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Der gescheiterte Friede. Lehren aus dem Wiener Kongress (1815), der Pariser Friedenskonferenz (1919) und der Potsdamer Konferenz (1945)

Prof. Dr. Robert Gerwarth ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am University College Dublin und Direktor des UCD Centre for War Studies. Über das Kriegsende 1918 und das Erbe des Ersten Weltkrieges veröffentlichte er mehrere Bücher, zuletzt: „Die größte aller Revolutionen. November 1918 und der Aufbruch in eine neue Zeit“ (München 2018).

Von Robert Gerwarth

Historische Analogien

Am 9. Mai 2022 würdigte der französische Präsident Emmanuel Macron den 77. Jahrestag der Kapitulation Deutschlands mit einer Rede vor dem Europäischen Parlament. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine bemühte sich Macron, konkrete Lehren aus der Geschichte zu ziehen und auf die Gegenwart anzuwenden: „Was“, fragte er, „ist unser Ziel angesichts der einseitigen Entscheidung Russlands, in die Ukraine einzumarschieren und deren Bevölkerung anzugreifen? Diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, damit die Ukraine bis zum Ende durchhält und Russland niemals triumphieren kann.“ Um einen dauerhaften Frieden in Europa zu erreichen, so Macron, „müssen wir gemeinsam weder der Versuchung der Demütigung noch dem Geist der Rache nachgeben, denn diese haben in der Vergangenheit schon genug Schaden auf dem Weg zum Frieden angerichtet“ (Macron 2022).

Macron bezog sich in seiner Rede fraglos auf die konkreten historischen Erfahrungen Deutschlands und Frankreichs, die lange Zeit in einem Zustand der „Erbfeindschaft“ gefangen waren, der sich ablesen lässt unter anderem in den Frieden von 1871 (Friede von Frankfurt, der formell den deutsch-französischen Krieg von 1870/71 beendete) und von 1919 (Friedensvertrag von Versailles zwischen den Siegern des Ersten Weltkrieges und dem Deutschen Reich). Nach der Kriegsniederlage Frankreichs hatte Deutschland 1871 Elsass-Lothringen annektiert, Paris zu hohen Reparationszahlungen gezwungen, und die Besiegten zusätzlich erniedrigt, indem Bismarck die Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles abhielt. Keine 50 Jahre später wurde die Friedenskonferenz von Paris am 18. Januar 1919 eröffnet, dem Jahrestag der deutschen Kaiserproklamation. Die deutsche Delegation musste letztlich den Friedensvertrag von Versailles in eben jenem Spiegelsaal unterzeichnen, in dem Bismarck 1871 Wilhelm I. zum Deutschen Kaiser ausgerufen hatte. Deutschland und Frankreich, so Macrons Botschaft, hätten ihre Lehren aus der Vergangenheit gezogen: Unnötig demütigende Friedensverträge und rachsüchtige Symbolpolitik seien zu vermeiden, Kooperation sei Konfrontation vorzuziehen.

Vor dem Hintergrund von Macrons Rede stellt sich die Frage, welche Friedensverträge der Neuzeit als Vorbilder für die Gegenwart dienen könnten – und welche nicht.

Von Wien nach Paris

Was in Macrons Rede fehlte, war ein Hinweis auf den Wiener Kongress von 1814/15 (der nach der Niederlage Napoleons eine Neuordnung Europas festlegte), der anders als etwa die Pariser Friedensverträge am Ende des Ersten Weltkriegs gemeinhin als erfolgreicher Friedenskongress gilt, dem eine (fast) ununterbrochene hundertjährige Friedensperiode in Europa folgte. Essenziell war hier das Konzept eines „Friedens ohne Sieger“, da seinerzeit das besiegte Frankreich als gleichberechtigter Partner in die Verhandlungen über die künftige Sicherheitsarchitektur für Europa einbezogen wurde.

In dieser Hinsicht unterschieden sich die Verhandlungen von Paris 1919 von Anfang an deutlich von denen in Wien, da die unterlegenen Mittelmächte und ihre Nachfolgestaaten – Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und das Osmanische Reich – zu den Gesprächen in Paris nicht geladen waren. Die Verliererstaaten sollten erst herbeizitiert werden, wenn die Friedensverträge, die man ihnen auferlegen wollte, unterschriftsreif waren.

