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„Ich möchte immer da sein, wo ich die Dringlichkeit am stärksten sehe.“ Im Gespräch mit Umweltaktivist*innen aus der DDR und von der Letzten Generation

Dr. Christian Halbrock war von 1983 bis 1989 in der Umwelt- und Friedensbewegung der DDR engagiert. 1986 gründete er die Berliner Umwelt-Bibliothek mit und studierte nach 1990 Geschichte sowie Ethnologie, was ihm in der DDR aufgrund seines politischen Engagements nicht möglich war. Aktuell leitet er das Barnim Panorama in Wandlitz, ein Naturparkzentrum und Agrarmuseum.

Jana Mestmäcker hat Psychologie studiert, anschließend in einem Verlag als Lektorin volontiert und war zuletzt als Dozentin tätig. Nachdem sie zunächst ihre Arbeitszeit immer weiter reduzierte, gab sie 2022 ihren Job vollständig auf, um sich bei der Letzten Generation zu engagieren. Sie nahm bereits an zahlreichen Blockaden und anderen Protestaktionen teil.

LaG: Lieber Christian Halbrock, liebe Jana Mestmäcker: Sie waren und sind beide zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen politischen Systemen in der Umwelt-bzw. Klimabewegung aktiv (gewesen). Uns interessiert, wie diese unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen die Möglichkeiten Ihres Aktivismus, aber vielleicht auch gerade die Notwendigkeit, sich über­haupt zu engagieren und Widerstand zu leisten, beeinflusst haben.

Christian Halbrock: Bei mir gab es gar keinen konkreten Auslöser, aktiv zu werden, sondern oft ist es so, dass poli­tische Bewegungen zwei Flügel haben: Die einen kommen aufgrund politischer oder persönlicher Betroffenheit zu ihrem Engagement, die anderen auf der Suche nach der Möglichkeit und geeigneten Form, ihr Potenzial an Unruhe, an politischer Unzufriedenheit zu kanalisie­ren. Zum zweiten Flügel gehöre ich.

Hinzu kommt die drängende Frage: Wie kann ich authentisch, ohne die Lügen, die in der Gesellschaft von mir abgefordert werden, leben? In dieser Hinsicht ist das grüne Thema ein sehr gutes, weil es authentisch einfordert, dass man auch so lebt, wie man sich positioniert. Da war die bundesdeutsche grüne Bewegung in ihrer frühen Pha­se sehr vorbildhaft: Da waren welche, die komplett auf das Auto verzichtet, keine Flugreisen gemacht haben und auf irgendwelchen Aussteigerhöfen wohnten.

Jana Mestmäcker: Was Herr Halbrock da sagt, resoniert bei mir sehr. Einfach der Wunsch, authentisch leben und sich diesen Lügen, die uns für ein normales Leben abver­langt werden, entgegensetzen zu wollen. Und da stellt sich auch die Frage des individuellen Konsums und so ging es bei mir auch los. Ich würde auch keine Flugreise machen. Gleichzeitig sehe ich in unserer aktuellen Gesellschaft das Problem, sich so auf individuellen Verzicht zu fokussieren, dass Menschen denken, damit wäre ihre Einflussmöglich­keit ausgereizt, womit die politische Ebene ausgeblendet wird.

