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Zwischen „Wiedervereinigung“ und „Kolonialisierung der DDR“. Was Fahnenwörter über den Umbruch in Ostdeutschland erzählen – und was nicht

Thomas Ahbe, Dr. phil., studierte Philosophie, und arbeitet als Sozialwissenschaftler und Publizist. In seinen Veröffentlichungen beschäftigt er sich mit der Generationen-Geschichte der DDR und der Neuen Bundesländer, mit der Darstellung der Ostdeutschen in den Medien und mit der Geschichtspolitik von BRD, DDR und vereinigtem Deutschland.

von Thomas Ahbe

Im Jahr 1967 widmete sich die DDR-Propaganda mit großem Aufwand dem „50. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution und ihrer weltweiten Ausstrahlung“. Danach machte ein Witz die Runde: „Die ‚Prawda‘ wollte zum Jubiläum der ‚Großen Sozialistischen Oktoberrevolution‘ auch Beteiligte zu Wort kommen lassen. Sie fand in der sauberen Luft des Kaukasus einen Veteranen und befragte ihn. Der alte Mann strich sich über seinen Bart, blickte über die Gipfel in der Ferne und schilderte, wie er und seine Genossen einst Lenins Worte vernommen, den Schuss der ‚Aurora‘ gehört und schließlich das Winterpalais gestürmt hatten. Er tat das so detailliert, dass die jungen Journalisten ganz begeistert waren, wie ihnen die große Geschichte nun gewissermaßen leibhaftig gegenüberstand. Nachdem sie ihre wertvollen Notizen verstaut hatten und der Alte sie verabschiedete, fiel ihm noch etwas ein: ‚Sagt mal Genossen, was ich schon immer mal wissen wollte: Was ist eigentlich aus der Schießerei 1917 in Petersburg geworden?‘.“ Was der DDR-Volksmund in diesem Witz aufs Korn nahm, war das Auseinanderklaffen zwischen der gültigen Geschichts- und Gesellschaftsdeutung und ihren Fahnenwörtern einerseits und dem Alltag einer politisch vielfach anders eingestellten Bevölkerung samt dem entsprechenden kommunikativen Gedächtnis andererseits.

Fahnenwörter nach der Friedlichen Revolution

Eine solche Diskrepanz gibt es nicht nur in Diktaturen ohne Medienfreiheit und freie Meinungsäußerung. Auch in liberalen Demokratien stehen sich Begriffe gegenüber, denen bestimmte Geschichtsdeutungen und Wertvorstellungen eingeschrieben sind. Freilich können hier die Diskursakteur*innen gefahrlos, wenn auch mit ungleichen Ressourcen, versuchen, ihre Fahnenwörter in der öffentlichen Arena zu etablieren. Die einen stehen für die hegemoniale, eher affirmative Interpretation der Gesellschaft und ihrer Geschichte und werden von bestimmten Teilen der Bevölkerung übernommen. Den konkurrierenden Fahnenworten hängen wiederum andere Bevölkerungsgruppen an, die in eben diesen Leitbegriffen ihre eigene Erfahrungswelt und Wertvorstellungen widergespiegelt sehen. Somit schwenken auch in demokratischen Gesellschaften nicht alle die gleichen Fahnenworte.

Was hier der Anschaulichkeit wegen als Fahnenwort bezeichnet wird, definiert die Sprachwissenschaft auch als Topos „Die Geltung von Topoi“, so fasst der Soziologe Hubert Knoblauch (2001: 217) zusammen, „bezieht sich also auf einen Personenkreis: auf das Für-wahr-Gehaltene, das Für-wirklich-Gehaltene und damit auf den Wissensbestand, den eine soziale Gruppierung teilt“. Mit ihren impliziten Assoziationen und ihrem Bedeutungsüberschuss erzählen sie (eine) Geschichte, sie zeigen Konflikte an und wie die Rollen von Gut und Böse verteilt sind; sie argumentieren, dramatisieren, moralisieren und mobilisieren.

