Saskia Herklotz ist Zeithistorikerin, Kulturmanagerin und Übersetzerin mit langjähriger Erfahrung in der internationalen Bildungs- und Vermittlungsarbeit. Sie koordiniert das Förderprogramm Jugend erinnert international der Stiftung EVZ.   Annemarie Hühne-Ramm ist Public Historian und seit 2017 Teamleitung bei der Stiftung EVZ. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Jugend im Nationalsozialismus sowie die Analyse und Entwicklung von digitalen und partizipativen Angeboten der historisch-politischen Bildung. Merle Schmidt hat Europastudien und Interkulturelle Kommunikation studiert und ist seit 2019 in der Stiftung EVZ tätig, seit 2022 als Fachreferentin im Cluster „Bilden bewegt Zukunft“. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen internationaler Jugendaustausch und Jugendpartizipation.  

von Saskia Herklotz, Annemarie Hühne-Ramm, Merle Schmidt und Helge Theil

Mit Mitteln des Auswärtigen Amtes hat die Stiftung EVZ bis 2022 die internationale Programmschiene des Bundesprogramms Jugend erinnert umgesetzt. Diese war explizit auf die Förderung internationaler Austausche und Begegnungen an historischen Orten in ganz Europa und Israel ausgerichtet und umfasste zusätzlich eine digitale Komponente. In drei Förderlinien hat die Stiftung EVZ insgesamt 25 internationale Kooperationsprojekte gefördert (von denen einige in dieser LaG-Ausgabe vorgestellt werden).

In der ersten Förderlinie „Bi- und multilaterale Jugendbegegnungen“ wurden Projekte an der Schnittstelle von internationaler Jugendarbeit, historisch-politischer Bildung und Gedenkstättenarbeit umgesetzt. Diese befassten sich in exemplarischer Weise mit der Vermittlung von Geschichte sowie den Möglichkeiten und Grenzen transnationalen Lernens an historischen Orten der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung. Verschiedene Workcamps, Projektreisen, (Online-)Begegnungen und Seminare erprobten in diesem Feld zukunftsweisende Konzepte. Mit aktivierenden, partizipativen Formaten nahm der Bezug zur Lebenswelt junger Menschen eine zentrale Rolle ein. Die Projekte der zweiten Förderlinie „Internationaler Fachaustausch“ zielten auf die Stärkung pädagogisch-didaktischer Kompetenzen zur Vermittlung der NS-Geschichte. Sie haben modellhaft innovative Methoden und Formate der historisch-politischen Bildung mit diskriminierungsarmen und niedrigschwelligen Ansätzen erarbeitet und Teilhabe, Chancengleichheit und Zugangsgerechtigkeit als zentrale Herausforderungen bei der Gestaltung von Bildungsbiografien in zunehmend heterogenen Gesellschaften adressiert. Im Rahmen der dritten Förderlinie „Digitale Formate der Vermittlung“ entstanden Blended-Learning-Konzepte (d.h. integriertes Lernen durch die Verzahnung von klassischen Lernformen und E-Learning) für den internationalen Austausch, virtuelle Angebote für konkrete Gedenkorte, (Prototypen von) Serious Games sowie Apps und (Meta-)Tools, die digitale Methoden mit der Authentizität von Orten und historischen Erfahrungen verbinden. Die Anwendungen befassen sich mit der NS-Geschichte und dem Holocaust. Sie bieten niedrigschwellige und individuelle Zugänge, sich den schwierigen Themen emotional zu nähern. Neben der Entwicklung war grundsätzlich auch die Implementierung, Erprobung und Evaluation der digitalen Formate mit Vertreter:innen der jeweiligen Zielgruppe(n) Bestandteil der Projekte. Durch das Ineinandergreifen der drei Förderlinien und die intensive programmbegleitende Qualifizierung und Vernetzung der Träger bestanden ideale Voraussetzungen für die Breitenwirkung exemplarischer Modellprojekte, nachnutzbarer Konzepte und Formate sowie Meta-Tools, die in verschiedenen Kontexten und an unterschiedlichen historischen Orten der NS-Geschichte zum Einsatz kommen können.