CH: Es ist weitreichender. Die Umweltbewegung in der DDR in den 1980er Jahren war an sich ja auch keine reine Umweltbewegung, sondern eine, die Friedens- und Um­weltthemen miteinander verbunden hat. Und sich zugleich konkret gegen die Verhältnisse im damaligen politischen System gewandt hat. In diesem Sinne ist die Umweltbe­wegung der DDR, auch vor allem in der grünen Phase von 1982 bis 1987, einer der vielen Versuche, gegen ein politi­sches System, mit dem man nicht einverstanden ist, auf­zubegehren, aber trotzdem im Land zu bleiben. Schließlich gelang es uns, als Teil der Opposition, Netzwerke zu bil­den und eigene Strukturen aufzubauen. Mit unserer Unter­grundzeitschrift in der Umweltbibliothek waren wir de fac­to sehr stark auf die Mechanismen ausgerichtet, wie das System funktioniert. Dementsprechend haben wir unsere Protestformen herausgebildet: Durchbrechung des Infor­mationsmonopols, Aufbau eines eigenen Informationsverteilers und -systems. Mit dem Fall der Mauer ist dann eine komplette neue Gesellschaft über uns gekommen. Und ich halte es nicht für gut, einfach weiterzumachen mit etwas, weil man das immer so gemacht hat, sondern man muss seine Ideen und Formen den sich verändernden Verhält­nissen angleichen. Und das war ein wesentlicher Grund, warum ich gesagt habe, ich möchte mich noch einmal aus historischer Perspektive mit meinem eigenen Engagement beschäftigen.

LaG: Wo sehen Sie Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation?

CH: Das Thema Klima hat bei uns damals eine relativ ge­ringe Rolle gespielt. Im Fokus stand eher die Verhinderung von Heizkraftwerken, die mit Braunkohle betrieben wur­den. Ein weiteres Thema, das damals stark diskutiert wur­de, aber heute kaum eine Rolle spielt, war die Überhitzung des Globus durch die massive Zunahme der Bevölkerung. Natürlich kann man an der Letzten Generation heute die apokalyptische Überspitzung des Umweltthemas kritisie­ren. Aber das ist ihre Sichtweise und zu der sind sie be­rechtigt, weil in der Demokratie jeder das Grundrecht hat, seine Position zu bestimmen.

JM: Das würde ich gerne aufgreifen. Meine jetzige Perspek­tive als Person, die 1992 geboren ist, und sich überhaupt nicht auskennt mit dem, was Sie erfahren und geleistet haben, ist, vor der Frage zu stehen: Ab wann gibt es kein Zurück mehr? Und das ist eine sehr beson­dere Situation im Vergleich zum letzten Jahrhundert, wo es immer hieß: Ja, irgend­wann wird das nicht mehr aufhaltbar sein. Ich finde es wichtig, das zu benennen: Irgendwann gibt es kein Zurück mehr. Und deswegen würde ich nicht sagen, dass wir apokalyptisch formulieren, sondern dass wir ver­suchen, das ernst zu nehmen, was Realität ist.

CH: Wir haben uns damals ja auch mit apokalyptischer Übertreibung hervorgetan in Bezug auf den atomaren Untergang. Aber Bewegungen funktionieren nur unter ge­wissen Voraussetzungen: Indem man bestimmte Themen aufwertet. Und natürlich muss man fragen, was passie­ren würde, wenn es die Proteste nicht mehr geben würde. Dann könnte die Gesellschaft sagen: „Dann machen wir halt so weiter!“.

Ein Unterschied besteht darin, dass die Umweltbewegung in der DDR anfangs eine romantische Bewegung war, die zaghaft darauf hinwies, was passiert, wenn für die Land­wirtschaft Hecken beseitigt werden, nur, damit größere Maschinen computergesteuert die Felder durchziehen können. Ich kann mich an Diskussionen erinnern, was pas­siert, wenn man alles in die Ostsee reinkippt und die Ant­wort war: „Ja, ja, das verteilt sich dann schon. Keine Angst, das ist alles groß genug“. Erst heute sieht man die gravie­renden Folgen.