Friedliche Revolution und Wende

Das gilt auch für eine Vielzahl an Topoi, welche die Friedliche Revolution selbst sowie die Zeit danach bezeichnen: „Wende“, „Mauerfall“, „Wiedervereinigung“, „Anschluss“ und „Kolonialisierung der DDR“. Diese Topoi tauchen in unterschiedlichen Bereichen auf: Derjenige der Friedlichen Revolution wird hauptsächlich im Diskurs der Politik, der politischen Bildung und der Wissenschaft verwendet – weniger in der Alltagssprache.

Die Nutzung des Synonyms Wende, im Alltag ebenso genutzt wie in politischen Reden, bedeutet keine Infragestellung des Umbruchs in seinem Charakter als Friedliche Revolution. Der Historiker Michael Richter (2007: 868) diskutiert das in all seinem Für und Wider, er kommt zu dem Fazit: „‚Wende‘ ist der Begriff der Bevölkerung für das, was sie 1989/90 selbst realisiert hat. Nach meiner Interpretation war es eine friedliche Revolution“. Hinzu kommt, dass Wende im alltäglichen Sprachgebrauch der Ostdeutschen oft auf die Zeit bis Anfang der 1990er-Jahre ausgedehnt wird. Der Begriff steht dann für die ambivalente Einheit des Freiheitsgewinns mit dem Umstellungsschock, der mit dem Beitritt in ein neues Institutionen- und Wirtschaftssystem zu bewältigen war.

Mauerfall

Der Topos vom „Mauerfall“ widerspricht den zeitgeschichtlichen Fakten, er ist jedoch unangefochten etabliert. Er wird in Alltag und Politik, von Ost- und Westdeutschen gleichermaßen genutzt. Nahezu jede Person kann noch heute erzählen, wie sie vom „Mauerfall“ erfuhr, und was sie in dem Moment dachte und empfand. In Darstellungen, bei denen es um historische Exaktheit geht, taucht „Mauerfall“ nur als Synonym auf. Hier wird nüchtern von der Öffnung der Grenzübergänge nach West-Berlin und zum Bundesgebiet gesprochen. Denn der Topos vom „Mauerfall“ blendet einige Akteure des Geschehens aus. Zum einen die neue SED-Führung, die mit dem Erlass allgemeiner Reisefreiheit ihre Macht retten wollte, sich mit der berühmten Schabowski-Pressekonferenz aber so verstolperte, dass sich noch in der gleichen Nacht die Menschen vor den Grenzkontrollpunkten sammelten. Zum anderen blendet der Topos die Entscheidungen der dortigen Offiziere aus. Alleingelassen von der zentralen Führung und angesichts der sich vor den Absperrungen stauenden Menschenmasse, entschlossen sie sich gegen ein Massaker und öffneten die Tore. Der Topos „Mauerfall“ hingegen assoziiert nur zwei Subjekte: die Mauer als freiheitsbegrenzendes Bauwerk und die heldenhaften Menschen, die diese „zu Fall brachten“. Er transportiert einen mythischen Überschuss, greift gewissermaßen auf die Mauern und Grenzzäune in dieser Welt aus, auf das Unglück, das sie erzeugen und das Glück des „Mauerfalls“.

Wiedervereinigung

Auch der Topos „Wiedervereinigung“ ist etabliert, obwohl er nicht den historischen Fakten entspricht. Er wird in der Sprache der Politik, der Medien, der Schule, der politischen Bildung und häufig in der Wissenschaft genutzt. Auch in der Alltagssprache ist er präsent, in den alten Bundesländern ungebrochen, im Osten mehrheitlich. Die Verwendung des Topos „Wiedervereinigung“ signalisiert Zustimmung und Zugehörigkeit: Zum Gang der Geschichte und zu denen, die gesiegt haben oder befreit wurden. Wer in den neuen Bundesländern den tief eingeschliffenen Topos vermeidet, gibt damit ein kritisches Statement zur Herstellung der deutschen Einheit oder deren langfristigen Resultaten ab. Stattdessen nutzen die Sprecher*innen dann „Wende“, „Beitritt“ oder – stark diskreditierend – „Anschluss“.

