Wolfgang Jähnichen nahm als knapp 14-Jähriger an den Protesten am 17. Juni 1953 in Dresden teil. Ab 1960 studierte er an der TU Hannover Bau- und Verkehrswesen und war anschließend unter anderem in Hamburg, Düsseldorf, West-Berlin und Leipzig in leitender Position für die jeweiligen Bahn- bzw. Verkehrsbetriebe tätig. Als Betriebsleiter für den Oberflächenverkehr der Berliner Verkehrsbetriebe koordinierte er direkt nach der Pressekonferenz vom 9. November 1989 den Busverkehr zwischen Ost- und West-Berlin sowie ins Berliner Umland. Wolfgang Jähnichen ist seit 1961 Mitglied der SPD und bis heute kommunalpolitisch aktiv.  

Lutz Rackow begleitete am 16. Juni 1953 als 21-jähriger die Bauarbeiterdemonstration in Ostberlin. Er war damals Jungredakteur der Tageszeitung Der Morgen der Liberal-Demokratischen Partei Deutschlands. Später begann er von Ostberlin aus ein Studium der Wirtschaftswissenschaften, Geschichte und Psychologie an der TU Berlin-Charlottenburg. Gleichzeitig arbeitete er weiter als Freiberufler für Medien in Ostberlin. Nach der Wiedervereinigung erschien sein autobiografisches Buch „Spurensicherung. 80 Jahre in deutschen Irrgärten“ mit 48 Geschichten von seiner Kindheit im NS-Staat bis heute.

LaG: Lieber Herr Jähnichen, lieber Herr Rackow: Sie beide haben den 17. Juni 1953 und die Proteste unmittelbar miterlebt. Welcher persönliche Eindruck ist davon am stärksten haftengeblieben?

Wolfgang Jähnichen: Das war das erste Mal, dass ich eine Massendemonstration erlebt habe, die nicht von der Regierung der DDR verordnet war. Bis dahin gab es immer diese Massendemos: Wir mussten zum 1. Mai antanzen. Und zum Tag der Republik, pflichtgemäß. Und das war das erste Mal eine ganz freie Demonstration von – in diesem Fall absolut unzufriedenen – Bürgern. 

Lutz Rackow: Stalins Tod im März 1953 verursachte bezüglich des künftigen Kurses der Hegemonialmacht Sowjetunion eine ungewisse Übergangssituation. Wie würde es im Ostblock weitergehen? Kommt es zu einer Liberalisierung der Kreml-Politik? In der DDR keimten Hoffnungen, denn die Ulbricht-Administration ließ Unsicherheit erkennen. Die Funktionäre des gesamten Bevormundungsregimes hielten sich sicherheitshalber bedeckt. Berliner Bauarbeiter zeigten Courage und organisierten spontan die Demonstration vom 16. Juni, um die Machthaber zu den angekündigten Erhöhungen der Arbeitsnormen zur Rede zu stellen.

LaG: Haben Sie sich damals als politische Menschen verstanden?

Jähnichen: Ja, in jedem Fall. Ich komme aus einer uralten sozialdemokratischen Familie. So ist meine Einstellung zum Staat durch mein Eltern- und Großelternhaus geprägt. Wir waren eine antifaschistische Familie, die aber mit den Kommunisten nichts zu tun haben wollte. Und politisch bin ich heute noch tätig. Ich bin seit 62 Jahren Sozialdemokrat. Aktiv! 

Rackow: Ja, unbedingt. In meinem Elternhaus war ich schon früh in ein entschiedenes politisches Denken gegen das NS-Regime und die SED-Diktatur einbezogen. 1944 war ich bereits aus der Schule geflogen, weil ich den deutschen „Endsieg“ bezweifelte. Und 1946 bei den Kommunisten, weil ich den roten Glaubenszwängen nicht folgen wollte. 

LaG: Haben Sie denn auch Ihre Teilnahme an den Protesten als politische Handlung verstanden?