JM: Ich verstehe ja auch, dass unvorstellbar war, dass wir diese planetaren Grenzen wirklich errei­chen, weil das alles so un­vorstellbar groß ist – aber wir sind dabei. Und des­halb würde ich auch nicht sagen, dass wir Gefahren aufwerten, sondern sie eher aufgreifen und ernst nehmen. Ich denke, es ist das Richtige, zu ver­suchen den Klimawan­del aufzuhalten oder in dieser Extremsituation zumindest menschlicher miteinander umzugehen, demokratischer an die Sache ranzugehen. Selbst wenn wir rausfinden, jetzt kippt es, würde ich nicht raten, mit dem Protest aufzuhö­ren, sondern es ist immer noch wichtig, die Demokratie zu stärken und weiterzumachen. Wir müssen abschätzen, ob unser Anliegen, für das wir zu bestimmten Protestformen wie Straßen­blockaden greifen, dem Gemeinwohl nützt oder nicht.

CH: Genau. Übertreibungen, Überspitzun­gen, das ist Teil der Demokratie. Wir ha­ben hier keine regierende Obrigkeit, die feststellt, was rational ist und was nicht. In der Demokratie kann sich jeder zu Wort melden, auch mit Beiträgen, die überspitzt sind. Das ist häufig auch der ein­zige Mechanismus, sich in einer Demokratie Gehör zu ver­schaffen.

Protestaktion der Letzten Generation (Foto freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Jana Mestmäcker).

LaG: Sie, Herr Halbrock, waren in einer Diktatur widerstän­dig und Sie, Frau Mestmäcker, sind es in einer Demokratie. Was bedeutet das jeweils für politischen Aktivismus?

CH: Ein gravierender Unterschied liegt darin, dass es in einer Diktatur Konsequenzen gibt, die unvermeidlich sind. Man kann nicht in der Freizeit protestieren und dann nor­mal auf Arbeit gehen. Diese Trennung in verschiedene Sphären, die heute ja möglich ist, gab es da nicht. Man kann nur Karrierist sein oder jemand, der sich gegen das System wendet. Und dann ist auf allen Ebenen Schluss: am Arbeitsplatz, in der Freizeit, wo dann auch der Ausschluss von den knappen Ressourcen stattfand. Urlaubsplätze, Bil­dungschancen – all das wurde in der DDR zentral vergeben. Und da ist man dann überall raus. Das ist die persönliche Ebene.

Zudem ist Protest in einer Diktatur mit einem höheren strafrechtlichen Risiko behaftet. Dieses muss jede Be­wegung in der Diktatur eingehen, um wahrgenommen zu werden. Andererseits wird dann auch alles, was man ge­gen das System unternimmt, sofort wahrgenommen und skandalisiert. Die Kommunikation zwischen Beherrschten und Herrschern funktioniert so, dass das Entscheidende ist, wer etwas sagt. Und wenn derjenige als Systemkritiker gilt, dann kommen seine Äußerungen auch als Kritik und Infragestellen des Systems an. In dieser Hinsicht haben es die Leute heute viel schwerer in dieser totalen Meinungs­vielfalt, überhaupt aus der Lautstärke in einer Demokratie herauszukommen.

JM: Ich merke auf vielen Ebenen, dass ich in einer Demo­kratie protestiere, durch den Umgang des Staates mit mir. Das hängt zwar auch damit zusammen, dass ich eine Per­son weißer Hautfarbe bin, aber ich hatte noch nie Angst um mein Leben – und ich war schon unzäh­lige Male eingesperrt. Und ich habe schon dazu aufgerufen, sich dem Widerstand ge­gen diese zerstörerische Politik der Bundes­regierung anzuschließen und wurde dann nicht von der Polizei erwartet und bin ver­schwunden. Auch meine Familie wird da nicht mit reingezogen. Das alles kann ich sehen und wertschätzen.

Was ich spannend finde in der Debatte um die Möglich­keiten von Protest in einer Demokratie, ist der Punkt: Sind Ideen hier wirklich frei verhandelbar? Denn manchmal wirkt es so, als wäre eine bestimmte Wirtschaftsordnung oder die Annahme, dass wir auf jeden Fall Wachstum brau­chen, in unserer Verfassung festgeschrieben, sozusagen eins mit der Demokratie. Aber: Wenn wir die Klimakatast­rophe angehen und ernsthafte Lösungen überlegen wollen, dann wird das nicht mit dieser Wirtschaftsordnung, mit diesem unendlichen Wachstum, gehen. Wenn unser politi­sches System aber sagt, daran müsse auf alle Fälle festge­halten werden, dann sehe ich darin ein Element, das mei­ner Meinung nach nicht demokratisch ist.