Faktisch falsch ist der Topos der Wiedervereinigung, weil die BRD und die DDR nie eine Einheit waren. Sie wurden als politische und wirtschaftliche Antipoden gegründet und bestanden über vierzig Jahre lang als solche. Deswegen konnten sie nicht wiedervereinigt werden; auch die allermeisten Menschen in Ost und West wurden mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nicht wiedervereinigt. Vielmehr waren sie vorher über mehrere Generationen in zwei Systemen verschieden sozialisiert worden. Der Blick auf die vereinigten Territorien rechtfertigt ebenfalls nicht die Rede von der Wiedervereinigung. Das durch den Beitritt entstandene gemeinsame Terrain, so schreibt der Historiker Andreas Rödder (2009: 366), „umfasste das Gebiet der Bundesrepublik, der DDR und Berlins, nicht die 1945 polnisch beziehungsweise sowjetisch okkupierten Ostgebiete – ein knappes Viertel des 1945 geteilten deutschen Territoriums. Daher ist es zutreffender von der deutschen Wiedervereinigung zu sprechen als von der Wiedervereinigung Deutschlands“. Und schließlich bleibt noch der Blick auf die juristische Ebene: Nicht nur das Grundgesetz, Artikel 23, antizipiert 1949 einen „Beitritt“ neuer Bundesländer zur Bundesrepublik, sondern auch der Einigungsvertrag von 1991 spricht in Artikel 1 von einem „Beitritt“. Folgerichtig wurde der Feiertag am 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“ benannt und nicht als „Tag der Wiedervereinigung“.

Warum ist dann trotzdem von Wiedervereinigung die Rede? Hier spielen erneut die impliziten Assoziationen, der Bedeutungsüberschuss des Topos eine Rolle. Wiedervereinigung ist das Gegenteil von Entzweiung und assoziiert eine Versöhnung, eine erfüllte Sehnsucht. Zum geflügelten Wort wurde das – so von Willy Brandt freilich nie ausgesprochene – „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“ (Rother 2000). Hier wird Vereinigung mit Heilung und Gesundung assoziiert. Wiedervereinigung ist ganz und gar positiv. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, der postnazistischen geschichtspolitischen Räson des „Nie wieder!“, vermag das „Wieder“ in Wiedervereinigung eine neue Saite anzuschlagen, nämlich die des historischen Happy Ends: Deutschland ist von den Besatzungsmächten nun „wieder“ in die Souveränität entlassen und hat zudem eine gelungene und friedliche Revolution vorzuweisen. Schließlich assoziiert das Fahnenwort Wiedervereinigung noch eine weitere Bedeutung: Das Beitrittsgebiet ist „wieder normal“, also wie der Westen, geworden, das sozialistische Experiment beendet.

Anschluss

Der Topos vom „Anschluss“ gehört schon seit Winter 1989/90 zum Diskurs um die Zukunft der DDR oder die Art der Vereinigung. So präsentierten Befürworter*innen einer gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion und eines Vereinigungsprozesses gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes immer wieder Transparente mit: „Kein Anschluss unter dieser Nummer: Artikel 23“. Später wurde der Topos ein Instrument, um den Verlauf der deutschen Vereinigung zu diskreditieren: Die 1938 gewaltsam vollzogene Angliederung Österreichs an Deutschland soll durch ihn mit dem Zustandekommen der deutschen Einheit gleichgesetzt werden. Doch 1938 war das angeschlossene Österreich lediglich Objekt von Hitlers erpresserischem Vorgehen, unabhängig davon, dass viele Österreicher*innen das 19 Jahre zuvor in Versailles auferlegte Verbot der Wiedervereinigung mit Deutschland ablehnten. Vor dem angeblichen Anschluss von 1990 war hingegen die DDR-Bevölkerung in der Subjekt-Position: Die Fluchtwelle der DDR-Bevölkerung im Sommer und Herbst 1989 sowie die Massenproteste stürzten letztlich die SED-Diktatur. Und 1990 waren es – freilich unter massiver Einmischung westdeutscher Politiker*innen in den Wahlkampf – wiederum die Ostdeutschen, die bei der Volkskammerwahl von 1990 dem Parteienbündnis „Allianz für Deutschland“ zur Macht verhalfen, welches den raschen Beitritt zur BRD im Programm hatte. Nach dem Beitritt der DDR wurden Angehörige der SED- und Staatsführung und der Dienstklasse der DDR juristisch verfolgt und aus dem beruflichen und gesellschaftlichen Leben verdrängt. Das jedoch in die Nähe zu den antijüdischen „Anschluss-Pogromen“ von 1938 oder dem sofort beginnenden Terror gegen Sozialdemokraten und Kommunisten zu setzen, ist demagogisch (Bundeszentrale für politische Bildung 2018; Prinz 2015).