Ein zweiter Unterschied zwischen den Friedenskonferenzen von Wien und Paris betraf die Zahl der vertretenen Länder: Während auf dem Wiener Kongress nur fünf Parteien verhandelt hatten, saßen in Paris nun mehr als dreißig alliierte oder assoziierte Staaten am Verhandlungstisch.Hinzu kamen Tausende von Journalisten und Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen. An Geheimdiplomatie – wie noch 1814/15 – war nicht mehr zu denken, die globalen Öffentlichkeiten hungerten nach möglichst zeitnahen Berichten über den Stand der Verhandlungen. Gleichzeitig wurde schnell deutlich, dass es für Demokratien, deren gewählte Vertreter*innen bei Nichterfüllung hoher Erwartungen auch schnell abgewählt werden können, sehr viel schwerer ist, Frieden zu schließen als für Diktaturen oder Monarchien, die dem Volk keinerlei Rechenschaft schulden und Dissens unterdrücken.   

Schon bald nach der Eröffnung der Friedenskonferenz im Januar 1919 wurde deutlich, dass jeder Delegationsführer mit eigenen Zielen nach Paris gekommen war, die mehrheitlich den Erwartungen in der Heimat entsprachen und den Absichten der anderen Siegermächte oft diametral entgegenstanden. Das Hauptanliegen der Franzosen bestand darin, die Macht ihres westlichen Nachbarn Deutschland zu begrenzen, im Idealfall sogar zu zerschlagen und neue Pufferstaaten am Rhein und verbündete Staaten entlang der deutschen Ostgrenze zu schaffen. Des Weiteren ging es um Vergeltung für das erlittene Unrecht: Zehn französische Départements waren im Weltkrieg durch Kampfhandlungen oder deutsche Besatzungstruppen verwüstet worden. Frankreich hatte ein Viertel seiner männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 27 Jahren verloren. Der französische Premierminister Georges Clemenceau verhandelte in dem Wissen, dass die überwiegende Mehrheit seiner Landsleute die Bestrafung des vermeintlichen Hauptschuldigen am Kriegsausbruch von 1914 – Deutschland – verlangte, sowie eine angemessene Wiedergutmachung für Frankreich.

Den Briten wiederum – denen seit jeher an einem „Mächtegleichgewicht“ auf dem Kontinent gelegen war – bereitete eine französische Hegemonie auf dem Kontinent ebenso große Sorgen wie vor 1914 die Gefahr einer deutschen Übermacht. Im Hinblick auf Deutschland bemühte sich der britische Premierminister David Lloyd George um einen Mittelweg zwischen einer in seinen Augen gerechten Bestrafung von deutschen Kriegsverbrechen und der nötigen Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen wie politischen Gleichgewichts in Europa.

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson wiederum hatte als Ziel der Konferenz stets einen „gerechten Frieden“ in Aussicht gestellt, ein neues internationales Ordnungssystem demokratischer Staaten, das auf dem nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhte. Wilson schwebte vor, die ganze Welt – und vor allem Europa – nach Vorbild der USA zu reformieren. Hinter seinen von Idealismus getragenen Plänen stand allerdings auch ein wohlkalkuliertes Ziel: Wenn der Erste Weltkrieg und der alliierte Sieg das Machtgleichgewicht schon zugunsten der USA – und zuungunsten Europas – verschoben hatte, dann sollte die von Wilson propagierte neue Weltordnung dazu dienen, die globale Vorherrschaft seines Landes zu festigen – politisch wie wirtschaftlich.

Die divergierenden Standpunkte der Alliierten auf einen Nenner zu bringen, stellte ein nahezu aussichtsloses Unterfangen dar. Auch wenn die politischen Führer der Westalliierten es nie offen zugegeben hätten, so wussten sie doch von Anbeginn der Pariser Verhandlungen, dass die Endfassung der Friedensverträge ein Kompromiss sein würde – allerdings nicht zwischen Gewinnern und Verlierern, sondern zwischen den Hauptakteuren der siegreichen Entente.