CH: Das ist die Grundfrage. Im gewissen Maße ist die Stabi­lität der Demokratie abhängig von diesem Wirtschaftssys­tem. Kein Mensch weiß, was passiert, wenn der Wohlstand wegfällt. Ob dann Teile von dieser Demokratie wegbre­chen. Man sieht, wie sehr die Leute abhängig davon sind, im Wohlstand zu leben. Aber wir müssen dieses Wirtschaftssystem komplett infrage stellen. Das Wachstum muss Grenzen bekommen, sonst verheizen wir alles um uns. Veränderung muss auf zwei Ebenen stattfin­den: Auf dem oberen Weg, indem man ge­sellschaftlich und die Wirtschaft umbaut, aber auch im Graswurzelprinzip, dass im unteren Bereich die ganze Gesellschaft umstrukturiert wird. Weg von den jetzi­gen Konsum- und Produktionsverhältnissen, hin zu einem System, das wieder vor Ort verankert ist. Deshalb habe ich einen leerstehenden Wirtschaftshof übernommen, um zu sehen, wie es funktioniert, eine wirtschaftliche Einheit im landwirtschaftlichen Bereich wieder auf- und die Landwirt­schaft umzubauen.

LaG: Wie blicken Sie auf das heutige Engagement der Letz­ten Generation?

CH: Ich habe keinen persönlichen Kontakt, aber ich sehe natürlich, wie im Bekanntenkreis darüber diskutiert und wie darüber berichtet wird: oft negativ. Davon grenze ich mich ab, trotz vieler Sachen, die man intern kritisieren kann. Man kann jede Bewegung auseinanderkriegen, ge­gen jede Bewegung agitieren, aber ich finde das Engage­ment legitim. Es gibt genug Leute, denen egal ist, was mit der Gesellschaft passiert. Die konsumieren, die sind jedes zweite Wochenende mit dem Flieger unterwegs. Deshalb bin ich auch grundsätzlich dafür, eine Amnestie zu erlas­sen: die Strafverfahren, die stattfinden wegen Blockierung von Flughäfen usw. So etwas muss möglich sein. Ich finde es nicht richtig, wenn man versucht, die Leute über die fi­nanzielle Schraube davon abzubringen.

Man kann immer alles kriminalisieren. Das ist uns auch passiert. Aber: Es ist rechtens, sich zu engagieren. Und auch nicht legale Aktionsformen durchzuführen. Die Welt bricht nicht zusammen, wenn mal Auto­bahnen blockiert werden. Das ist eine total überdrehte Diskussion. Und in dieser auf­geheizten Situation werden auch gewisse Dinge als richtig erachtet, die den Rechts­staat aushöhlen. Präventivhaft ist beispiels­weise eine Sache, die nicht passieren darf. Auch, wenn es total ärgerlich ist, wenn einer ständig auf die Autobahn läuft, wenn sie gerade wieder frei ist, aber der Rechtsstaat ist ein so hohes Gut, dass so etwas nicht möglich sein darf.

JM: Vielen Dank für das Verständnis.

Jana Mestmäcker klebt sich bei einer Protestaktion auf der Straße fest (Foto freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Jana Mestmäcker).

LaG: Die Blockaden als Protestform sind jetzt angespro­chen. Was wollen Sie mit Ihrem Protest erreichen, Jana Mestmäcker?

JM: Letztlich möchten wir eine Politisierung der Menschen erreichen, dass wir es schaffen, unsere Demokratie so zu nutzen – zu erweitern, wenn es sein muss –, dass wir die Katastrophe, dass unsere Le­bensgrundlagen unwiederbringlich zerstört werden, angehen.