Kolonialisierung der DDR

Auch der Topos „Kolonialisierung“ hat seinen Ursprung in den Demonstrationen vom Winter 1989/90. Ostdeutsche, die gegen den forcierten Vereinigungskurs von Bundeskanzler Helmut Kohl protestierten, schrieben auf ihre Transparente: „Keine Ko(h)lonialisierung der DDR!“. Der dann folgende Umbruch in den neuen Bundesländern wurde aber auch schon bald in der Wissenschaft, etwa in dem von 1991–1994 an der Freien Universität Berlin laufenden Projektseminar „Kolonialisierung der DDR?“, mit diesem Begriff diskutiert. In der daraus resultierenden Aufsatzsammlung resümieren die beiden Politikwissenschaftler Wolfgang Dümcke und Fritz Vilmar, dass die Einzelstudien über verschiedene Aspekte der ostdeutschen Transformation „grundlegende kolonialistische Strukturelemente“ offenlegten (Dümcke/Vilmar 1995: 14).

Der Topos von der Kolonialisierung der DDR blendet allerdings aus, dass die Initialzündung für den als Kolonialisierung bezeichneten Prozess von den Ostdeutschen ausging. Es waren die Friedliche Revolution, die Grenzöffnung und das Wahlergebnis der ostdeutschen Volkskammerwahl, die zum Beitritt der DDR führten und eben nicht das Auftauchen von Karavellen und Kanonenbooten der Kolonisatoren vor den friedlichen Gestaden der DDR. Somit ist die Rede von der „Kolonialisierung der DDR“ faktisch falsch. Da dieser Topos aber die Unterwerfung und Aneignung Ostdeutschlands durch westdeutsche Akteur*innen in den historischen Kontext der Kolonialpolitik vom 16. bis zum 20. Jahrhundert stellt, leiht er sich enorme moralische Schlagkraft. Jede und jeder denkt gleich an die stereotypen Bilder aus der Geschichte: Eine militärisch und technisch überlegene Macht landet an fremden Küsten und verschafft sich Zugang ins Landesinnere. Mit oder ohne Kollaboration einheimischer Eliten beutet sie die wirtschaftlichen Ressourcen aus. Bei der Erstbegegnung mit den Einheimischen machen die Kolonisator*innen diese mit begehrten, aber nur geringen Wert repräsentierenden Waren gewogen: einst Glasperlen, 1989/90 Bananen. Im kolonialisierten Land gibt es rassistisch oder nicht rassistisch grundierte Strukturen, die dazu führen, dass lediglich Vertreter*innen aus dem kolonialisierenden Land zu den Eliten im kolonialisierten Land gehören – so wie heute in Ostdeutschland (Schönherr 2022). Viele der lokalen Arbeitskräfte verschwinden in fremde Regionen. Einst mussten sie als Sklav*innen, als Hausmädchen oder Hilfsarbeiter schuften – nach 1990 zogen sie zu aussichtsreichen Ausbildungsmöglichkeiten und gut bezahlten Jobs in die alten Bundesländer (Bangel u.a. 2019). Die Zeichen vorkolonialer Kultur werden gelöscht: Die heiligen Eichen gefällt, über den heidnischen Tempeln errichtet die Kolonialmacht Kirchen und anstelle des „Palast der Republik“ eine Schloss-Replik der Hohenzollerndynastie, die Humboldt-Forum genannt wird.

Wie an dieser narrativen Kippfigur zu sehen ist, können frühere Kolonialisierungsprozesse mit der Transformation in den neuen Bundesländern verglichen werden. Die Assoziationen, die der Topos „Kolonialisierung“ impliziert, sind für jene Gruppen gut geeignet, die die Verwerfungen des Vereinigungsprozesses anprangern wollen. Weil sie zu jenen Jahrgängen oder Familien gehören, für die die Treuhand zu einem „negativen Gründungsmythos“ des vereinigten Deutschlands geworden ist (Böick 2018: 724). Weil sie zu den Opfern des flächendeckenden Zusammenbruchs und nicht zu den Menschen gehören, die vom punktuellen modernisierenden Aufbau profitierten. Weil sie die anhaltende Ost-West-Differenz bei Löhnen (Böckler Impuls 2021 und 2022), Renten und beim Vermögen spüren (Kollmorgen 2011: 214–319). Weil sie nicht mehr wie die viele der Westdeutschen daran glauben, dass sie mit Fleiß und Opferbereitschaft ein „zweites Wirtschaftswunder“ schaffen können und weil ihr Zutrauen in die Problemlösungskompetenz der repräsentativen Demokratie schwindet (Köpping 2018).

