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Masternarrative zur deutsch-deutschen Geschichte

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Marie Müller-Zetzsche ist Kulturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Zeitgeschichte. Sie arbeitet sowohl wissenschaftlich als auch kuratorisch und museumspädagogisch zur deutsch-deutschen Geschichte.

Von Marie Müller-Zetzsche

Was die DDR war und wie DDR-Geschichte jungen Menschen vermittelt werden soll, ist nach wie vor umstritten. Wie wir diese Geschichte erzählen, hängt dabei jeweils davon ab, welchen Anfang wir ihr geben. Wer vom Ende der DDR auf ihre Geschichte schaut, erzählt eher eine anklagende Geschichte (siehe zu den Erzählweisen: Jarausch 1995), in deren Zentrum die DDR als SED-Diktatur steht. Das ist in der Geschichtspolitik der 1990er und 2000er Jahre der häufigste Fall. DDR-Bürger*innen kommen in diesen Geschichten vor allem als Dissident*innen oder aber als Stasi-Spitzel vor. Der vielfach diskutierte Begriff „Unrechtsstaat“ bringt das auf eine griffige Formel. Wer dagegen beim Anfang der DDR-Geschichte ansetzt, bei dem, was die historischen Subjekte etwa in den Jahren 1949 bis 1953 wissen und erwarten konnten, erzählt eine andere Geschichte: Sie handelt beispielsweise von Aufbruch, Antifaschismus und dem Ideal einer klassenlosen Gesellschaft. Ihre Subjekte sind häufig Remigrant*innen, Intellektuelle, aber auch „ganz normale“ Menschen der ersten DDR-Generation, ob SED-Mitglied oder nicht. Eine dritte Erzählweise, die zwischen Anklage und Entlastung vermittelt, setzt in der Mitte der DDR-Geschichte an und hat besonders die zweite und dritte DDR-Generation im Blick. Solche Geschichten handeln vom Alltagsleben in der Diktatur, aber auch vom Umgang mit der SED-Herrschaft zwischen Anpassung, Arrangement, Distanz und auch „Eigen-Sinn“ (Alf Lüdtke). Diese Erzählungen sind in einem kollektiven ostdeutschen Gegengedächtnis fest verankert, müssen für die Wissenschaft und die historische Bildungsarbeit allerdings systematisiert und auf konzeptionelle Begriffe gebracht werden. Dazu hat es schon früh gute Vorschläge gegeben: „Mitmachdiktatur“ und „partizipatorische Diktatur“ (Mary Fulbrook) etwa, „Fürsorgediktatur“ (Konrad Jarausch) und „ostdeutsche Gesellschaft“ (Sandrine Kott). 

Meistererzählungen über die DDR und ihre Gegenerzählungen

DDR-Geschichten und -Geschichte werden aber nicht nur in verschiedener Weise mit unterschiedlichen Ausgangspunkten erzählt, sie werden auch in größere Erzählzusammenhänge eingebettet. Lehrpläne und Ausstellungskonzepte betten DDR-Geschichte in Meta-Narrative ein, bei denen es sich häufig um historische Meistererzählungen handelt. Diese mythischen nationalen Erzählungen homogenisieren Erfahrungen, die gesellschaftliche Gruppen trennen. Sie ebnen ethnische, Klassen- und Geschlechterdifferenzen ein. Subjekte der Geschichte gehen in diesen Großerzählungen häufig verloren, Konflikte werden unsichtbar. Für die deutsche Zeitgeschichte sind zwei Anker der historischen Meistererzählung relevant: die moralische Katastrophe des Nationalsozialismus und die Teilung Deutschlands als Folge davon. Die Deutung der DDR findet im Kontext der Geschichte einer unnatürlich geteilten Nation statt. Im dominanten „Erzählmuster“ einer unterdrückten Bevölkerung, die sich 1989 mutig erhebt, ist die DDR lediglich Kontrastbild zu Rechtsstaatlichkeit und Freiheit in Westeuropa (Meyen 2013). Bebildert wird diese Erzählung mit dem Sturm auf die Mauer 1989. Dagegen sperrt sich die in der DDR zentrale Meistererzählung von der Gründung eines neuen, besseren Deutschlands durch überzeugte und kämpferische Antifaschist*innen. Der Antifaschismusmythos der DDR ist eine Gegendeutung zur „Unrechtsstaat“-These. Er hat sich nach 1990 nicht sofort erledigt, auch wenn es seinen Verfechter*innen nicht mehr um den ideologischen Antifaschismus ging. In den oben beschriebenen apologetischen Erzählungen lebt er unter den Stichworten „Aufbruchsgeist“ oder „besseres“ bzw. „anderes Deutschland“ fort. Diese sind in der „Aufarbeitungsszene“ bis heute prekär und schnell verdächtig. Dasselbe gilt aber auch für vermittelnde Erzählungen. Sonia Combe betont, „[…] wie schwierig es ist, die Erinnerungen von Bürgern der Ex-DDR zu integrieren; sobald deren Erinnerungen nicht von Unterdrückung und polizeilicher Überwachung beherrscht werden, verdächtigt man diese, sie würden sich nach der kommunistischen Diktatur sehnen“ (Combe 2011: 246).

