Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953, der sich auf alle Gesellschaftsschichten der DDR ausweitete und daher richtigerweise meist als Volksaufstand beschrieben wird, stellte die SED vor ein Legitimationsproblem: Arbeiter*innen (und letztlich ein wesentlicher Teil der Bevölkerung) konnten sich unmöglich gewaltsam gegen die Regierung des Arbeiter- und Bauern-Staates wenden. Deshalb wurde das Aufbegehren im noch jungen, stalinistisch geprägten Staat allein anhand ideologisch definierter Feindbilder interpretiert und die komplette Propaganda an ihnen ausgerichtet.
Demonstranten ziehen durch die Ludwig-Wucherer-Strasse in Halle (Saale). © Foto: 70 Jahre DDR-Volksaufstand/AdsD/FES; 6/FOTA195909
Bereits am 18. Juni, während in einigen Städten noch gestreikt und etwa für freie Wahlen und die Freilassung politischer Häftlinge protestiert wurde, ließ die SED per Regierungserklärung die in ihren Augen einzig mögliche Deutung verbreiten: Der Aufstand sei „das Werk von Provokateuren und faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihrer Helfershelfer aus deutschen kapitalistischen Monopolen“ (Erklärung der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, „Freiheit“, 18. Juni 1953). Der großen Legende des vom Westen gelenkten „faschistischen Putschversuchs“ folgend, erhielt das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) früh den Auftrag, entsprechende Ermittlungsergebnisse vorzuweisen. Und so wurden unisono all diejenigen zu „Faschisten“ erklärt, denen irgendeine Art der Teilnahme an Streik- oder Protesthandlungen nachgesagt werden konnte. Der Postangestellte Friedrich Keferstein etwa betätigte sich laut Urteil des Bezirksgerichts Halle als „Gegner der Arbeiterklasse“ und „williges Werkzeug der imperialistischen Kriegsbrandstifter“, der „Propaganda für den Neofaschismus“ betrieben habe, nur, weil er im Rahmen des Protests die Verletzung des Postgeheimnisses durch das MfS kritisiert hatte (BStU, BV Halle, AU 14/54, Bd. 3). Keferstein war einer von 76 Angeklagten, die im Rahmen des Volksaufstands in Halle verhaftet und verurteilt wurden (vgl. Löhn 2003: 198).
Wirkmächtiger als diese ideologisch aufgeladenen Satzfragmente, die meist in exakt gleicher Formulierung in den späteren Urteilen auftauchten, waren jedoch die für die Öffentlichkeit konstruierten Geschichten, die das Bild des „faschistischen Putschversuches“ in der Bevölkerung verfestigen sollten. Mit Hilfe von „losgelassenen kriminellen Banditen und KZ-Aufseher[n]“ habe die Bundesrepublik versucht, „die DDR mit Waffengewalt zu erobern und einen Bürgerkrieg zu entfesseln, der in den dritten Weltkrieg münden sollte“ (Ausschuss für Deutsche Einheit 1954: 3f.), wie es in der Propagandaschrift des Ausschusses für Deutsche Einheit hieß. Mit welchen Umdeutungen und Konstruktionen diese bis zuletzt in den DDR-Lehrbüchern, in Literatur und Geschichtsschreibung verfangende Erzählung vom „Tag X“ implementiert worden war, lässt sich wie unter dem Brennglas in Halle an der Saale zeigen.
Eine der kuriosesten Figuren des 17. Juni in Halle war eine Frau, deren Geschichte bis heute undurchsichtig geblieben ist, bei der grundlegende Informationen etwa zur Geburt, Herkunft oder auch zu ihrem Tod fragwürdig erscheinen. Ihre angebliche Vita musste jedoch im Rahmen der SED-Propaganda als Beweis für den vermeintlich faschistischen Kern des Aufstandes herhalten; die „Causa Erna Dorn“ stellt bis heute einen der bekanntesten Fälle der Stasi-Ermittlungen im Kontext des 17. Juni dar.