Ausblick: Postkoloniale Diskurse zum Umbruch in den neuen Bundesländern

Seit Mitte der 2010er-Jahre wird über die ostdeutsche Transformation in neuer Weise nachgedacht. Die Wissenschaft erweitert ihre Perspektiven umeinen systematischen Vergleich mit den postsozialistischen Transformationen in Osteuropa (Segert 2013; Ther 2016), und indem das Phänomen Transformation über den postsozialistischen Typus hinaus interdisziplinär ausgeleuchtet wird (Kollmorgen/Merkel/Wagener 2015). Zudem scheinen die alten Probleme in Ostdeutschland auch immer wieder neu zur Thematisierung zu drängen: die anhaltende materielle und symbolische Schlechterstellung Ostdeutschlands und der Ostdeutschen, ihre Entfremdung von der Demokratie, deren Institutionen und den demokratischen Parteien sowie die vor allem in Ostdeutschland zu beobachtende Unzufriedenheit „mit der Demokratie, wie sie in Deutschland funktioniert“ (Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland 2022: 93, 99). Seit Mitte der 2010er-Jahre sind neue Generationen von Journalist*innen in die Positionen gekommen, die neuen Bundesländer aus ostdeutscher Perspektive zu beschreiben (Ahbe 2022: 35–49). Das trifft auch auf eine neue Generation von Wissenschaftler*innen und anderer gesellschaftlicher und politischer Akteurin*innen zu (Kollmorgen 2020: 62–66). Die jungen Ostdeutschen in Medien, Wissenschaft und Gesellschaft stellen damit die Bewertungs- und Normsetzungskompetenz ,des Westens‘ gegenüber ‚dem Osten‘ – kolonialistisch gesprochen: der unterentwickelten Peripherie – in Frage. Die Historikerinnen Agnès Arp und Élisa Goudin-Steinmann stellen fest, dass die aktuelle Debatte um den ostdeutschen Beitritt vom Konzept der postcolonial studies profitiert (Arp/Goudin-Steinmann 2022: 229) Sie orientieren sich daran, wie der Soziologe Stuart Hall den Begriff „postkolonial“ diskutiert: Das „post“ markiert „nicht nur ‚nach‘ dem Kolonialismus, sondern geht ‚über ihn hinaus‘“; es thematisiert auch die anhaltenden „Nachwirkungen“ und „bedeutet mit Sicherheit nicht, das wir im Macht-Wissen-System in eine macht- und konfliktfreie Zone übergegangen sind“ (Hall 2002: 213f.). Arp und Goudin-Steinmann sehen in den postkolonialen Studien zudem eine Methode: „Ihr theoretischer Beitrag zur Forschung über die DDR und die anderen Ostblockstaaten richtet den Fokus auf das Postulat, dass der Kommunismus nicht allein mit den Analysekategorien der Bundesrepublik und der liberalen Demokratie erfasst werden kann. Stattdessen sind eigene Maßstäbe und Charakteristika heranzuziehen, um unabhängig vom Übergang zur Vereinigung, der auf den Mauerfall folgte, über ihre Geschichte und Soziologie nachzudenken“ (Arp/Goudin-Steinmann 2022: 230). Bezogen auf die Transformation in den neuen Bundesländern werden also die aus den 1990er-Jahren stammenden Konzepte der „nachholenden Modernisierung“, des „Zusammenwachsens von Ost und West“ sowie des Nexus von Demokratie und Wohlstand in Frage gestellt oder aus einer neuen Perspektive betrachtet. Für einen großen Teil der Ostdeutschen liegt der Gewinn des postkolonialen Blicks vor allem auf der moralischen Ebene. Er fokussiert auf die Erfahrung von Verlusten, ungerechter Behandlung und historischen Verantwortlichkeiten.