Der Widerspruch zwischen der eher politikwissenschaftlichen Makrosicht auf die DDR und den Erinnerungen der DDR-Bürger*innen wird durchaus öffentlich diskutiert. DDR-Deutungen wie „Fürsorgediktatur“ und „Mitmachdiktatur“ sind allerdings wenig in die öffentliche Debatte eingegangen. Für die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung ist „ein unvermitteltes Nebeneinander charakteristisch“: Während sie einen großen Teil der offiziellen Kritik am SED-Regime übernehmen, bleiben sie bei der Überzeugung, „unter ganz anderen Umständen gelebt zu haben“ (Mühlberg 2002: 241). 

Alltagsgeschichte der DDR in Ausstellungen 

In den 1990er und frühen 2000er Jahren übernahmen öffentlich geförderte (Dauer-)Ausstellungen die Aufgabe, DDR-Geschichte vor allem anklagend zu erzählen. Gleichzeitig arbeiteten Akteure wie das Dokumentationszentrum DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt in den 1990er Jahren bereits zum Thema DDR-Alltagsgeschichte. Daneben gab es über lange Zeit ausschließlich private DDR-Alltagsmuseen, die zumeist bloße Sammlungen ostdeutscher Produkte waren. Während solche unter Ostalgie-Verdacht stehenden Orte außerhalb Berlins relativ wenig Resonanz erfahren, gab es um die Ausstellung „Alltag in der DDR“ der Stiftung Haus der Geschichte am Standort Kulturbrauerei in Berlin bereits vor der Eröffnung 2013 einen kleinen Skandal. 20 Jahre nach der Ausstellung in Eisenhüttenstadt handelte es sich hier um die erste öffentlich finanzierte Ausstellung zur Alltagsgeschichte der DDR. Die Konzeption von 2012 verriet aber bereits, dass hier Herrschaftsgeschichte der rote Faden und damit die zentrale Perspektive auf den DDR-Alltag sein würde. In der Gedenkstättenkonzeption des Bundes von 2008 war allerdings festgeschrieben worden, dass die geplante Ausstellung die „Geschichte der Produkt- und Alltagskultur in der DDR nachzeichnet“. Dies war die Bedingung zur Übernahme des Standortes und der prestigeträchtigen Sammlung „Industrielle Gestaltung“ durch die Stiftung Haus der Geschichte. Sie sollte damit „zur kritischen Auseinandersetzung mit dem gegenständlichen Erbe der DDR anregen“. Stattdessen zeigte die Ausstellung nur einen kleinen Bruchteil der Design-Sammlungsobjekte neben einer Vielzahl von Objekten aus ihrer allgemeinen Sammlung. Vor allem aber setzte sie die ausgewählten Design-Zeugnisse in einen politikgeschichtlichen Kontext der SED-Diktatur, der dem eigentlichen Zweck der Sammlung „Industrielle Gestaltung“ entgegenlief. Nach einem offenen Brief der Gesellschaft für Designgeschichte 2012 verpflichtete sich die Stiftung, eine Wechselausstellung zu erarbeiten, die ausschließlich dem Industriedesign in der DDR gewidmet sein sollte. „Alles nach Plan? Formgestaltung in der DDR“ eröffnete 2016 am gleichen Standort.