LaG: Was meinen Sie mit „Demokratie er­weitern“? Welche Komponenten sollten wir zufügen?

JM: Das ist alles nichts Revolutionäres. Das sind Dinge, die auch im jetzigen Koalitionsvertrag stehen. Der wissen­schaftliche Dienst der Bundesregierung hat auch durch­exerziert, wie wir das machen können. Nur: Ich nehme es so wahr, als würde alles, was aktuell gemacht wird, eher ausprobiert, als wären wir hier nicht in der richtigen Demo­kratie, die jetzt entscheidet, was mit der Menschheit pas­siert, sondern als wären wir beim Planspiel Model United Nations. Was wir vorschlagen (und was auch die Bundes­regierung eigentlich plant), sind Bürgerräte – wir nennen das Gesellschaftsrat. Und das ist eine Erweiterung der De­mokratie, keine Ablösung des Parlaments. Dem Parlament wird die Lösung trotzdem vorgeschlagen und es wird dann darüber entscheiden können.

Es hat sich auch in anderen Ländern, wo es um sehr um­kämpfte Fragestellungen ging, die die Gesellschaft spalten, und wo ein solcher Rat zusammengekommen ist, der Nut­zen davon gezeigt, wenn Menschen an einem Tisch zusam­mensitzen und Zeit haben, sich damit auseinanderzuset­zen. Das macht einen Unterschied zu Volksabstimmungen, wo Menschen eher aus dem Bauch heraus entscheiden – was ich als Psychologin, die sich sehr viel mit Umfragen beschäftigt hat, auch auf jeden Fall ablehnen würde, weil Menschen da keine gut fundierten Entscheidungen treffen. Anders in Räten, wo es Zeit gibt, wo man moderiert wird und wertschätzend miteinander umgeht und wo Exper­tise eingebracht wird. Dadurch wird ein großes Potenzial freigesetzt, zu besseren Entscheidungen zu kommen, die dann auch einen Rückhalt in der Bevölkerung haben, vor allem, wenn wir das medial begleiten.

Denn aktuell ist es ja so: Es ist sehr schwer für die, die in der Regierung sind und im Umweltbereich etwas machen wollen, das durchzusetzen. Ich finde es sehr problema­tisch, wenn es wichtiger ist, in welcher Partei man ist und von wem etwas eingebracht wurde, als das Gemeinwohl, als die Sache, um die es eigentlich gehen sollte. Und wenn Anträge einfach aus Prinzip abgelehnt werden von der Op­position, ist das keine gute Kultur, wenn wir versuchen, ein sehr wichtiges Problem zu lösen.

Ich denke, was sich verändern muss, ist, dass wir das, was wir aufgeschrieben haben, z.B. in unserer Verfassung, das alles, was wir uns vorgenommen haben, wie wir hier leben wollen, von den Werten und Prinzipien her, dass wir das ernst nehmen und regelmäßig überprüfen und danach le­ben. Manchmal ist es schwer greifbar, was alles falsch läuft. Da wird kritisiert, dass wir nicht gegen ein bestimmtes Ge­ setz Widerstand leisten, sondern das „Weiter so“ stören, wenn wir uns auf stark befahrene Straßen setzen. Aber es ist auch eine gewisse Grenzenlosigkeit, die aktuell das Un­recht darstellt, die dazu führt, dass andere Staaten kom­plett vernichtet werden. Und wir möchten gar nicht vor­geben, was genau passieren muss. Aber wir möchten, dass die Lage ernst genommen und angegangen wird. Also eine Besinnung auf die Frage: Ist das richtig, was hier passiert? Ich höre aus der Politik oft die Annahme, es sei im Großen und Ganzen schon okay so. Und da widerspreche ich und sage: Nein, das ist super großes Unrecht, was gerade ge­schieht.

