Ein Abgrund, der uns trennt. Der 7. Oktober 2023 und seine Folgen für queere Jüdinnen*Juden
Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler sowie politischer Schriftsteller. Er publiziert zu tagespolitischen Themen und beschäftigt sich mit Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness. Anfang 2023 erschien sein Essay „Inzwischen ist es kalt geworden“ über Antisemitismus in linken Bewegungen. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich Monty Ott in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. Von 2018 bis 2019 war er Vorsitzender des queer-jüdischen Vereins Keshet Deutschland. Er verfasste gemeinsam mit Ruben Gerczikow den 2023 veröffentlichen Reportageband „‚Wir lassen uns nicht unterkriegen‘ – Junge jüdische Politik in Deutschland“.
von Monty Ott
Prolog
Dieser Text geht über den ursprünglich geplanten Beitrag hinaus. Er befasst sich zwar wie vorgesehen auch mit der Intersektion von Antisemitismus und Sexismus, aber vor allem mit dem Verhältnis der politischen Linken und progressiver Bewegungen zum Antisemitismus. Auslöser war das Massaker und die systematische misogyne Gewalt der islamistischen Hamas vom 7. Oktober 2023 und die Reaktionen intersektionaler, queerer und feministischer Bewegungen.
Es ist Zeit vergangen und doch fällt es nach wie vor schwer, Worte zu finden. Die Zunge klebt am Gaumen, der Kloß im Hals wird immer größer. Der unmittelbare Schock, unter dem sich mein Denken gebogen hat, ist unendlicher Trauer, Wut und der bitteren Erkenntnis gewichen, dass die Leben von Jüdinnen*Juden in Teilen der deutschen Gesellschaft wenig Wert zu sein scheinen. Ich hatte gehofft, dass das Ausmaß der Massaker und systematischen misogynen Gewalt selbst diejenigen erschüttern würde, die sich sonst im Gestus der Gerechten als maßlose und einseitige „Kritiker*innen“ Israels hervortun. Jedoch schreckten nur einige tatsächlich auf und waren nun bereit, die Gewalt der islamistischen Terrororganisation Hamas – die sie nicht nur gegen Israelis, sondern auch gegen die eigene palästinensische Bevölkerung ausübt – anzuerkennen und zu verurteilen. Teile der globalen Linken wiederholten leider nur wieder ihren alten Sermon, der gleichsetzt oder parallelisiert, was sich nicht gleichsetzen lässt. Einer Empathie für Israelis und Palästinenser*innen gleichermaßen scheinen viele nicht fähig zu sein, die sich als Teil der globalen Linken oder als Menschenrechtsverfechter*innen verstehen. Empathie für Israelis, die Opfer eines seit der Shoa nicht dagewesenen antisemitischen Grauens wurden. Und Empathie für Palästinenser*innen, die nicht nur unter der Herrschaft einer islamistischen Terrorgruppe zu leiden haben, sondern auch die Leidtragenden von Israels Krieg gegen diese Terrorfürsten und zur Befreiung der verbliebenen über 130 von der Hamas nach Gaza verschleppten Geiseln sind.
Die Enttäuschung darüber fasste die Journalistin Erica Zingher zusammen: „Israelische Frauen wurden vergewaltigt, missbraucht, verbrannt, enthauptet, ermordet – zum Teil vor ihren Kindern. Man könnte erwarten, dass Frauenrechtsorganisationen weltweit kollektiv aufschreien […]. Eine der wichtigsten Frauenorganisationen der Welt, UN Women, schwieg wochenlang.“ Zingher benennt in ihrem Text für die taz, was in der Berichterstattung viel zu lange ignoriert wurde: „Der Angriff war nicht nur ein antisemitischer, sondern auch ein frauenfeindlicher, der sich gegen sexuelle Freiheit, Emanzipation und das Leben richtete“ (Zingher 2023).
Ich hätte viel lieber einen Text über queer-jüdische Selbstbehauptung geschrieben. Doch ein solcher Text würde in dieser Situation einer Flucht gleichkommen. Einer Flucht davor, was viele queere, feministische und intersektionale Jüdinnen*Juden derzeit beschäftigt. Dazu gehören Schweigen, Ignoranz und Relativierungen jener Bewegungen, mit denen sie sich identifizieren und von denen sie ein Teil sind. Die unvorstellbar grauenvolle, systematische sexualisierte Gewalt gegen jüdische Frauen, aber auch Männer, Senior*innen und Kinder hätte doch genauso Solidarität abnötigen müssen, wie die Gewaltandrohung gegen alle Jüdinnen*Juden weltweit.