Projektportfolio

Selbst unter den schwierigen Rahmenbedingungen der Covid-19-Pandemie haben die Förderausschreibungen eine beachtliche Reichweite erzielt und unterschiedliche Träger der Jugendarbeit und Gedenkstättenpädagogik sowie der Menschenrechts-, Medien- und kulturellen Bildung erreicht. So konnten zahlreiche neue Akteure für das Feld der historisch-politischen Bildung im Jugendbereich gewonnen und neue internationale Kooperationen etabliert werden. Daraus resultiert eine große Vielfalt der inhaltlichen Themen und Fragestellungen wie auch der methodischen Konzepte, Ansätze und Formate. Die Träger und Teilnehmenden der 25 geförderten Projekte kamen aus mehr als 15 europäischen Ländern mit geografischen Schwerpunkten in Mittel- und Osteuropa (Polen, Tschechien, Belarus), Israel und der Balkanregion. Mit der geografischen Bandbreite der geförderten Projekte und den vielfältigen internationalen Kooperationen korrespondierte eine große Vielfalt der historischen Orte, an und zu denen inhaltlich gearbeitet wurde. Dazu gehörten Museen und Gedenkstätten, Konzentrations- und Vernichtungslager sowie Kriegsgefangenen- und Deportationslager, Orte von Massenerschießungen oder jüdische Ghettos. Die geförderten Projekte nahmen häufig bisher nahezu unbekannte, teils kaum erschlossene Gedenkorte und damit auch wenig beachtete Opfergruppen nationalsozialistischer Verfolgung und Vernichtung wie Sinti:ze und Rom:nja, Zwangsarbeiter:innen, Kriegsgefangene oder Opfer von NS-„Euthanasie“-Morden in den Blick. In vielfältigen Länderkonstellationen machten die Projekte die europäische Dimension der NS-Gewaltherrschaft sichtbar und erfahrbar, nahmen aber auch auf Regional- und Lokalgeschichte sowie auf deren Aufarbeitung Bezug. Zugleich brachten die internationalen, häufig auch interdisziplinären Kooperationen unterschiedliche Bildungshintergründe und -ansätze zusammen und initiierten dadurch Annäherungs- und Verständigungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen. Damit hat Jugend erinnert international einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, multiperspektivische Bildungs- und Vermittlungsansätze zu entwickeln und international zu verankern. 

Lernen und Erinnern in digitalen Räumen

Schon vor der Covid-19-Pandemie spielten virtuelle Räume eine große Rolle im Leben junger Menschen. Corona hat diesen Prozess beschleunigt: Kommunikation, Sozialleben und Freizeitgestaltung, Peer-Kontakte und Lernprozesse finden immer häufiger digital und mediatisiert statt. Phänomene wie ein in vielen Ländern wiedererstarkender Nationalismus, wachsende gesellschaftliche Polarisierung und verschärfte politische Diskurse, Revisionismus oder Geschichtsleugnung und -verzerrung sind auch in virtuellen Räumen zu beobachten. Deshalb muss historisch-politische Bildung auch „im Netz“ stattfinden und digitale Räume eröffnen, besetzen und gestalten.

Neue Formate einer zeitgemäßen Bildungsarbeit

Zugleich haben die pandemiebedingten Reise- und Kontaktbeschränkungen den Wert der persönlichen Begegnung, der physischen Erfahrung, (über-)deutlich werden lassen. Große Chancen für die internationale Jugendarbeit liegen somit im Feld der hybriden oder Blended-Learning-Formate. Eine sinnvolle, kreative und zielgruppenorientierte Verbindung von online und offline, von digital und analog, virtuell und real birgt enormes Potenzial für eine an pädagogischen Zielsetzungen orientierte Weiterentwicklung erprobter und bewährter Konzepte auch in der internationalen Begegnungsarbeit. Angesichts der wachsenden Zahl von Krisen, Kriegen und Konflikten wird es solche Konzepte brauchen, um zivilgesellschaftliche Netzwerke auch über (geschlossene) Grenzen hinweg oder im Exil aufrechtzuerhalten. Das gilt auch für die Gedenkstättenarbeit, in deren pädagogischen Konzepten konkrete historische Orte eine herausragende Rolle für die Gestaltung von Lernprozessen spielen. Hier haben die Jugend erinnert international-Projekte in den vergangenen zwei Jahren wertvolle Erfahrungen gesammelt und innovative Formate entwickelt, die digitale und analoge Komponenten vereinen und eine Brücke schlagen zwischen internationalen Austauschprojekten und lokaler Bildungsarbeit vor Ort. Dies ermöglicht u.a. mehr Mitwirkung der Teilnehmenden bei der Programmgestaltung, verlässlichere Perspektiven für ein Engagement vor Ort und damit eine größere Nachhaltigkeit der Projekte. In Zukunft gilt es, die entstandenen Konzepte weiter auszutesten und anzupassen sowie Fachkräfte der Bildungsarbeit entsprechend zu qualifizieren. Gerade die interdisziplinäre Vielfalt des internationalen Feldes birgt enormes Potenzial für die Ausgestaltung einer zeitgemäßen transnationalen historisch-politischen Bildung. Dafür braucht es die Vernetzung über Fach- und Ländergrenzen hinweg und zugleich Austauschräume und Experimentierfelder, in denen Laborformate entwickelt, erprobt und diskutiert werden und sich unterschiedliche Perspektiven und Ansätze auf Augenhöhe begegnen können.