LaG: Verstehe ich Sie richtig, dass Sie dafür plädieren, dass „die Politik“ ihre eigenen Regeln einhält und ernst nimmt? Dass Sie die Umsetzung dessen einfordern, was man sich selbst, auch als Gesellschaft aufgetragen hat?

JM: Zum Teil ist es nur ein Ernstnehmen der eigenen Re­geln, ja. Ich denke, dass die Demokratie da viele Instru­mente hat, um sich selber schützen zu können. Das er­fordert aber ein sehr waches Bewusstsein dafür, wie mittlerweile die Lage ist. Und wir können die Klimakatastrophe ja auch gar nicht komplett überblicken, weil selbst die Menschen, die dazu forschen, jeden Tag wieder geschockt sind, was passiert. Die Si­tuation erfordert also auch ein Eingestehen der eigenen Grenzen; was wir alles nicht wissen können, wo wir dann noch vorsich­tiger handeln sollten. Aber ich sehe nicht, dass diese Instrumente der Demokratie so genutzt werden, dass diese wichtigste Fragestellung – wie kommen wir bis 2030 von fossilen Brennstoffen los – ein­bezogen wird.

CH: Das ist ziemlich interessant. Ich sitze hier im Nord­osten der Republik. Da haben wir das Problem, dass über 20% der Bevölkerung grundsätzlich Protest wählen. Sie verstehen die Aufforderung, weniger zu konsumieren oder auf Flugreisen zu verzichten, als persönlichen Angriff. Und es sitzen Leute in den politischen Vertretungen auf Kreis- und Kommunalebene – nicht, weil sie sich gesellschaft­lich eingebracht haben oder weil sie kompetent sind, son­dern, weil sie einer Protestpartei angehören. Die zeichnen sich durch nichts aus, nur dadurch, dass sie Protest sym­bolisieren. Und die würden natürlich in solchen Gesell­schaftsräten auch eine Stimme bekommen und Einfluss nehmen. Das ist sehr diskutabel.

JM: Die Räte werden ja gelost und sind damit ein Quer­schnitt der Gesellschaft. Da wären auch die 20%, die Pro­test wählen, mit drin. Für mein Menschenbild ist es sehr wichtig, dass wir uns mit allen zusammensetzen und da­durch auch Menschen dazu gewinnen können, sich hinter am Gemeinwohl orientierte Lösungen zu stellen, wenn sie auch mit ihnen ausgehandelt wurden.

CH: Eine ganz schwierige Gemengelage. Die Idee des Quer­schnitts durch die Bevölkerung haben wir ja im Schöffen­system. Da haben wir einerseits das Problem, dass sich nicht genügend Personen zur Verfügung stellen, anderer­seits aber gewisse Personen, die sich längst von der Bun­desrepublik und der Demokratie verabschiedet haben, gezielt versuchen, solche Posten zu übernehmen. Ich woll­te die Idee jedoch nicht diskreditieren. Es ist immer eine wichtige Frage, wie weit ich nur über Parlamente gehe oder mir auch andere Formen schaffe.

LaG: Ich sehe in dem, was wir gerade besprechen, auch eine Konsequenz aus der Politisierung der Gesellschaft, die Sie eingangs gefordert haben. Und die geht natürlich nicht zwangsläufig in die Richtung der eigenen Anliegen.

JM: Genau. Was ich problematisch und schade finde, ist, dass es diese große schweigende Mehrheit gibt, die sich als komplett unpolitisch begreift. Es wären viel mehr Men­schen zu aktivieren, wenn sie merken: In dieser Demokra­tie ist es so, dass ich immer mal wieder in einen Rat gelost werde und dass ich mit­sprechen kann, und dass das eine Ehre ist. Und das könnte sehr viel bewirken, weil ich glaube, dass wir in einer Situation sind, wo es Menschen zuzutrauen ist, über ihr eige­nes Schicksal zu entscheiden. Ich finde es schlimm, dass so wenig mitgedacht wird und die Möglichkeiten derer, die mitgestal­ten wollen, dann oft ins Leere laufen.