Der auf kritische Männlichkeitsforschung und sexualisierte Gewalt spezialisierte Sozialpsychologe Rolf Pohl bezeichnet das Vorgehen der Hamas als „moderne Variante der Zurschaustellung von Kriegstrophäen“ (Pohl 2023). Dabei bezieht er sich nicht nur darauf, wie die entführten Israelinnen im Gaza-Streifen erniedrigt wurden, sondern auch auf das Streaming der Gewalttaten, als die Hamas-Kämpfer in Kibbuzim, Ortschaften und auf dem Super-Nova-Festival Menschen massakrierten, vergewaltigten, ihre Körper verstümmelten und diese Taten ins Internet streamten. Der Hass der Täter sei ein dreifacher gewesen: „Sie ist Israelin, das ist Hass auf den Staat; sie ist Jüdin, das ist Antisemitismus. Und drittens ist das Opfer eine Frau“ (Pohl 2023). Müsste diese Dimension, also eine intersektionale Verschränkung von Antisemitismus und sexualisierter Gewalt, nicht besonders intersektionale und queer-feministische Bündnisse auf den Plan rufen? Manche Teile dieser Bewegungen schwiegen, andere relativierten die Gewalt gegen jüdische Frauen, oder noch schlimmer: Manche übten sich sogar in Rechtfertigung. Das war eine unendlich schmerzvolle Erfahrung für queere Jüdinnen*Juden. Zeigte sich damit doch wieder einmal, wie enorm die Probleme mit Antisemitismus in diesen Bewegungen sind. Und verstärkte das fehlende Mitgefühl doch das Gefühl der Einsamkeit queerer Jüdinnen*Juden. Dabei sollten diese Bewegungen doch gerade deshalb aktiv werden, weil es sich, wie die Soziologin Karin Stögner nicht müde wird zu erklären, bei Antisemitismus um „eine […] durch und durch intersektionale Ideologie“ handelt, die „integriert und operiert durch Momente, die an sich nicht antisemitisch erscheinen mögen, sondern antifeministisch, sexistisch, homophob, rassistisch oder nationalistisch“ (Stögner 2022).
Diese Verbindung ist nicht nur in der kriegerischen Auseinandersetzung des arabisch-israelischen Konfliktes zu beobachten, sondern genauso in der deutschen Gesellschaft (und grundsätzlich überall da, wo Antisemitismus auftritt). Die Ausblendung dessen ist ein strukturelles Problem. Darauf macht Pohl aufmerksam: Gerade in Deutschland werde dieser Aspekt, die Komponente des Frauenhasses, oft „bagatellisiert“ (Pohl 2023). Er verweist in diesem Zusammenhang auf die öffentliche Wahrnehmung des Anschlags auf die jüdische Gemeinde und den KiezDöner in Halle 2019, wie auch auf die der Terroranschläge von Oslo und Utøya 2011, bei denen der Antifeminismus und Sexismus im Weltbild der Täter laut Pohl eine Scharnierfunktion eingenommen habe (Pohl 2023).
Es mutet widersprüchlich an, hier ausgerechnet Judith Butler zu zitieren, da die Philosophin fragwürdige Positionen im arabisch-israelischen Konflikt vertrat und vertritt, unter anderem die, dass Hamas und Hisbollah Teil der globalen Linken seien. Doch ich möchte mit Butler, der queerfeministischen Vordenkerin, gegen die Leerstelle, die Antisemitismus in queeren und intersektionalen Bewegungen bildet, argumentieren: So schreibt Butler in „Gewalt, Trauer, Politik“ davon, dass sich Trauer und Anteilnahme am Tod von Menschen unterschiedlich verteilen. Bestimmend dafür sei die gesellschaftliche Norm. Es entstehe eine „Hierarchie der Trauer“, in der „bestimmte Menschenleben [betrauernswerter] […] sind als andere“ (Butler 2020: 47–49). Betrauert wird, so hält es auch Maren Romstedt bei Belltower fest, wer nicht marginalisiert ist (Romstedt 2021).
