Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, Berlin 2019.
„Mit ‚Transformationsgesellschaft Ostdeutschland‘ ist kein Übergang von einem Anfangs- zu einem Endzustand gemeint, sondern eine andauernde Restrukturierung und Veränderung. […] Dieses Doppelbild der Entwicklung verweist auf das Nebeneinander von Einheitserfolgen und Scheitern, von Gewinnen und Verlusten, von Hoffnung und Enttäuschung, von Eingewöhnung und Entfremdung. Die Bilanz der Einheit ist nicht nur durchwachsen, sie ist auch durch und durch widersprüchlich.“ (9)
Um die Widersprüche und Bruchlinien des Transformationsprozesses und der ostdeutschen Gesellschaft fassen zu können, wählt der Soziologe Steffen Mau als analytischen Begriff den aus der Medizin entlehnten Ausdruck „Frakturen“. Darunter versteht er „Brüche des gesellschaftlichen Zusammenhangs […], die zu Fehlstellungen führen können“. Und mehr noch: Eine „frakturierte Gesellschaft“ – so Maus Kernthese – verliere an „Robustheit und Flexibilität, auch wenn oberflächlich alles in Ordnung scheint. Durch Frakturen können die Belastbarkeit, die Beweglichkeit und die Anpassungsfähigkeit eines gesellschaftlichen Gebildes noch über lange Zeiträume eingeschränkt bleiben. Das erklärt auch die erhebliche Unzufriedenheit, während es gleichzeitig viele positiv zu bewertende Entwicklungen gibt“ (10).
Mit dieser These widerspricht Mau der modernisierungstheoretischen Annahme, dass es friktionslose Modernisierungsprozesse oder eine sukzessive Normalisierung der deutsch-deutschen Verhältnisse geben könne. Stattdessen betont er „strukturelle Brüche im ostdeutschen Entwicklungspfad“. Zwar negiert Mau nicht die Transformationserfolge, doch beobachtet er eine spezifische Form der „ostdeutschen Sozialität“, die sowohl in sozialstrukturellen als auch in mentalen Gemengelagen wurzele und in der „neben langsam steigender Zufriedenheit auch Gefühle der Benachteiligung und der politischen Entfremdung wachsen, die mehr sind als ein nicht enden wollendes Murren einiger Ewiggestriger“ (11).
Maus Analyse gewinnt an Gehalt und Anschaulichkeit, weil er seine soziologischen Befunde an einen konkreten Ort rückbindet, an dem er selbst Akteur der beschriebenen Prozesse ist, an den Ort seines Aufwachsens: den Rostocker Stadtteil Lütten Klein, der sein „Fenster zur Beobachtung des sozialen Wandels in Ostdeutschland“ ist, ein „Erfahrungsraum“, der „Zugang zum Erleben aus erster Hand [ermögliche], alle Risiken der Zeitzeugenschaft, der Subjektivität und der Verwendung des Wörtchens ‚ich‘ inklusive“ (17).
Steffen Mau: Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft. © Suhrkamp Verlag
Um die von ihm diagnostizierten Frakturen soziologisch zu beschreiben, ist das Buch in zwei Teile unterteilt: Mau skizziert zunächst wesentliche Grundformationen der DDR-Gesellschaft (insbesondere ihre soziale Nivelliertheit und gleichzeitige Formiertheit) und anschließend die Transformationsprozesse, die – so seine These – bestehende Frakturen noch verstärkt und neue verursacht hätten. Dieser Gliederung folgend stellt Mau nicht nur unterschiedliche Perspektiven und Theorien vor, wie der Transformationsprozess bislang beschrieben wurde, sondern er skizziert vor allem detailliert die mentale, soziale und ökonomische Beschaffenheit der Gesellschaft, die Gegenstand seiner Betrachtung ist. Dabei berücksichtigt er stets mehrere Aspekte: das „lebensweltliche Gepäck und mentale Tradierungen, ökonomische Entsicherung und politische Integrationsdefizite“ (14).
Plausibel zeigt Mau auf, dass Begriffe wie „Wende“ und „Systemwechsel“ den Moment der Diskontinuität betonen; damit verdeckten sie, wie eng das Vorher und das Nachher miteinander verbunden seien. Gleichwohl interessieren ihn die Kippmomente des historischen Prozesses, beispielsweise die Zeitspanne, in der die bis dato dominierende Einschüchterung und Anpassung der Menschen bei den Montagsdemonstrationen in offenen Widerspruch umgeschlagen sei. Anschaulich schildert er einen solchen Kippmoment aus seiner persönlichen Perspektive als NVA-Soldat, der im Spätherbst 1989 auf einmal einen Soldatenrat mitgründete, der eine Lockerung der Regeln in der Kaserne forderte. Mau beschreibt auch, was auf die Kipppunkte folgt; ihr Verhältnis zu den langsamen Verfalls- und Implosionsprozessen, zu den zähen politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen; mit welchen Friktionen diese beladen waren, welche Ressourcen fehlten, um sie auf Augenhöhe gestalten zu können, und wie die anfängliche Mobilisierung rasch in Erstarrung mündete.
Schonungslos schildert Mau die Übernahmeprozesse des Westens in Ostdeutschland, etwa am Beispiel der Volkskammerwahl 1990, wo die im Osten nicht verwurzelten Volksparteien in einem Altersheim, in dem Mau arbeitete, Schokolade mit Parteilogo an Demente verteilt hätten, um so Wähler*innenstimmen zu gewinnen, ohne ihren inhaltlichen Kurs kenntlich zu machen. Solche Kapermanöver hätten die aufkeimende Demokratie in Ostdeutschland im Keim erstickt. Die verwendeten Synonyme für den von Ilko-Sascha Kowalczuk ausbuchstabierten Begriff der „Übernahme“ sind bei Mau vielfältig: „managerialer Ansatz“, „Subjektverlust“, „Einverleibung“, „Inkorporationsmodell“ oder „Landnahme“. Als zentrale Reaktion darauf beobachtet Mau eine ostdeutsche „Duldungsstarre“. Am Beispiel von Lütten Klein beschreibt er, was es für einzelne Individuen bedeutete, sich in einer grundlegenden wie andauernden gesellschaftlichen Transformation zurechtzufinden, die Nadel des inneren Kompasses ohne Ruhepol immer neu justieren zu müssen.