CH: Meine damaligen Ideen, mein damaliges Engagement – ich sehe natürlich, dass das ein Kampf gegen Windmühlen war, weil der Konsum und die wirtschaftliche Entwicklung viel stärker und viel schneller sind. Ich beschäftige mich noch immer mit der Frage, was heutzutage eine Bewegung ausrichten kann. Vielleicht zwei Impulse: Wir leben in einer von Arbeitsteilung und Technisierung komplett anders ge­stalteten Welt als damals. In den 1970er Jahren fand ein weitgehender Umbruch statt, der die Technisierung der Arbeitswelt betraf. Heute haben wir zum Teil sehr lange Arbeitswege, Pendelei mit dem PKW ist ein großes The­ma auf dem Land. Hinzu kommt der massiv angestiegene Güterverkehr. Wie man davon wieder weg kommt, ist eine grundsätzliche Frage. Daraus ist bei mir die Idee entstan­den, diesen Wirtschaftshof neuaufzubauen, um zu sehen, was man ganz konkret tun kann. Und wie man auch einen ästhetischen Weg findet, dass Menschen die Schönheit der Landschaft erkennen, wenn diese nicht nur nach industri­ellen Agrarmethoden optimiert ist. Vielleicht ist das ein Zu­gang, Leute zu einem anderen Verhalten zu bringen.

Fahrraddemonstration. © Christian Halbrock

LaG: Sie, Herr Halbrock, haben ja damals an Fahrradde­mos teilgenommen. Sie, Frau Mestmäcker, kleben sich auf Fahrbahnen fest. Haben oder hatten Sie bei diesen Ak­tionen manchmal das Gefühl, Menschen zu erreichen, Sie vielleicht sogar zu politisieren? Oder stießen und stoßen Sie auf Ablehnung?

JM: Bei Ablehnung fühle ich mich jetzt angesprochen. Wir spüren sie auf jeden Fall. Und wir erwarten sie logischer­weise auch, wenn wir Menschen in ihrem Alltag aufhalten.

Ich denke da viel drüber nach. Was ich damit tue, ist, dass sich diese Situation, dass es irgendwo nicht mehr weiter­gehen wird, weil wir an physikalische Grenzen des Pla­neten stoßen, nach denen es nur noch Leid und Tod gibt – und auch keine Demokratie –, dass wir versuchen, diese Krise ins Hier und Jetzt zu holen. Ich weiß, dass Leute die Krise kriegen, weil ich mich da hinsetze oder weil wir Kar­toffelbrei auf ein Gemälde werfen. Aber ich versuche, jetzt eine Situation zu kreieren, die diese negativen Emotionen rausholt, weil dadurch eine Energie entstehen kann. Und letztlich ist die Gesellschaft dann frei, wie sie damit um­geht. Sie können uns wegsperren, dazu hat der Staat die Macht. Oder die komplette Gesellschaft kann medial oder am Abendbrottisch sa­gen: „Wir finden das blöd, wir möchten das jetzt ignorieren oder verurteilen“. – Aber es ist ein Moment der Chance, wo wir uns mit etwas auseinandersetzen und uns positio­nieren können. Und dafür ist der Motor oft Empörung und Wut. Was ich unerträglich finde, ist diese Apathie, mit der wir gerade über die Klippe gehen.

Aber es gibt natürlich auch positive Reak­tionen. Die Videos im Internet zeigen na­türlich in erster Linie, wie Menschen uns von der Straße zerren oder schlagen. Was sie nicht zeigen, sind alle, die nicht aus­steigen, die denken: „Ja, ist jetzt nervig, aber irgendwie kann ich es auch verstehen und finde es legitim“. Und wir haben auch Leute, die sich dazu setzen. Und wir sehen auch viel Dankbarkeit in den Spenden, über die wir uns finanzieren. Das kommt aus der schweigenden Mehrheit heraus, dass Menschen sagen: „Ich kann mir zwar nicht vorstellen, mich auf die Straße zu kleben, aber ich kann mir vorstellen, 50€ im Monat an eine Aktivistin zu geben, die das macht, weil ich es richtig finde“.