Nun sind die Einsprüche vorprogrammiert: Jüdinnen*Juden würden doch in Deutschland betrauert. Das träfe vor allem auf die sechs Millionen Ermordeten der Shoa zu. Dabei gilt für das gegenwärtige Verhältnis zu den ermordeten Jüdinnen*Juden, was die Sozialpsycholog*innen Alexander und Margarete Mitscherlich in „Die Unfähigkeit zu trauern“ bereits für die 1960er-Jahre festgestellt haben: Es würden nur „die passenden Bruchstücke der Vergangenheit zur Erinnerung zugelassen“ (Mitscherlich/Mitscherlich 1986: 26). Ein Befund, der auch durch den Multidimensionalen Erinnerungsmonitor, eine Studie zur Erinnerungskultur in Deutschland, bestätigt wird: Die Erinnerung an Jüdinnen*Juden geschieht demnach nicht um ihrer selbst willen; zudem wird sie oft instrumentalisiert, um die Demokratisierung Deutschlands unter Beweis zu stellen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Kontinuität antisemitischer Gewalt findet genauso wenig statt wie eine mit gegenwärtigem jüdischen Leben oder mit der Pluralität des vernichteten jüdischen Lebens. Wie Esther Dischereit betont, werden Jüdinnen*Juden „in der öffentlichen Wahrnehmung wieder und wieder ‚Jude‘ und nichts als Jude, gleichsam tot, was […] [die] Zugehörigkeit zur Gattung betrifft“ (Dischereit 1998: 19f.). Mitgefühl und Anteilnahme angesichts der Gewalt gegen Israelis oder mit Opfern antisemitischer Angriffe ist seit Jahren daher eher spärlich bemessen. Doch nun wird sicher ebenfalls eingewendet, dass es ungleiche Anteilnahme für israelische und palästinensische Opfer des aktuellen Krieges gäbe. Zum Teil stimmt das sogar und es ist nicht minder kritikwürdig.
Ebenso kritikwürdig, wie der Umstand, dass in etlichen queeren, intersektionalen und feministischen Gruppen ein Schweigen gegenüber der sexualisierten Gewalt an israelischen Frauen hegemonial war. Israelis und Jüdinnen*Juden schienen selbst am 8. Oktober manchen wenig betrauerbar. Diese Leerstelle unterstreicht das Scheitern an den eigenen Konzepten: Es wäre die Aufgabe dieser Bewegungen, die intersektionale Verschmelzung von Antisemitismus und sexualisierter Gewalt bzw. Antifeminismus zu benennen. Die Gewalt der Hamas war, so fasst es der Historiker Dan Diner zusammen, „genozidal“. Die Gräuel seien „insofern hochsymbolisch“ gewesen, „als die über den Tod hinaus verunstalteten Leiber offenbar für den kollektiven Körper der israelischen Juden zu stehen hatten“ (Diner 2023). Diese Symbolik erreichte Jüdinnen*Juden weltweit. Sie betonte, wie prekär die Sicherheit von jüdischen Communities ist – und das in einer Situation, in der Antisemitismus seit Jahren zunehmend offener und gewaltvoller auftritt. Wer Jüdinnen*Juden und Israelis pauschal als weiß bezeichnet, verkennt die Bedrohung durch den Antisemitismus und dessen intersektionale Verflechtungen. Diner kommt zu dem Schluss, dass Israel nie wieder so sein wird, wie es war. Genauso gilt: Das Verhältnis von queeren Jüdinnen*Juden zu queeren und intersektionalen Bewegungen wird nie wieder so sein, wie es einmal war.
Literatur
Butler, Judith: Gewalt, Trauer, Politik, in: dies. (Hrsg.): Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt/Main 2020, S. 36–68.
Diner, Dan: Sie stellen den Israelis den Vernichtungstod in Aussicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.10.2023, URL: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/israel-krieg-hamas-stellen-israelis-den-vernichtungstod-in-aussicht-19265630.html [5.2.2024].
Dischereit, Esther: Kein Ausgang aus diesem Judentum, in: dies. (Hrsg.): Übungen, jüdisch zu sein: Aufsätze, Frankfurt/Main 1998, S. 16–35.
Mitscherlich, Alexander/Mitscherlich, Margarete: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1986 [1977].
Pohl, Rolf: Massaker der Hamas: „Das ist die moderne Variante der Zurschaustellung von Kriegstrophäen“, in: Süddeutsche Zeitung, 2.11.2023, URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/frauenhass-hamas-israel-vergewaltigungen-interview-sozialpsychologe-pohl-1.6297576?reduced=true [5.2.2024].
Romstedt, Maren: Die queere Bewegung und der Hass auf Israel, in: Belltower News, 23.7.2021, URL: https://www.belltower.news/antisemitismus-die-queere-bewegung-und-der-hass-auf-israel-119049/ [5.2.2024].
Stögner, Karin: Intersektionalität und Antisemitismus, in: bpb, 12.12.2022, URL: https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/516233/intersektionalitaet-und-antisemitismus/ [5.2.2024].
Zingher, Erica: Und was ist mit den Israelinnen?, in: taz, 24.11.2023, URL: https://taz.de/Gewalt-an-Frauen/!5972451/ [5.2.2024].
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- 28 Feb 2024 - 07:38