Erinnerung braucht Verankerung in Raum und Zeit

Die Verfolgung und Vernichtung durch die Nationalsozialisten war allgegenwärtig: Europaweit ist von über 40.000 Konzentrations-, Vernichtungs-, Zwangsarbeitslagern, Haftanstalten, Erschießungsstätten, Ghettos etc. auszugehen, dazu kommen weitere historische Orte wie ausgelöschte Dörfer, (zerstörte) Synagogen oder jüdische Friedhöfe. Zwischen den einzelnen Orten bestanden vielfache Verbindungen – durch Befehlsketten und Deportationsrouten, durch die Lebenswege der Verfolgten und die Berufsstationen der Täter:innen, weil Personal versetzt, „organisatorische Lösungen“ erprobt, adaptiert und übernommen wurden. Insofern stehen viele Opfer- und Täterorte auch über tausende Kilometer hinweg in einer komplementären Beziehung. Allein deshalb kann eine europäische Erinnerung an die NS-Verbrechen nicht nur an einzelnen, emblematischen Orten verankert sein. Vielmehr werden die Dimensionen der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung erst in gesamteuropäischer Perspektive sichtbar und erfassbar – mit Blick auf Orte und Nationen ebenso wie auf unterschiedliche Verfolgtengruppen. In den Erinnerungskulturen Deutschlands und anderer westeuropäischer Länder gibt es jedoch gravierende Leerstellen und blinde Flecken, die es zu schließen gilt. Auch deshalb muss eine zeitgemäße historisch-politische Bildung heute transnational und multiperspektivisch ausgerichtet sein.

In ganz Europa sind Museen und Gedenkstätten wichtige Akteure der Vermittlungs- und Gedenkarbeit. Für eine transnationale europäische Erinnerungskultur und eine grenzüberschreitende, multiperspektivische Bildungsarbeit sollten sie als Lernräume und Begegnungsorte gestärkt und ausgebaut werden, da sie einen enorm wichtigen Zugang darstellen: Die physische, sinnlich-emotionale Erfahr- und Erlebbarkeit der Orte erlaubt eine persönliche Annäherung an die Vergangenheit. Die Auseinandersetzung mit Lokalgeschichte und historischen Alltagswirklichkeiten eröffnet gerade für junge Menschen ohne (familien-)biografischen Bezug zur NS-Zeit durch forschendes Lernen gegenwarts- und lebensweltbezogene Zugänge zur Geschichte. Zugleich stehen viele historische Orte für die (Un-)Sichtbarkeit und (Nicht-)Präsenz der Geschichte im Hier und Heute, sie veranschaulichen abstrakte Phänomene wie Aufarbeitung, Vergangenheitsbewältigung und Erinnerungskultur und zeigen die fortdauernde Wirkmacht der Vergangenheit in der Gegenwart. Nach dem Ableben der letzten Holocaust-Überlebenden werden die historischen Orte als sinnlich-haptisch erfahrbare „physische Zeugnisse“ des Geschehenen und damit der „Raum als dritter Pädagoge“ nochmals wichtiger werden, um lebensweltliche und emotionale Zugänge für nachfolgende Generationen zu gestalten. Dafür braucht es starke Institutionen mit pädagogischer Expertise und internationaler Vernetzung – als Anker einer resilienten Zivilgesellschaft, die Erinnerung trägt, bewahrt und gestaltet.

 

Literatur

Herklotz, Saskia/Theil, Helge: Die Orte können noch „erzählen“. Das Förderprogramm „Jugend erinnert international“ der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft, in: Gedenkstättenrundbrief 09/2021, Nr. 203, S. 17–29.

Weiterführender Link zum Programm Jugend erinnert international.

 

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