Jähnichen: Nein, da will ich ehrlich sein, das war Sensationslust. Im RIAS hörte ich schon am 16. Juni, dass am nächsten Tag in der gesamten DDR ein Generalstreik stattfinden soll. Ich wusste gar nicht, was ein Generalstreik ist. Es war für mich etwas Aufsehenerregendes, Neues, und überall dort, wo was Interessantes war, musste ich ja mit meiner Nase rein. Und da bin ich dann nach der Schule nicht nach Hause gegangen, sondern in die Innenstadt. Da schaukelte es sich nun ein bisschen auf. Und während es anfing mit „Die Normerhöhungen müssen zurückgenommen werden!“ – das war ja nach wie vor die große Forderung –, ging das dann weiter mit: „Freie Wahlen!“, „Wir wollen die Einheit Deutschlands!“, „Rücktritt der DDR-Regierung!“ und so. Und das fing nun an, auch für die Besatzungsmacht ein bisschen kritisch zu werden. Die Volkspolizei und die Kasernierte Volkspolizei [Vorläufer der Nationalen Volksarmee, Anm. der Red.] hatten sich anfangs zurückgehalten. Also die haben nicht geschossen. Und dann dauerte es vielleicht eine Stunde, dann hörten wir aus der Neustadt, aus dem nördlichen Teil Dresdens, so ein Gerassel. Ich hatte das schon einmal gehört. Nämlich acht Jahre zuvor, als die Russen einmarschierten. Und da kamen in der Tat russische Panzer. Aber – und da lege ich Wert drauf – die fuhren Schrittgeschwindigkeit und schossen nicht in die Menge. Sie schossen – aber: drüber hinweg. Dennoch formierte sich ein Zug, der ging vorbei am Polizeipräsidium, an der Schießgasse. Hier haben die Arbeiter gefordert, dass die politischen Gefangenen, die da drin waren, befreit werden sollen. Aber da waren die Kommunisten cleverer als die Demonstranten. Dort war nicht nur die Volkspolizei, sondern es waren auch die Russen da. Nun muss man fairerweise dazu sagen, dass der faschistische Überfall Deutschlands auf die damalige Sowjetunion gerade acht Jahre zurücklag. Ich glaube schon, dass die russischen Politoffiziere ihren Soldaten gesagt haben, das ist ein faschistischer Putsch. War es nicht. Aber, dass die das geglaubt haben, nach gerade acht Jahren, nach dem reinen Vernichtungskrieg des Hitlerfaschismus gegen die Sowjetunion. Wir zogen dann weiter über den Platz der Einheit, wo Panzer standen, die aber nicht geschossen hatten, zum   Neustädter Bahnhof. Dort wurden die demonstrierenden Arbeiter – wirklich wie Mehlsäcke – von der Volkspolizei über die Planken von Lkws geschmissen und ins Gefängnis gebracht. Jedenfalls habe ich da Schiss bekommen und bin nach Hause gelaufen.

LaG: Herr Rackow, Sie haben die Bauarbeiterproteste in Berlin schon am 16. Juni begleitet. Wie haben Sie diese damals wahrgenommen?

Rackow: Der Protestzug am 16. Juni verlief betont friedlich. Die Protestierenden skandierten: „Berliner reiht euch ein, wir wollen keine Arbeitssklaven sein!“ Das geschah aber nicht. Auch einen Streikaufruf habe ich an diesem Tag nicht gehört. Auch keine Gewaltakte gegen Plakate oder Symbole. Sowieso nicht gegen Personen. Nur vor dem Brecht-Theater lag ein umgestürzter Lautsprecherwagen mit eingeschlagener Frontscheibe. Brecht war offensichtlich nicht vor der Tür gewesen. Er wäre auf der Probebühne unabkömmlich gewesen, wurde später kolportiert. Dass es am nächsten Tag landesweite Revolten geben würde – von einem Volksaufstand oder gar einer Revolution zu sprechen, halte ich bis heute für unzutreffend – dafür gab es am 16. Juni in meinem Gesichtskreis noch keine Anzeichen. Die Demonstranten gingen pünktlich zum Arbeitsschluss gegen 17:30 Uhr nach Hause. Sie trennten sich voneinander am Alexanderplatz mit der Durchsage, dort am nächsten Morgen wieder zusammenzukommen. Ein Bewusstsein dafür, dass es am 17. Juni eine Massenrevolte in der gesamten DDR geben würde, war am Ende des Auftakts für mich noch nicht zu spüren.

Mann schlägt mit Stange auf Panzer ein. © Foto: 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundespresseamt der Bundesregierung/Perlia-Archiv/Bild Nr. 203037

LaG: Wie haben Sie das Agieren von staatlicher Seite, vonseiten der DDR und auch der Sowjetunion, wahrgenommen?  

