Thomas Flemming, Dr. phil., ist Historiker und Publizist. Von ihm erschienen zahlreiche Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte, insbesondere zum Kalten Krieg und der Geschichte Berlins. Er hat außerdem an historischen Ausstellungen, u.a. zum Ersten Weltkrieg und zur November-Revolution 1918/19, mitgearbeitet.

von Thomas Flemming

Die Erinnerung an den 17. Juni 1953 wies lange Zeit insofern eine Lücke auf, als es an einer angemessenen Einordnung insbesondere in die Oppositions- und Widerstandsgeschichte innerhalb des sowjetischen Herrschaftsbereichs fehlte. Denn sowenig der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 der letzte Versuch blieb, ein kommunistisches Regime abzuschütteln, – es folgten Aufstände bzw. Reformversuche 1956 in Polen und Ungarn, 1968 in der ČSSR, 1976 und 1980 in Polen – sowenig war er der erste. Auch der Zusammenhang der Ereignisse vom 17. Juni mit den politischen Machtkämpfen in Moskau und Ost-Berlin nach Stalins Tod fanden in der Forschung und der Erinnerungskultur erst vergleichsweise spät stärkere Beachtung.

Pilsener Aufstand, 1. Juni 1953

Ein erster Aufstand gegen ein kommunistisches Regime ereignete sich bereits Anfang Juni 1953 in der Tschechoslowakei, zwei Wochen vor dem Volksaufstand in der DDR. Auslöser war auch hier eine staatliche Maßnahme, die eine Verschlechterung der Lebensverhältnisse zur Folge hatte. Am 30. Mai 1953 verkündete die Prager Regierung völlig überraschend eine Währungsreform, durch die ein drohender Staatsbankrott abgewendet werden sollte. Für die Bevölkerung bedeutete diese Maßnahme jedoch einen gravierenden Einkommensverlust, da Löhne und Ersparnisse aufgrund ungünstiger Umtauschkurse (1:5 bzw. 1:50) dramatisch schrumpften. Am 1. Juni kam es deshalb in zahlreichen Städten zu spontanen Streiks und Demonstrationen gegen das Regime. Zentrum der Unruhen war die Industriestadt Pilsen. Dort besetzten aufgebrachte Demonstrierende das Rathaus und das Gebäude des staatlichen Rundfunks. Fahnen und Symbole der kommunistischen Herrschaft wurden heruntergerissen. Einige Demonstranten versuchten, politische Gefangene zu befreien (vgl. Slouf 2022).

Schon bei dieser Revolte in der kommunistischen Tschechoslowakei zeigte sich das Ablaufmuster des kurz darauf ausbrechenden Volksaufstands in der DDR: Nachdem die Unruhen sich an sozialen Verschlechterungen entzündet hatten – an einer Währungsreform in der ČSSR, an erhöhten Arbeitsnormen in der DDR – erhoben die Demonstranten rasch politische Forderungen bis hin zum Sturz des Regimes und freien Wahlen. Noch am Abend des 1. Juni wurden die Unruhen in Pilsen und anderen tschechischen Städten durch massiven Polizeieinsatz niedergeschlagen. Landesweit kamen über 1.000 Demonstrierende in Haft, 650 allein in Pilsen. Mehrere Hundert Personen wurden vor Gericht gestellt, einige Dutzend als angebliche Rädelsführer zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt (vgl. Pernes 1999). Die staatlich kontrollierte Presse der ČSSR unterdrückte weitgehend die Berichterstattung über die Unruhen in Pilsen und anderswo. Es bleibt darum unklar, welche Informationen über die Arbeiterrevolte in die DDR gelangten und ob sie dort möglicherweise als eine Art Inspirationsquelle und Ansporn für die Demonstrierenden vom 17. Juni 1953 dienten.

Politische Machtkämpfe

Zum besseren Verständnis des Ablaufs, der Hintergründe und der politischen Folgen des 17. Juni gilt es zudem, den Volksaufstand mit den Machtkämpfen innerhalb des „Ostblocks“ in Beziehung zu setzen, die unmittelbar nach dem Tod des sowjetischen Diktators Josef Stalin am 5. März 1953 vor allem in Moskau und Ost-Berlin ausbrachen. In der Sowjetunion hatte sich zunächst eine Führungsriege aus dem gefürchteten Innenminister Lawrentij Berija, Außenminister Wjatscheslaw Molotov und Georgij Malenkow durchgesetzt. Ihnen stand eine Gruppe um Nikita Chruschtschow und Nikolai Bulganin gegenüber. Es war ein erbitterter Kampf, in dem Chruschtschow schließlich Ende Juni 1953 die Oberhand gewann (Dieckmann 2003: 88).