Robert Gerwarth (Zweiter von rechts) im Podiumsgespräch mit Vasco Kretschmann, Anuschka Tischer, Dimitrij Davydov und Oliver Plessow (v.l.n.r.). © Christiane Deuse

Die Potsdamer Konferenz 1945

Bekanntlich war die Gültigkeit der Pariser Friedensverträge von 1919 nicht von langer Dauer. Als sich zweieinhalb Jahrzehnte später das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Niederlage Deutschlands abzeichneten, begannen die Überlegungen, welche „Lehren“ aus dem Scheitern des Pariser Systems zu ziehen seien. Anders als 1918 entschieden sich die Alliierten – insbesondere der sowjetische Staats- und Parteichef Josef W. Stalin, US-Präsident Harry S. Truman und der Premierminister Großbritanniens Winston Churchill bzw. in den letzten Tagen der Konferenz Clement Attlee – schon vor Kriegsende für eine militärische Besatzung Deutschlands, die 1918 ausgeblieben war. Im Londoner Protokoll vom September 1944 war die Einteilung Deutschlands in Besatzungszonen und die Aufteilung Berlins in Sektoren festgelegt worden, um – wie es die Alliierten im Februar 1945 auf ihrer Konferenz in Jalta formulierten – sicherzustellen, dass sowohl der Nationalsozialismus als auch der deutsche Militarismus „ausgerottet“ werden.

Letztlich war auch das Potsdamer Abkommen ein Kompromiss zwischen den drei wichtigsten Alliierten, allerdings im radikal veränderten Kontext zwischen der totalen Niederlage Deutschlands und dem beginnenden Kalten Krieg. Kriegsverbrecherprozesse, wie sie 1919 angedroht, aber nie durchgeführt worden waren, fanden ab 1945 in Nürnberg statt. Hinzu kam die radikale Neuziehung politischer und ethnischer Grenzen in Form der Vertreibung von Millionen Deutscher aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn, von der sich die Alliierten ein Ende des territorialen Revisionismus Deutschlands und ein Ende ethnischer Konflikte in der Region erhofften. Dass das Potsdamer Abkommen dauerhafter war als das Pariser System von 1919 lag aber in erster Linie daran, dass es in der Zeit des Kalten Krieges von beiden globalen Supermächten, den USA und der UdSSR, erhalten wurde und daran, dass der Prozess der Demokratisierung Deutschlands nach 1945 erfolgreicher war als nach 1918. 

Fazit

Ob in der heutigen Situation und angesichts des menschlichen Leids und der physischen Zerstörung, die der Einmarsch Russlands in die Ukraine mit sich bringt, ein Frieden ohne Sieger wie 1815 möglich ist, ist schwer zu sagen. In einem idealen Zukunftsszenario würde auf eine erfolgreiche militärische Abwehr der russischen Invasion ein Verhandlungsfrieden folgen, der auf diesem Grundsatz beruht und anerkennt, dass Frieden kein Moment ist, sondern ein Prozess, der die Demobilisierung von Mentalitäten ebenso erfordert wie die der Streitkräfte.

In jedem Fall hat Präsident Macron eine richtige Lehre aus dem 20. Jahrhundert in Europa gezogen: Es wird keinen dauerhaften Frieden in Ostmitteleuropa und keine stabile internationale Sicherheitsordnung geben, wenn Fehler der Vergangenheit wiederholt werden und Rachegelüsten Vorrang vor Kompromissbereitschaft eingeräumt wird.

 

Quellen und Literatur

Benz, Wolfgang: Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland, München 2012.

Boemeke, Manfred F./Feldman, Gerald D./Glaser, Elisabeth (Hrsg.): The Treaty of Versailles. A Reassessment after 75 Years, Cambridge/New York 1998.

Doering-Manteuffel, Anselm: Vom Wiener Kongress zur Pariser Konferenz, Göttingen 1991.

Duchhardt, Heinz: Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013. 

Gerwarth, Robert: Die Besiegten. Das blutige Erbe des Ersten Weltkriegs, München 2017.

MacMillan, Margaret: Die Friedensmacher. Wie der Erste Weltkrieg die Welt veränderte, Berlin 2018.

Macron, Emmanuel: Rede des französischen Staatspräsidenten anlässlich der Konferenz zur Zukunft Europas, 9.5.2022, URL: https://de.ambafrance.org/Rede-des-franzosischen-Staatsprasidenten-anlasslich-der-Konferenz-zur-Zukunft [23.08.2023].

Sharp, Alan: The Versailles Settlement. Peacemaking after the First World War, 1919–1923, London 2008.

Straub, Eberhard: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Neuordnung Europas, Stuttgart 2014.

Tooze, Adam: Sintflut. Die Neuordnung der Welt 1916–1931, München 2015.

 

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