Rackow: Die Polizei hat am 16. Juni nur auf Motorrädern den Verkehr geregelt. Die gesamte „Arbeiter- und Bauernmacht“ blieb bis zum nächsten Morgen abgetaucht. Vom sowjetischen Militär war auch noch nichts zu sehen. Gegen die Besatzungsmacht wurde offensichtlich nicht demonstriert. Erst am nächsten Tag – über Nacht waren wohl Befehle aus Moskau in Berlin eingetroffen – fuhren dann Panzer der Besatzungsarmee in Ostberlin und allen Städten, wo die Bevölkerung gegen das DDR-Regime mit zivilem Ungehorsam aktiv geworden war, mit Kettengetöse durch die Innenstädte. Offensichtlich keineswegs um protestierende Menschenansammlungen „niederzuwalzen“, sondern um sie massiv einzuschüchtern. Sie wurden vielerorts mit Steinen beworfen, am Potsdamer Platz in Berlin vorwiegend über die markierte Sektorengrenze hinweg.

Menschenansammlung (mit Fahrrädern) auf dem Potsdamer Platz. © Foto: 70 Jahre DDR-Volksaufstand/Bundespresseamt der Bundesregierung/Perlia-Archiv/Bild Nr. 12079

Offenbar hatten die sowjetischen Soldaten – wie später erkenntlich wurde – den Befehl nur im Falle der Selbstverteidigung auf Demonstranten zu schießen. Die DDR-Polizei, einschließlich der Stasi, blieb vorwiegend in ihren Behausungen, wich eher aus, als sich mit Waffen zu wehren, wenn sie angegriffen wurde. Tatsächlich gelang es Demonstranten auch in Dienststellen einzudringen, hier und da politische Häftlinge zu befreien. Wo Stasi-Mitarbeiter, Agenten und Spitzel erkannt wurden, kam es auch zu Angriffen auf diese.

LaG: Wie haben Sie die Rolle der Medien bei den Protesten wahrgenommen? 

Jähnichen: Wir haben unsere Informationen über den RIAS bekommen. RIAS war die gebräuchliche Abkürzung für „Rundfunk im amerikanischen Sektor von Berlin“. Und alles, was gesendet wurde, haben die Amis zu verantworten gehabt. Da sind dann am 16. die Arbeiter gekommen und wollten, dass der RIAS ankündigt, am nächsten Tag ist Generalstreik. Da haben die Amis gesagt: „Kommt nicht in Frage! Das sagen wir nicht, aber, wenn Ihr es sagt, dann haben wir nichts dagegen.“ So dass wir also in Dresden gehört haben: Am 17. Juni ist Generalstreik.

Rackow: Die westdeutschen Rundfunksender, vor allem der RIAS, hatten schon am 16. Juni darüber berichtet, was in Ostberlin geschah. Indessen wurden keinerlei Aufrufe oder Empfehlungen verbreitet. Was mir alsbald auch Egon Bahr bestätigte, der damals RIAS-Chefredakteur war und entsprechende kategorische Anweisungen von seinem US-Vorgesetzten erhielt. In meiner Zeitungsredaktion herrschte „konzentrierte Ratlosigkeit“. Die Chefredaktion hockte stundenlang hinter gepolsterten Doppeltüren beisammen. Eine Redaktionskonferenz hatte es nicht gegeben. Der Fernschreiber, der sonst ununterbrochen Nachrichten des staatlichen Nachrichtendienstes ADN [Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst, Anm. der Red.] auf sein endloses Papierband hämmerte, pausierte. Aus dem Amt für Information gab es keine Anweisungen zur politischen Tageslinie. 

LaG: Wie wurde der 17. Juni in der Folgezeit thematisiert – in Ihrer Familie, in der Bevölkerung und in den Medien?

Jähnichen: Meine Eltern sahen sich in ihrer Weltanschauung bestätigt. Aber nicht nur meine Eltern. Die Ereignisse waren nicht wegzudiskutieren. In den Folgejahren wurden die Ereignisse des 17. Juni 1953 seitens der DDR-Machthaber totgeschwiegen. Und wenn es doch zur Sprache kam, war es ein faschistischer Putsch. Im Westen war der 17. Juni ab 1954 der Tag der Deutschen Einheit, ein Gedenktag. Im Osten war es ein Tag wie jeder andere.

Rackow: Kaum waren Sowjets und die SED-DDR wieder Herr der neuen Zwangslage, begann erwartungsgemäß eine parteitypische umfassende Lügenkampagne. Alles sei vom Westen organisiert, angestiftet und ferngesteuert worden. Sofort wurden auch Sprecher aus den Formationen der Revoltierenden als angebliche Aufwiegler in Ostdeutschland ermittelt und in der Folge im Verbund mit der sowjetischen Militärverwaltung hart bestraft. Neostalinismus statt innerer Entspannung!

LaG: Her Jähnichen, Sie haben ja seit 1957 in Westdeutschland gelebt. Wie wurde dort über den 17. Juni gesprochen?