Freilich sind die Auswirkungen dieses postkolonialistischen Diskurses auch begrenzt. Diskurse sind keine freundlichen Diskussionen, die tausend Blumen blühen lassen, sondern Dispositive der Macht (Foucault 1978: 51). „Diskurse richten sich strategisch gegen andere Diskurse und Wissensfelder“ (Bublitz 2001: 240). So kämpfen gewissermaßen der postkoloniale Diskurs zur Transformation in den neuen Bundesländern und der Diskurs zur glücklich verlaufenden „Wiedervereinigung“ miteinander. Jene Ostdeutschen, die anhaltend durch die negativen Erfahrungen mit dem Umbruch nach 1990 geprägt sind, stellen in der deutschen Bevölkerung eine Minderheit dar, die zudem über geringen Einfluss und wenig Möglichkeiten verfügt, ihre Umbruchserfahrungen zu artikulieren. Die politischen Eliten des Landes sind immer noch zögerlich oder euphemistisch bei der Aufarbeitung der politischen Fehler der letzten 30 Jahre.Die Bevölkerung in den alten Bundesländern wiederum hat nur geringe Anreize, sich mit den ostdeutschen Transformationserfahrungen zu beschäftigen. Und vielleicht möchte sie sich auch – polemisch gesagt – ihren Stolz über den „Sieg ihres richtigen Systems“ und die Zufriedenheit mit der „Wiedervereinigung“ nicht nehmen lassen. Das migrantisch geprägte Fünftel der deutschen Bevölkerung befindet sich in ähnlicher Lage wie die Ostdeutschen (Foroutan et al. 2019), ist aber zudem noch mit rassistischer Diskriminierung konfrontiert.

Während der Autor diesen Text niederschreibt, beschäftigt sich die Medienwelt der Bundesrepublik schon seit Wochen mit dem Bestseller von Dirk Oschmann „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. Oschmann schreibt im Vorwort: „Wenn in Deutschland über ‚Westen‘ und ‚Osten‘ nicht grundlegend anders geredet wird, vor allem aber wenn die seit über 30 Jahren bestehenden systematischen Ächtungen und radikalen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Benachteiligungen des Ostens nicht aufhören, hat dieses Land keine Aussicht auf längerfristige gesellschaftliche Stabilität […] Dabei liegen die Dinge so klar auf der Hand, dass man sie nur einmal freimütig aussprechen muss. lm Grunde sage ich also nichts Neues“ (Oschmann 2023: 12). Diese Sätze wie das gesamte Buch sind typisch für den postkolonialen Diskurs zur Transformation der neuen Bundesländer. Es bleibt abzuwarten, ob dieses Buch die Widerstände gegen einen kritischen Blick auf die Transformation – oder auf die Unterwerfung – Ostdeutschlands aufzuweichen vermag, oder ob die Macht- und Mehrheitsverhältnisse das Buch ebenso in den Hintergrund treten lassen, wie etwa auch die 2007 durch Gunnar Hinck vorgelegte Inventur des ostdeutschen Transformationsprozesses.

 

Literatur

Ahbe, Thomas: Ostdeutschland und die Ostdeutschen als Erzählung. Identitätsstiftende Narrative im Widerstreit, Erfurt 2022.

Arp, Agnès/Goudin-Steinmann, Élisa: Die DDR nach der DDR. Ostdeutsche Lebenserzählungen, Gießen 2022.

Bangel, Christian/Blickle, Paul/Erdmann, Elena/Faigle, Philip/Loos, Andreas/Stahnke, Julian/ Tröger, Julius/Venohr, Sascha: Die Millionen, die gingen. Animierte Grafik, in: Die Zeit, 02.05. 2019, URL: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-05/ost-west-wanderung-abwanderung-ostdeutschland-umzug [24.05.2023].

Beauftragter der Bundesregierung für Ostdeutschland (Hrsg.): Bericht 2022. Ostdeutschland. Ein neuer Blick. Berlin 2022, S. 93 und 99, URL: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/deutsche-einheit/bericht-des-ostbeauftragten-2129962 [04.06.2023].

