, zum Beispiel, dass

  • die offizielle, öffentliche, diskursmächtige und auch die wissenschaftliche Deutung, was Ostdeutschland sei, oft mehr mit der Zuweisung der Mächtigen und weniger mit der Beschaffenheit des Objektes zu tun hat,
  • sich postkolonialer Überlegenheitshabitus gut an den begrifflichen Konstruktionen wie „Beitrittsgebiet“, „Neubürger“ oder durch die Zuordnung der Herkunft Ostdeutscher aus einem Unrechtsstaat ablesen lässt,   
  • die Verunglimpfung und Ausgrenzung von Literatur und Kunst der DDR und Ostdeutschlands vor allem auf die Abwertung ostdeutscher Identität zielt.

Wir sehen allerdings auch, dass die interessanten Fragen, die die Postcolonial Studies aufwerfen, bisher die intellektuellen Diskurskreise und kulturpolitischen Eliten leider kaum verlassen konnten. Noch bleibt deren Perspektive eine – wie Edward Said es formulieren würde – westlich intellektuelle Weltsicht, die die dringend notwendige Selbstverständigung über die Werte in den westlichen Mehrheitsgesellschaften noch kaum befördern konnte.

Insgesamt waren die westdeutsche Politik und auch die sozialwissenschaftlichen Forschungen zur postsozialistischen Transformation so gut wie blind für strukturelle Reformchancen des Westens. Die neoliberalen Politikkonzepte verfolgen auch heute einen wenig reflektierten, jetzt auch grün angestrichenen Modernisierungskurs. Aber mit den Postwachstumsdiskussionen und den Postcolonial Studies gibt es in den deutschen Sozialwissenschaften wieder erstarkende kritische sozialwissenschaftliche Stimmen, die helfen können, bevorstehende Transformationsprozesse angemessener zu beschreiben.

 

Literatur

Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000.

Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995.

Geißler, Rainer: Nachholende Modernisierung mit Widersprüchen. Eine Vereinigungsbilanz aus modernisierungstheoretischer Perspektive, in: Aus Politik und Zeitgeschehen H. 40/2000, S. 22–29.

Statista 2022: Ökologischer Fußabdruck: Anzahl der benötigten Erden, wenn die Weltbevölkerung wie die Bevölkerung der aufgeführten Länder leben würde. URL: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/588224/umfrage/oekologischer-fussabdruck-der-laender-mit-den-hoechsten-werten/ [14.6.2023].

Said, Edward: Orientalismus, Frankfurt/Main 2009 [1981].

 

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