Jähnichen: Wir früheren, ehemaligen Ossis waren im Westen ein Club für sich. Wir hatten nicht viel Geld. Und während die anderen an dem Tag Reisen unternahmen, war das für uns finanziell nicht drin. Für unsere westdeutschen Kommilitonen – und das sage ich schon etwas in Kritikform – war es ein freier Tag, an dem man zum Baden fuhr oder mit der Freundin etwas unternahm. Das war es für mich nicht. Ich habe dann schon immer daran gedacht, wie ich am 17. Juni mitgelaufen bin. Und ich habe immer gehofft. Aber je länger die Einheit nicht kam, umso mehr ging die Hoffnung zurück, dass es mal wieder eine Einheit gäbe. Dann kam der 9. November 1989. Und das war der schönste Tag in meinem Leben.

LaG: Welche Bedeutung hat der 17. Juni für Sie persönlich?

Jähnichen: Für mich hat das Datum eine sehr große Bedeutung. Aber es ist durch den 3. Oktober abgelöst worden. Es ist jetzt ein historischer Tag für mich. Genauso wie der 8. Mai 1945 ein historisches Datum ist.  

Rackow: Das Datum ist ein Lehrstück für ein vergebliches Aufbegehren gegen die diktatorische Macht eines nicht-legitimierten Systems.

LaG: Unser Magazin heißt „Lernen aus der Geschichte“. Können wir aus dem 17. Juni 1953 etwas lernen? 

Jähnichen: Ja, einiges. Die Gründe für das Scheitern des 17. Juni beispielsweise. Erstens: Er war nicht zentral organisiert. Er war spontan. Die Forderungen der Arbeitnehmer waren nicht einheitlich formuliert. Es war nichts koordiniert. Dann: Es war die vergebliche Hoffnung auf Hilfe durch den Westen, die dadurch – gerade in Berlin – genährt worden ist, dass die Amis mit der Luftbrücke ihr Westberlin nicht hatten fallenlassen. Aber man hat sich da etwas verspekuliert.  Denn: Der Westen hat – wie drei Jahre später in Budapest und wie 1961 beim Bau der Mauer – zwar verbal unterstützt, aber das war‘s dann auch. Und genauso war es mit dem 17. Juni. Der Westen hat gesagt: Es wird an der Nachkriegsordnung nur dann etwas geändert, wenn unsere früheren Verbündeten, die jetzt unsere Feinde sind, damit einverstanden sind. Und das galt umgekehrt auch für die Russen. Ich lag mit meinen Vorstellungen über Putin, als er am 24. Februar 2022 Putin die Ukraine überfallen hat, völlig daneben. Denn die Russen haben im schlimmsten Kalten Krieg alle getroffenen wirtschaftlichen Vereinbarungen ordentlich erfüllt, haben korrekt geliefert. Sie wollten ihr Herrschaftsgebiet gesichert haben. Das war für mich unvorstellbar, was der Putin sich da geleistet hat. Es hat mein Geschichtsbild total verändert, dass die Russen nun ihren Herrschaftsbereich erweitern wollen. Das ist eine Sache, die mein Weltbild sehr erschüttert hat.

Rackow: Dass keine freiheitliche Volksbewegung in einer skrupellos agierenden Diktatur eine Chance hat ohne engagierte Unterstützung von außen zu obsiegen.

LaG: Sie berichten immer wieder mit großem Engagement als Zeitzeuge von Ihren Erlebnissen. Was motiviert Sie dazu? 

Jähnichen: Ich möchte der nachfolgenden Generation meine Erlebnisse rüberbringen. Aber bitte nicht so, dass ich mich hinstelle und doziere wie der Herr Oberstudienrat. Ich mache das nicht aus der Sicht eines 80-Jährigen, der alles besser weiß, sondern aus der Sicht eines 13-Jährigen. Ich möchte so erzählen, wie ich damals gedacht habe. Und dann sage ich: „Stellt mir Fragen!“  

Rackow: Das Bewusstsein der Verpflichtung als Zeitzeuge mit authentischen Erlebnissen zu einem historisch bedeutsamen Ereignis in der Nachkriegsgeschichte unseres Landes dabei mitzuwirken, dass die Kenntnisse von bedeutsamen Tatsachen ohne Irrtümer und Verfälschungen übermittelt und bewahrt werden. Deshalb habe ich auch mein 600-Seiten-Buch „Spurensicherung“ geschrieben.

LaG: Vielen Dank für das Gespräch! 

 

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