Böckler Impuls 2022, animierte Grafik zur Mindestlohnanhebung 2022, URL: https://www.wsi.de/de/sonderauswertung-43368-mindestlohnanhebung-43374.htm [24.05.2023].

Böckler Impuls 2021, animierte Grafik zu Bruttomonatslöhnen 2021, URL: https://www.wsi.de/de/arbeitszeiten-entlohnung-im-regionalen-vergleich-29696-bruttoloehne-im-regionalen-vergleich-29710.htm [24.05.2023].

Böick, Marcus: Die Treuhand. Idee – Praxis – Erfahrung. 1990–1994, Bonn 2018.

Bublitz, Hannelore: Differenz und Integration. Zur diskursanalytischen Rekonstruktion der Regelstrukturen sozialer Wirklichkeit, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1, Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 225–260.

Bundeszentrale für politische Bildung 2018: Vor 80 Jahren: Einmarsch der Wehrmacht in Österreich – Wie heute dort an den „Anschluss“ erinnert wird, in: Hintergrund aktuell, 9.3.2018, URL: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/265958/vor-80-jahren-einmarsch-der-wehrmacht-in-oesterreich-wie-heute-dort-an-den-anschluss-erinnert-wird/ [23.05.2023].

Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz: Was heißt hier Kolonialisierung? Eine theoretische Vorklärung, in: dies. (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995, S. 12–21.

Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978.

Foroutan, Naika/Kalter, Frank/Canan, Coşkun/Simon, Mara: Ost-Migrantische Analogien I. Konkurrenz um Anerkennung, in: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung, Berlin 2019, URL: https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Demo_FIS/publikation_pdf/FA-5014.pdf [07.05.2023].

Hall, Stuart: Wann gab es „das Postkoloniale“? Denken an der Grenze, in: Conrad, Sebastian/ Randeria, Shalini/Römhild, Regina (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2013, S. 197–223.

Hinck, Gunnar: Eliten in Ostdeutschland. Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt, Berlin 2007.

Knoblauch, Hubert: Diskurs, Kommunikation und Wissenssoziologie, in: Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hrsg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse. Bd. 1, Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 207–223.

Kollmorgen, Raj/Merkel, Wolfgang/Wagener, Hans-Jürgen (Hrsg.): Handbuch Transformationsforschung, Wiesbaden 2015.

Kollmorgen, Raj: Eine ungeahnte Renaissance? Zur jüngsten Geschichte der Transformations- und Vereinigungsforschung, in: Böick, Marcus/Goschler, Constantin/Jessen, Ralf (Hrsg.): Jahrbuch Deutsche Einheit 2020, Berlin 2020, S. 46–72.

Kollmorgen, Raj: Subalternisierung. Formen und Mechanismen der Missachtung Ostdeutscher nach der Vereinigung, in: Kollmorgen, Raj/Koch, Frank Thomas/Dienel, Hans-Liudger (Hrsg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, S. 301–359.

Köpping, Petra: „Integriert doch erst mal uns!“. Eine Streitschrift für den Osten, Berlin 2018.

Münch, Ingo von (Hrsg.): Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Stuttgart 1991.

Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung, Berlin 2023.

Prinz, Claudia: Der „Anschluss“ Österreichs 1938, in: LEMO. Lebendiges Museum online, URL: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/aussenpolitik/anschluss-oesterreich-1938.html [23.05.2023].

Richter, Michael: Die Wende. Plädoyer für eine umgangssprachliche Benutzung des Begriffs, in: Deutschland Archiv 40 (2007), H. 5, S. 861–868.

Rödder, Andreas: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009.

Rother, Bernd: Gilt das gesprochene Wort? Wann und wo sagte Willy Brandt „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“?, in: Deutschland Archiv 33 (2000), H. 1, S. 90–93.

Schönherr, Michael: Ostdeutsche Eliten: Der Weg ,nach oben‘ führt über den Westen. Aktuelle Datenerhebung mit der Universität Leipzig, MDR, 8.6.2022, URL: https://www.mdr.de/themen/dnadesostens/projekt/ostdeutsche-karriere-elite-fuehrung-unternehmen-wirtschaft-justiz-medien-posten-westen-100.html [28.05.2023].

Segert, Dieter: Transformationen in Osteuropa im 20. Jahrhundert, Wien 2013.

Ther, Philipp: Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent – Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2016.

 

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