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Unterschiedliche Erwartungen, gemeinsames Erinnern, emotionales Gedenken

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Martina Möllenkamp ist Dipl. Sozialpädagogin und Jugendpflegerin der Stadt Georgsmarienhütte.

Von Martina Möllenkamp

„Erinnern und Gedenken ist ein zentrales Thema im Jugendaustausch zwischen Georgsmarienhütte und Ramat Hasharon, den ich seit Jahren als städtische Jugendpflegerin begleite. Ein deutsch-israelisches Begegnungsprogramm sieht immer neben dem gemeinsamen Erleben und Spaß in der Gruppe die Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit vor. Verschiedene Programmpunkte in Israel und in Deutschland bringen die Geschichte näher. Dabei ist es wichtig, geeignete Methoden zu finden, damit sich Jugendliche der Thematik öffnen und sich einbringen. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen  sind zwar grundsätzlich sehr interessiert, werden aber durch den Schulunterricht nach eigener Wahrnehmung mit dem Thema ständig konfrontiert. Anfängliche Aussagen wie „Nicht schon wieder“ oder „Es reicht allmählich“ in deutschen Jugendgruppen  - weniger in israelischen - sind oftmals zu hören. An eine freiwillige außerschulische Maßnahme haben deutsche Jugendliche oft andere Erwartungen. 

In Georgsmarienhütte haben wir bei dem Besuch des ehemaligen Arbeitserziehungslagers Augustaschacht ein Projekt mit der Jugendgruppe durchgeführt. Die Gedenkstätte und die zu dieser Zeit dort präsentierte Kunstausstellung „Memory Lanes“ haben die Jugendlichen inspiriert, sich mit ihrem Lebensweg und ihrem Land auseinanderzusetzen. Dazu haben sich die jeweiligen Gastgeschwister zusammengesetzt und eine Bildcollage gestaltet. Diese künstlerische Gestaltung als eine gemeinsame Aktivität stand am Anfang der Begegnung und förderte neben dem ersten Kennenlernen die Auseinandersetzung mit der Geschichte – nicht abstrakt wie in der Schule, sondern greifbarer aufgrund der Schilderung von persönlichen Familiengeschichten. Entstanden ist eine Bildcollage, die vorwiegend Gemeinsamkeiten der deutsch-israelischen Beziehung und Freundschaft hervorhebt. 

Es folgt im Programm jeder Jugendbegegnung in Deutschland der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers. Unser Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen wird zeitlich so gewählt, dass er in die Mitte des Aufenthaltes fällt. Die Gräueltaten des NS-Regimes sollen nicht der erste und nicht der letzte Eindruck sein, den die jungen Israelis von Deutschland erhalten. Außerdem sollten sich die Jugendlichen bereits ein wenig besser kennen, bevor sie diese sehr persönliche Erfahrung miteinander teilen. Der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers als tatsächlichen Ort des Geschehens hebt sich in seiner Emotionalität deutlich von dem Besuch anderer Gedenkorte wie zum Beispiel Yad Vashem in Jerusalem ab.

Nehmen deutsche Jugendliche diesen Tag zunächst als einen von vielen im Programm wahr, fahren israelische Jugendliche schon im Vorfeld mit großer Anspannung zur Gedenkstätte. Der Besuch eines solchen Ortes ist für Israelis sehr emotional und ein tief greifendes Erlebnis. Gleichzeitig macht es sie stolz, Israeli und Israelin zu sein, sie tragen stolz die israelische Flagge, ihr Volk hat überlebt. Nicht selten finden sich in den israelischen Familien Opfer oder Überlebende des Holocausts – manchmal steht die Familiengeschichte auch in unmittelbarer Verbindung zu Bergen-Belsen. Dies lässt erahnen, welchen schweren Gang die Jungen und Mädchen aus Israel hier antreten. 

„Ich habe es mir nicht so schlimm vorgestellt“

 Viele deutsche Jugendliche besuchen - oft zum ersten Mal - ohne konkrete Vorstellungen und mit sehr unterschiedlichem Wissen über die NS-Geschichte eine Gedenkstätte. Während des Besuchs kann ich dann schnell eine Veränderung beobachten: der Ort an sich, die Führung, die Ausstellung und ein Film verdeutlichen den Jugendlichen das wahre Ausmaß der Nazi-Verbrechen. Oft darüber gelesen in Geschichtsbüchern, wird hier vor Ort die Geschichte anschaulicher, gleichzeitig aber auch unfassbar. Ich höre Aussagen wie „Ich habe darüber gehört, es mir aber nicht so schlimm vorgestellt.“ Die deutschen Jugendlichen sind schockiert und tief bewegt. Sie beobachten die emotionale Reaktion ihrer israelischen Gastgeschwister und sind unsicher. Wie verhalte ich mich richtig? Gehe ich auf Distanz, um niemandem zu nahe zu treten? Was erwartet meine Gastschwester oder mein Gastbruder von mir? Sollte ich für sie oder für ihn da sein? Braucht sie oder braucht er meine Unterstützung? Dieses ohnmächtige Gefühl der deutschen Jugendlichen konnten wir in den letzten Jahren ein wenig ausräumen, indem wir die abschließende Gedenkfeier vor Ort anders gestaltet haben. 