Erna Dorn, die 1951 als Kleinkriminelle verurteilt worden war, bezichtigte sich während ihrer Haftzeit plötzlich selbst, Gestapobeamtin und später KZ-Aufseherin in Ravensbrück gewesen zu sein. Zum Kriegsende habe sie noch in einem Außenlager des KZ Flossenbürg gearbeitet. Trotz widersprüchlicher Angaben, einiger offensichtlicher Falschbehauptungen und der Tatsache, dass es trotz intensivster Bemühungen keine Zeugen für ihre Tätigkeit bei SS oder Gestapo gab, wurde Dorn anschließend wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Seltsamerweise und anders als zu jener Zeit üblich, gab es dazu keinerlei Berichterstattung.
Ebenjene Frau gehörte am 17. Juni zu den Häftlingen, die von Protestierenden aus der Haftanstalt in der Kleinen Steinstraße befreit wurden. Was im weiteren Verlauf des Tages geschah, ist unklar. Als Dorn kurz darauf wieder verhaftet wurde, beschuldigte das MfS sie, auf dem Hallmarkt zum Sturz der Regierung aufgerufen zu haben (vgl. Gursky 2003). Zeugen gab es dafür nicht. Doch passte die angebliche „faschistische KZ-Bestie“ (Ausschuss für Deutsche Einheit 1954: 4) perfekt ins offizielle Narrativ. Bereits fünf Tage später wurde Dorn – nach nur einem Verhör – zum Tode verurteilt. Zuvor hatte die SED-Presse über die angeblich führende Rolle Dorns während des Volksaufstands berichtet. Das Neue Deutschland titelte „Erna Dorn alias Gertrud Rabenstein“ und ließ ehemalige Ravensbrücker Inhaftierte zu Wort kommen, die die Brutalität der als „Rabenaaß“ bekannten Aufseherin untermalten (vgl. u.a. Neues Deutschland vom 26.6.1953: 5). Nur: Gertrud Rabenstein, die nachweislich im KZ Ravensbrück Dienst getan hatte, war bereits 1948 als ebenjene Aufseherin „Rabenaaß“ verurteilt und seitdem im Frauengefängnis Hoheneck eingesperrt.
Bis heute ist ungeklärt, unter welchen Voraussetzungen Erna Dorn in den Verhören durch das MfS ihre angeblichen oder tatsächlich begangenen Taten gestand. Bis auf die Ermittlungsakten der Staatssicherheit und die wenigen Justizakten gibt es (fast) keine Quellen. Gewiss ist inzwischen nur, dass eine 1913 in Königsberg geborene Erna Brüser – einer der vielen Aliasnamen Dorns samt passenden Geburtsdaten – im April 1945 in einem Außenlager des KZ Flossenbürg einsaß. Die Inhaftierte, die zuvor aus dem KZ Ravensbrück deportiert worden war, in welchem man sie wiederum Anfang März 1943 eingesperrt hatte, (Inhaftierungsdokumente von Erna Brüser aus der Häftlingskartei Leitmeritz, 1945, 1.1.8.4/ 01010804 003.236/ITS Digital Archive, Arolsen Archives; Auskünfte der Gedenkstätten Ravensbrück und Terezín), war wahrscheinlich eine gänzlich andere Person, deren Identität sich die später als Erna Dorn firmierende Frau bediente – was mit großer Sicherheit heißen würde, Erna Dorn hätte tatsächlich zumindest im Außenlager Leitmeritz in unbekannter Funktion gearbeitet (vgl. Cziborra 2017: 115–129). Ihre von der SED propagierte Rolle als blutrünstige Aufseherin bleibt jedoch weiterhin äußerst zweifelhaft.
Trotz aller Unsicherheiten und Widersprüche: Die Geschichte um die angebliche KZ-Aufseherin und Gestapobeamtin, die am 17. Juni die DDR stürzen und einen faschistischen Staat errichten wollte, füllte die Seiten der Gazetten und wurde fortan stets als Beispiel für das faschistische Wesen des Aufstandes angeführt (Dorn wurde der Öffentlichkeit medial als faschistische Drahtzieherin präsentiert, s. Freiheit vom 20.6.1953; ihr Fall wurde auch literarisch rezipiert, vgl. Hermlin 1983 und spielte in der DDR-Geschichtsschreibung zur Deutung des Aufstandes eine tragende Rolle, vgl. Doernberg 1969: 327 und Schöneburg et al. 1968: 322).