Aber ich muss auch akzeptieren, dass in Umfragen 85% der Menschen unsere Protestformen ablehnen. Das war für mich von Anfang an okay, denn das Wichtige für mich ist: Lehnen die Menschen das Anliegen ab? Und da sehe ich erstaunlicherweise z.B. in Kommentarspalten, in denen es nicht zimperlich zugeht, dass Menschen, die wirklich empört sind, schreiben: „Die haben ja in der Sache recht, aber“. Da freue ich mich, wenn ich mich selbst mit dem konservativsten Politiker auf einem Podium darauf einigen kann, dass wir das, was hier gerade passiert, letztlich alle nicht wollen.

CH: Wir hatten damals das eigenartige Phänomen, dass es Protestformen gab, mit denen wir kaum jemand erreichen konnten. In den Unterlagen der Staatssicherheit steht an­lässlich einer Fahrraddemo, an der ich teilnahm, dass es hier erstmals gelungen sei, in breiterem Maße an die Be­völkerung heranzukommen.

Das war etwas ganz Un­gewöhnliches damals. Das Entscheidende daran war das Aufbrechen, also die Beseitigung der Angst in der Gesellschaft und das Erzeugen von Soli­darität. Und das schien nicht schaffbar unter den damaligen Verhältnissen. Aber wir haben es dann tatsächlich an einigen Punkten geschafft. Zum Beispiel bei Mahnwa­chen: Da haben uns Leute aus der Nachbarschaft unter­stützt, indem sie Brötchen vorbeigebracht oder etwas ge­spendet haben. Das war ein Riesenerfolg, nach dem Motto: Gesellschaft lässt sich doch verändern. So­lidarität ist ein wichtiger Aspekt, der sich – anders gelagert – ins Heutige übertragen lässt. Wenn wir uns innerhalb der gesam­ten Gesellschaft solidarisch sehen würden, auch mit allen Erdteilen, dann ist ein „Wei­ter so“ nicht mehr ohne Weiteres möglich. Dieser Gedanke hat heute eine andere Di­mension als damals.

JM: Wir erleben die stärkste Solidarität, wenn der Gegen­wind am größten ist. Als Menschen in Bayern in Präventiv­haft saßen, kamen die meisten offenen Briefe und auch Gruppen, die sich vorher nicht solidarisch gezeigt haben, waren plötzlich da.

Aber natürlicherweise haben Bewegungen eine gewisse Halbwertszeit. Es gibt einen Moment, wo sie sehr widerständig sind und Energie in die Gesellschaft reingeben. Und irgendwann werden sie ruhiger und gehen oft in eine NGO über. Das entspricht – ganz persönlich ge­sprochen – nicht meinem Naturell. Ich möchte immer da sein, wo ich die Dringlichkeit am stärksten sehe. Sobald die Letzte Generation zur NGO würde, würde ich vermut­lich weiterziehen. Mein ursprüngliches Engagement lag im Bereich Menschenrechte, ich bin also nicht ursprünglich vom Klima motiviert. Das kam, weil Klima und Menschen­rechte jetzt so stark verknüpft sind. Doch selbst wenn der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten sein sollte, wird mein Kampf nicht aufhören. Denn es macht einen massiven Un­terschied, wie wir auf einem kollabierenden Planeten mit­einander umgehen, wie wir unsere Ressourcen verteilen. Und deswegen werde ich weiter versuchen, mich einzu­bringen, solange es Dinge gibt, die mich bewegen.

LaG: Herzlichen Dank für das Gespräch!

 

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