In den Wochen zuvor hatten sich die neuen Machthaber in Moskau ein vergleichsweise ungeschminktes Bild von der Lage im sowjetischen Herrschaftsbereich verschafft und dabei vor allem von den Zuständen in der DDR einen verheerenden Eindruck gewonnen. Dort hatte SED-Chef Walter Ulbricht beim „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ offensichtlich Schiffbruch erlitten. In den Augen der Sowjetführung drohte in der DDR, direkt an der Frontlinie des Kalten Krieges zwischen Ost und West, der ökonomische und politische Zusammenbruch. Nur Ulbricht und Genossen schienen das noch nicht erkannt zu haben. Und so beorderte die Kreml-Führung die DDR-Machthaber Ulbricht und Grotewohl Anfang Juni 1953 nach Moskau, um ihnen wegen ihrer ideologisch verbohrten Politik gehörig den Marsch zu blasen. Zurück in der DDR begann Ulbricht umgehend mit der Umsetzung des von Moskau verordneten „Neuen Kurses“. Am 11. Juni gab die SED-Parteizeitung Neues Deutschland die 180-Grad-Wendung bekannt. Eile war geboten, ansonsten – so die unmissverständliche Warnung des sowjetischen Statthalters in der DDR an die Adresse Ulbrichts – „werden Sie in 14 Tagen vielleicht schon keinen Staat mehr haben“.

Für große Teile der DDR-Bevölkerung brachte der „Neue Kurs“ spürbare Erleichterungen. Die Drangsalierung von privaten Unternehmern und Geschäftsleuten wurde eingestellt, Bauern nicht mehr zum Eintritt in eine Produktionsgenossenschaft genötigt. In der Wirtschaftspolitik sollte die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Konsumgütern Vorrang haben und nicht wie bisher der Ausbau der Schwerindustrie, der zu einer deutlichen Verschlechterung des Lebensstandards in der DDR geführt hatte. Die verschärften Normen jedoch, die die SED-Führung kurz zuvor zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität verordnet hatten, blieben bestehen. Ausgerechnet die Arbeiter:innen also sollten vom „Neuen Kurs“ nicht profitieren. Ihre Empörung wurde denn auch zum Auslöser des Aufstands vom 17. Juni (Kowalczuk 2013: 20).

Ulbricht vor dem Sturz

Nicht nur in Moskau, auch in Ost-Berlin entbrannte im Frühjahr 1953 ein Kampf um die Macht, in dem die Gegner von SED-Chef Ulbricht, angeführt von Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser, zunächst die Oberhand gewannen. Entscheidend war, dass Ulbricht die Rückendeckung aus Moskau verloren hatte. Denn auch der Kreml hatte erkannt, dass der bisherige SED-Kurs in der DDR gescheitert war, womit auch die dogmatische und rücksichtslose Politik von Ulbricht zur Disposition stand. Politische und wirtschaftliche Reformen in der DDR schienen in greifbare Nähe zu rücken. Doch nach der Niederschlagung des Volksaufstands vom 17. Juni wollte die sowjetische Führung – gerade selbst in einen erbitterten Machtkampf verwickelt – politische Reformen in der DDR nicht mehr riskieren. Politische Stabilität um jeden Preis war wieder das oberste Gebot. Und so blieb SED-Chef Ulbricht, den Moskau vier Wochen zuvor bereits fallengelassen hatte, wegen seiner erwiesenen Fähigkeit, mit harter Hand zu regieren, auf Geheiß Moskaus doch an der Macht (Loth 2003: 46).

Es gehört somit zur Tragik des 17. Juni 1953, dass der niedergeschlagene Volksaufstand mit dazu beitrug, dass das Gegenteil dessen eintrat, wofür die Menschen in der DDR auf die Straße gegangen waren. Ulbricht blieb an der Macht und baute die diktatorische SED-Herrschaft weiter aus, eine Lockerung des Systems, freie Wahlen gar und die erhoffte Wiedervereinigung rückten in weite Ferne.

Wenngleich der Aufstandsversuch keines seiner Ziele erreichte, so setzten die Demonstrierenden am 17. Juni 1953 doch ein beeindruckendes Zeichen für den Freiheitswillen der Menschen in der DDR. Es konnte öffentlich jahrzehntelang nur im Westen gewürdigt werden, aber ist Teil der – nicht übermäßig ausgeprägten – Freiheitstradition der Deutschen. Damit ordnet sich der 17. Juni 1953 ein in eine europäische Revolutions- und Aufstandsgeschichte, die den Werten von Freiheit, Humanität und Menschenwürde verpflichtet ist.

 

Literatur

Slouf, Jakub: The Pilsen Revolt of 1953, Lanham 2022.

Pernes, Jiri: Die politische und wirtschaftliche Krise in der Tschechoslowakei 1953 und Versuche ihrer Überwindung, in: Kleßmann, Christoph/Stöver, Bernd (Hrsg.): 1953 – Krisenjahr des Kalten Krieges in Europa, Köln 1999, S. 98–103.

Dieckmann, Friedrich: Olymp im Nebel. Die Verschwörung gegen Berija und der 17. Juni 1953, in: Lettre International, Herbst 2003, S. 86–93.

Kowalczuk, Ilko-Sascha: 17. Juni 1953. Geschichte eines Aufstands, München 2013.

Loth, Wilfried: Der 17. Juni 1953 im internationalen Kontext, in: Greschat, Martin/Kaiser, Jochen-Christoph (Hrsg.): Die Kirchen im Umfeld des 17. Juni 1953, Stuttgart 2003, S. 15–48.

 

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