In den 1990er Jahren stimmten, so eine von Mau zitierte Umfrage, erhebliche Teile der ostdeutschen Bevölkerung der Aussage zu, die Westdeutschen hätten die DDR im Kolonialstil erobert. Zwar hält Mau den Kolonialisierungsvorwurf für „begrifflich irreführend und unlauter“ (159; unlauter deshalb, weil das Programm der Akteur*innen in Wahlen immer wieder bestätigt worden sei), nennt gleichwohl zentrale Argumente, auf die sich der Vorwurf stützt: Erstens die These, „man habe der Beitrittsgesellschaft einfach das komplette institutionelle, politische und rechtliche Korsett übergestülpt“, zweitens die Lesart der „Liquidation“ der soziokulturellen Traditionsbestände der ehemaligen DDR, drittens die ökonomische Dominanz der Westdeutschen durch die Abwicklung der DDR-Wirtschaft (insbesondere durch die Treuhand, deren Schattenseiten bislang nicht ausreichend aufgearbeitet seien) und, viertens, das Argument, die Ostdeutschen hätten ihre politische Handlungsfähigkeit verloren und hätten dabei zusehen müssen, wie die Macht auf westdeutsche Akteur*innen verlagert wurde. Die ostdeutsche Teilgesellschaft habe sich zur „Hinnahmebereitschaft verdammt“ (159) gesehen. Aus Perspektive der Ostdeutschen seien die Westdeutschen als „Usurpatoren“ und „Besserwessis“ gekommen, welche die von den Ostdeutschen erlebten Erschütterungen nicht sehen konnten oder wollten, sondern nur den unflexiblen und undankbaren „Jammerossi“ (160).
Der zu einer Wiedervereinigung national aufgeladene Beitritt, so Maus These, berge eine Unternutzung des demokratischen Potenzials der friedlichen Protestbewegung und eine Übernutzung des nationalen Potenzials politischer Mobilisierung. Statt ostdeutsche Akteur*innen einzubeziehen und gemeinsam Regeln einer neuen Demokratie auszuhandeln, erfolgte lediglich ein Beitritt zu einem bestehenden Staat. Zwar sei die „Politisierung einer gemeinsamen nationalen Identität […] eine wichtige Antriebskraft und Legitimationsquelle des Einigungsprozesses“ gewesen, doch habe diese „‘Rückkehr zur Nation‘ […] die Ausbildung und Pflege einer speziellen ostdeutschen Identität […] nicht vollständig verhindern“ können (254).
Die hier aufgeworfene Frage nach einer spezifisch ostdeutschen Mentalität ist auch verknüpft mit der typisierten Sozialfigur des „mittelalten ostdeutschen Mannes“, der in der Argumentation von Dirk Oschmann eine wichtige Rolle spielt (Oschmann 2023) und von Moritz von Uslar porträtiert wurde (von Uslar 2010 und 2020). Oschmann stützt sich dabei auf die Ausführungen Maus zur statusbezogenen Deklassierung (Über- und Unterschichtung). Diese Theorie geht vereinfacht gesagt davon aus, dass Frauen eher statusaufwärts (hier: Männer aus dem Westen) heiraten würden, so dass eine relevante Gruppe Männer im Osten „zurückgelassen“ worden sei. Mau möchte diese Sozialfigur zwar nicht verallgemeinert wissen, konstatiert aber, dass sich hier eine „instabile, vielleicht sogar brüchige Lage“ (240) herausgebildet habe, die man ebenfalls als Fraktur bezeichnen könne. Sie gehöre zum Nährboden der rassistisch motivierten Pogrome am Sonnenblumenhaus in Rostock-Lichtenhagen im Jahr 1992, das nur einen Kilometer von Lütten Klein entfernt liegt.
In seinem ehemaligen Kinderzimmer zieht Mau im Jahr 2018 sein Fazit. Obwohl er viele Argumente, die für eine Zurücksetzungsperspektive sprechen, ausbuchstabiert, greift diese laut Mau zu kurz: Sie könne die heute (noch) existierenden gesellschaftlichen Spannungen nicht erklären. Diese seien vielmehr Ausdruck gesellschaftlicher Frakturen, von denen viele bereits in der DDR-Gesellschaft angelegt gewesen wären und die im Zuge der gesellschaftlichen Transformation nicht geheilt, sondern häufig noch vertieft worden seien.
Fazit: „Lütten Klein“ von Steffen Mau bietet die Möglichkeit, zahlreiche auch kontrovers diskutierte Befunde zum Verhältnis von Ost und West empirisch gesättigt und im Detail nachzulesen. Insbesondere die Verbindung des wissenschaftlichen mit dem biografischen Zugang überzeugt; im zweiten Teil des Buches wäre sogar eine noch konkretere Anbindung an den sich verändernden Ort Lütten Klein und eine stärkere Einbettung der vor Ort geführten Interviews in die soziologischen Befunde wünschenswert gewesen.
Literatur
Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.
von Uslar, Moritz: Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, Köln 2010.
von Uslar, Moritz: Nochmal Deutschboden. Meine Rückkehr in die brandenburgische Provinz, Köln 2020.