Vorher waren die deutschen Jugendlichen bei dieser Gedenkfeier nur anwesend, gestaltet wurde sie von den Israelis. Schnell entstanden dadurch zwei Gruppen - Opfer und Täter. Heute leisten sowohl israelische wie deutsche Jugendliche ihren Beitrag bei der Gedenkfeier. Die gemeinsam gestaltete Zeremonie lässt eine Gruppe entstehen, die zusammen der Opfer der Shoah gedenkt. Dabei wird zusammen geweint und gegenseitig Trost gespendet. Sie kommen ins Gespräch, erzählen ihre persönliche Geschichte oder schweigen auch einfach nur zusammen. Die Intensität eines solchen Austausches ist zwar immer von den Einzelpersonen und den gewachsenen Beziehungen der Jugendlichen untereinander abhängig, die gemeinsam gestaltete Gedenkfeier trägt aber wesentlich zum Erfolg des Besuchs einer Gedenkstätte und seiner Nachhaltigkeit bei. 

Eine abendliche Abschlussrunde bringt nochmal die Ängste der Israelis, mit Deutschen eine Gedenkstätte aufzusuchen, zum Ausdruck. Sie zeigen ihre Verwunderung über die Reaktion der Deutschen, die sich ohne eigenes Verschulden für das grausame Verhalten ihrer Landsleute schämen und tröstend zur Seite standen. Das hatten sie so nicht erwartet. Beide Seiten sind betroffen, fühlen sich dadurch verbunden und als junge Generation in der Verantwortung für die Zukunft. 

Freundschaften fürs Leben 

Eine deutsch-israelische Jugendgruppe wächst nach dem Besuch einer Gedenkstätte enger zusammen. Unterscheiden sich deutsche und israelische Jugendliche vor dem Besuch einer Gedenkstätte noch deutlich durch ihre Erwartungshaltung, gehen sie am Ende des Besuchs und der Jugendbegegnung generell gestärkt und als Freunde daraus hervor. 

In den letzten Jahren kann ich zunehmend beobachten, wie sich der Stellenwert des Themas der Shoah während des Jugendaustauschs verändert hat. Vor Jahren noch ein zentrales und viel diskutiertes Thema ist die gemeinsame Vergangenheit unserer beiden Völker heute nur noch ein peripheres Anliegen. Andere jugendrelevante Themen herrschen vor. Je weniger Eltern und Großeltern erzählen können, desto weniger beschäftigen sich die Jugendlichen mit ihrer Geschichte. Der Jugendaustausch zwischen Deutschland und Israel hat viel dazu beigetragen, dass sich die Beziehungen beider Länder normalisiert haben. Er ist aber heute umso mehr gefordert um sicherzustellen, dass junge Menschen diesen Teil unserer Geschichte nicht vergessen und weitertragen. Es muss gelingen, neben aller begrüßenswerten Normalisierung in den Beziehungen, dem Erinnern und Gedenken in deutsch-israelischen Begegnungsprogrammen weiterhin einen wichtigen Stellenwert einzuräumen. Meine gemachten Erfahrungen zeigen, welche wertvolle und  bereichernde Erfahrung dieser Programmpunkt für die Jugendlichen darstellt. 

Der Erinnerung einen Raum geben, das ist auch ein Anliegen der Stadt Georgsmarienhütte. Als Partnerstadt von Ramat Hasharon hat sich die Stadt zur Aufgabe gemacht hat, an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern und die junge Generation zur Wachsamkeit und Verantwortung zu erziehen. Bereits seit 1975 nehmen Mädchen und Jungen aus der Stadt am Jugendaustausch mit Israel teil, heute fahren die Kinder der ehemaligen Teilnehmer und Teilnehmerinnen nach Israel. Daneben fördern auch andere Institutionen und Projekte die Erinnerung: Die Gedenkstätte Augustaschacht als ehemaliges Arbeitserziehungslager, die historische Aufarbeitung und Veröffentlichung der ortseigenen NS-Zeit und die kürzlich erfolgte Verlegung von Stolpersteinen für NS-Opfer im Stadtgebiet.

Wie nachhaltig und prägend der Jugendaustausch ist, zeigt sich in der weiteren Kontaktpflege der Jugendlichen, die sich regelmäßig über soziale Netzwerke austauschen oder sich sogar privat besuchen. Die Kontakte und Freundschaften werden oft über einen langen Zeitraum gepflegt. Die intensiven Erfahrungen und einmaligen Erlebnisse während eines Jugendaustausches begleiten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen oft ein Leben lang und haben Einfluss auf viele ihrer späteren (beruflichen) Entscheidungen. Die Absolvierung eines Freiwilligendienstes oder eines Auslandssemesters in Israel und eines Hebräisch-Sprachkurses sowie das ehrenamtliche Engagement bei nachfolgenden Begegnungsmaßnahmen seien hier als Stationen im Lebenslauf genannt. 

Abschließend möchte ich eine ehemalige Teilnehmerin zitieren, die mir kürzlich geschrieben und ihre damalige Gastschwester in New York nach 16 Jahren wiedergesehen hat. „Das Programm hat so viel Gutes getan und da Sie ein Teil davon waren, möchte ich mich (…) nochmals bei Ihnen und allen, die damals den Austausch gefördert und unterstützt haben, bedanken! Es war eine so tolle und prägende Erfahrung, die bis heute ihre positive Wirkung hat.“ 

Dass ein Jugendaustausch so lange nachwirkt, ist nicht zuletzt auch durch die besondere emotionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und durch das gemeinsame Erinnern begründet.

 

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