Doch auch andere von der Staatspartei gesponnene Legenden fanden Einzug in die staatliche Gesamterzählung. Wie auch im Falle Erna Dorn beginnt das Dilemma einer solchen über die Bezirksgrenzen hinaus propagierten Geschichte vor den Toren eines halleschen Gefängnisses:
Während Demonstranten erfolgreich Gefangene aus dem erwähnten Untersuchungsgefängnis in der Kleinen Steinstraße befreit hatten, scheiterten sie beim Versuch, Eingesperrte aus der Haftanstalt „Roter Ochse“ zu holen: Als Demonstrierende dort mithilfe eines Lastwagens versuchten, das Tor der Haftanstalt aufzudrücken, schoss die im Gefängnis verschanzte Wachmannschaft auf die sich vor der Mauer befindenden Menschen (vgl. Löhn 2003: 57–68). Drei davon starben: Kurt Crato, Manfred Stoye und Gerhard Schmidt. Letzterer – der durch einen Querschläger tödlich verletzt wurde – war nicht einmal Teil des Protests gewesen, sondern hatte als Spaziergänger zusammen mit seiner Frau abseits gestanden und die Situation beobachtet. Im Gegensatz zu den getöteten Demonstrierenden, die im Nachgang als „asoziale Elemente“ und „Faschisten“ verunglimpft wurden, beraumte man für Schmidt gegen den Willen seiner Frau ein Staatsbegräbnis an. Er sei, so die Propaganda, von den Demonstrierenden angegriffen und getötet worden. Der damalige Universitätsrektor Leo Stern hatte Schmidts Familie zuvor aufgesucht, die Pläne für das Begräbnis samt Trauermarsch verkündet und gedroht, dass man die Angelegenheit auch anders darstellen könne, wenn die Familie nicht mitzöge. Der Beerdigung ging dann ein Sternmarsch von Tausenden voraus, zu dessen Teilnahme Arbeiter*innen aus den umliegenden Betrieben verpflichtet worden waren. Teile der Bevölkerung versuchten derweil, das allzu offensichtlich falsche Trauerspiel zu stören und wurden postwendend verhaftet (vgl. Ahrberg/Hertle/Hollitzer 2004: 77–79). Schmidts Tod wurde in der SED-Zeitung des Bezirks von Rektor Stern in dem Beitrag „Er fiel im Kampf für den Frieden“ aufgegriffen. Schmidt sei durch „faschistische Mörderhand“ gestorben. Ebenso falsch wie pathetisch hieß es dort: „Die Kugel, die Gerhard Schmidt traf, sollte die große Sache des Weltfriedens treffen“ (Freiheit vom 24.6.1953).
Literatur
Ahrberg, Edda/Hertle, Hans-Hermann/Hollitzer, Tobias (Hrsg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004.
Ausschuss für Deutsche Einheit: Wer zog die Drähte? Der Juni-Putsch 1953 und seine Hintergründe, Berlin (Ost) 1954.
Cziborra, Pascal: KZ Leitmeritz. Frauen für Richard, Bielefeld 2017.
Doernberg, Stefan: Kurze Geschichte der DDR, Berlin (Ost) 1969.
Gursky, André: Erna Dorn: „KZ-Kommandeuse“ und „Rädelsführerin“ von Halle – Rekonstruktion einer Legende, in: Rupieper, Hermann-Josef (Hrsg.): „…und das Wichtigste ist doch die Einheit“. Der 17. Juni 1953 in den Bezirken Halle und Magdeburg, Münster/Hamburg/London 2003.
Hermlin, Stephan: Die Kommandeuse, in: ders. (Hrsg.): Arkadien – Gesammelte Erzählungen, Leipzig 1983.
Löhn, Hans-Peter: Spitzbart, Bauch und Brille – sind nicht des Volkes Wille. Der Volksaufstand des 17. Juni 1953 in Halle an der Saale, Bremen 2003.
Schöneburg, Karl-Heinz et al.: Vom Werden unseres Staates. Eine Chronik. Bd. 2, Berlin (Ost) 1968.