Vermittlung von DDR-Geschichte empirisch untersuchen 

Um Erzählungen nachvollziehen, gegebenenfalls auch kritisieren oder dekonstruieren zu können, brauchen wir empirische Untersuchungen zu Praktiken der Geschichtsvermittlung: wissenssoziologische Forschung als Feldforschung im Unterricht, bei Museums- und Gedenkstättenbesuchen. Daraus können Erkenntnisse gewonnen werden, die sowohl wissenschaftlich neu als auch für die Bildungsarbeit praktisch nutzbar sind. In einer Studie zur Vermittlung und Aneignung von DDR-Geschichte in Schulklassen in Leipzig, Frankfurt/Main und Paris (Müller-Zetzsche 2020) konnte ich herausarbeiten, dass die Meistererzählung von der deutschen Einheit zwar durch die Vermittlungsmedien im Unterricht eine Rolle spielt, von den Schüler*innen in Deutschland aber kaum aufgegriffen wird. Stattdessen nahmen sie das Engagement der Menschen, die 1989 auf die Straße gingen, rückwärtsgewandt als besonders mutig wahr. Nicht das vermeintliche Ziel der deutschen Einheit beeindruckte sie, sondern die Tatsache, dass sich aus einer Diktatur eine so starke Opposition entwickeln konnte. 

Um erzählen zu können, braucht man eine gewisse Nähe zum Thema. Zeitzeug*innen können die Distanz zum Thema überwinden helfen. Zu einem Zeitzeug*innengespräch, aber auch zum Einsatz von Interview-Auszügen etwa in Ausstellungen oder Dokumentationen gehört Quellenkritik, die im beobachteten Unterricht meistens fehlte. Das große Interesse deutscher Schüler*innen an der DDR-Geschichte, welches zahlreiche Studien belegen konnten, wird in der Unterrichtspraxis nur dann sinnvoll genutzt, wenn Schüler*innen selbst lernen, mit den Aussagen von Zeitzeug*innen genau wie mit Quellen- und Schulbuchtexten zur DDR kritisch umzugehen und widersprüchliche Deutungen zu diskutieren. Wo eine Debatte über widersprüchliche DDR-Deutungen aus Familie, Medien, Schulbüchern usw. fehlt, reagieren Schüler*innen eher mit Abwehr auf die Geschichtsvermittlung. Zu diesem Befund kommen auch Kathrin Klausmeier und Norbert Hanisch. Sie zeigen, wie in ostdeutschen Schulklassen eher zwischen „richtigem“ familiären und „falschem“ schulischen DDR-Wissen unterschieden wird, wenn beide Wissensquellen in Widerspruch geraten, als dass eine Brücke zwischen beiden geschlagen würde. (Klausmeier 2017; Hanisch 2017) 

Im Geschichtsunterricht und in Ausstellungen fehlen Historisierungen der westlichen Staaten in der Geschichte des geteilten Europas. So findet eine Einbettung in die Modernisierungsgeschichte und andere transnationale Fragestellungen nur vereinzelt statt. Das Ziel muss eine Herausforderung eigener Vorurteile und unhinterfragter Bilder sein. Sowohl im Museum als auch im Unterricht wäre zudem ein generationengeschichtlicher Ansatz sinnvoll, gerade um die erste DDR-Generation mit ihrem Aufbauenthusiasmus zu verstehen. 

Literatur

Sonia Combe, Erinnerung und kritische Geschichte in Frankreich und Deutschland, in: Frank Baasner (Hg.), Frankreich-Jahrbuch 2010. Frankreichs Geschichte: Vom (politischen) Nutzen der Vergangenheit, Wiesbaden 2011, S. 145–157.

Norbert Hanisch, „In der Familie hört man es halt richtig, wie sie es selber erlebt haben...". Überlegungen zum Verhältnis von Familie, Unterricht und dem DDR-Bild sächsischer Schüler, in: Jens Hüttmann u. Anna von Arnim-Rosenthal (Hg.), Diktatur und Demokratie im Unterricht: Der Fall DDR, Berlin 2017, S. 100-109.

Konrad H. Jarausch, Die DDR denken. Narrative Strukturen und analytische Strategien, in: Berliner Debatte Initial 6/1995, S. 9–15.

Kathrin Klausmeier, Die DDR war keine Diktatur!? Ergebnisse einer empirischen Studie zu den Vorstellungen Jugendlicher von der DDR, in: Hüttmann, Armin-Rosenthal 2017, S. 88-99.

Michael Meyen, „Wir haben freier gelebt“. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld 2013.

Marie Müller-Zetzsche, DDR-Geschichte im Klassenzimmer. Deutung und Wissensvermittlung in Deutschland und Frankreich nach 1990, Frankfurt/Main 2020.

 

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