Begegnen – aber wie Erinnern?
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Christine Mähler
Der deutsch-israelische Austausch ist geprägt von der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit. Die Nachwirkungen der Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von mehr als 6 Millionen Juden und anderen Minderheiten in Europa zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus sind allzeit präsent – in Familiengeschichten, Identitäten, Begegnungsdynamiken und Auseinandersetzungen mit unserem Leben in der Gegenwart. Wie gehen wir mit dieser Herausforderung in der Austauscharbeit um? Was müssen wir wissen und lernen über uns und andere, über die Geschichte und Gegenwart von Leben und Alltag in unseren Ländern, um mit diesem prägenden Kontext der Geschichte für alle Beteiligten der unterschiedlichen Generationen gemeinsam bedeutungsvolle Begegnungen zu initiieren?
Diesen Fragen stehen wir bei jeder Begegnung junger Menschen aus Deutschland und Israel immer wieder gegenüber. Dabei begleiten uns bestimmte Vorgaben: Zum einen gibt es bilateral verabredete, ‚Gemeinsame Bestimmungen‘ zur Ausrichtung von Begegnungsprogrammen, die dieses Thema als einen wichtigen Baustein zur Vorbereitung und Durchführung von Austauschprogrammen in Deutschland und Israel vorsehen. Zum anderen zeigt die Erfahrung, dass die Begegnung mit der deutschen Geschichte und ihren Auswirkungen auf das Leben in der Gegenwart früher oder später beim Zusammentreffen junger Menschen in Deutschland oder Israel ohnehin passiert: Ein Hakenkreuz an einer Hauswand in Deutschland oder eine deutschsprachige Unterhaltung zweier alter Menschen in Israel – es gibt zahlreiche Gelegenheiten, auf die Gegenwärtigkeit der Vergangenheit aufmerksam zu werden.
Die Begegnung (junger) Menschen in diesem spezifischen binationalen Kontext Deutschland - Israel hält zudem früher oder später Fragen zur jeweiligen individuellen, kollektiven und/oder nationalen Identität bereit: Wer bist Du bezogen auf diese spezifische Geschichte? Was ist Dein Zugang? Wo und wie hat Deine Familie zu dieser Zeit gelebt? Was denkst Du heute darüber? Die Selbstbefragung und die Befragung des jeweils anderen ist Herausforderung und Chance zugleich, die individuelle und kollektive (nationale) Identität vor dem Hintergrund dieser Geschichte zu reflektieren und dabei gegenseitig voneinander und übereinander zu lernen. Es scheint, dass Nationalsozialismus und Holocaust auch 70 Jahre nach den Geschehnissen sowohl in Deutschland als auch in Israel wirksame Faktoren persönlicher wie auch kollektiver Identitätskonstruktionen sind. In deutsch-israelischen Begegnungen kommen sie häufig als Befürchtungen, Stereotype, Projektionen oder vorschnelle Urteile zum Tragen und bedürfen einer allseits sensiblen pädagogischen Bearbeitung.
Auf diese Momente, in denen dann die gemeinsame und doch so unterschiedlich wirksame Geschichte besonders präsent ist, gilt es vorbereitet zu sein – als Projektverantwortliche/r, als Gruppenleiter/in und als Teilnehmer/in eines Austauschprogramms.
Seit 10 Jahren arbeitet ConAct gezielt daran, die Mitwirkenden und Teilnehmenden von Austauschprogrammen zu ermutigen, die Auseinandersetzung mit der Geschichte, das Erinnern an die Geschehnisse und das Gedenken der Opfer als einen Prozess aufzufassen, den es gemeinsam zu gestalten gilt. Ziel muss es sein, gemeinsam einen Prozess der Auseinandersetzung und des Gedenkens anzuregen, der für alle Beteiligten – ungeachtet ihrer unterschiedlichen kulturellen, religiösen oder ethnischen Herkunft – bedeutungsvoll ist.
Um dies zu erreichen, bedarf es eines kontinuierlichen Dialogs zwischen den Verantwortlichen und Multiplikator/innen deutsch-israelischer Austauscharbeit - zur Bearbeitung der Geschichte in den Gesellschafts- und bildungspolitischen Diskursen beider Länder einerseits und zu ihren eigenen Bezügen zu dieser Geschichte andererseits. Für diesen Prozess kann die gemeinsame Bearbeitung folgender Fragen in sechs Arbeitsschritten hilfreich sein:
1. Eigene Bezüge und persönliche Interessen reflektieren.
In der Vorbereitung des Austauschprojekts sollten die Verantwortlichen sich selbst und die anderen Mitwirkenden im bilateralen Team befragen: Welche Bedeutung hat die Geschichte von Nationalsozialismus und Shoah für mich? Was sind meine persönlichen Berührungspunkte & Zugänge? Was bedeuten diese für den deutsch-israelischen Kontext und die Austauscharbeit, die ich verantworte?
2. Gemeinsame Auseinandersetzung & Planung mit dem israelischen Partner suchen.
Damit später die Teilnehmenden des Austauschprojekts Wege finden können, sich auf eine gemeinsame Beschäftigung mit der Geschichte einzulassen und womöglich eine gemeinsame Form des Gedenkens an die Opfer zu entwickeln, müssen sich zunächst die Projektverantwortlichen folgenden Fragen gemeinsam stellen: Welche gemeinsamen Ziele verfolgen wir mit der Bearbeitung des Themas Nationalsozialismus und Shoah in unserem Austauschprojekt? Welche geschichtlichen Inhalte wollen wir an welchem historischen Ort behandeln und welche fachkundige, pädagogische Hilfestellung beziehen wir – beispielsweise in einer Gedenkstätte – hierfür hinzu? Welche Arbeitsschritte und Methoden wählen wir aus? Wie wollen wir anstehende Fragen und Themen rund um eine mögliche gemeinsame Gedenkzeremonie aufgreifen? Wie können wir den bilateralen Prozess der Teilnehmenden zu diesem Thema bestmöglich begleiten?
3. Bilder, Vermutungen, Unbehagen, Ängste thematisieren.
Sowohl bei den Projektverantwortlichen aus beiden Ländern wie auch bei den Teilnehmenden ist die Geschichte und ihre Gegenwärtigkeit mit Bildern und Vermutungen über die jeweils andere Seite verbunden. Besonders zwischen den Projektverantwortlichen sollten Unsicherheiten, die sicher hieraus ergeben offen angesprochen werden: Welche Bilder, Vermutungen, Ängste trage ich mit mir herum? Wie & wann kann ich diese offen ansprechen? Wie kann ich sie abbauen und durch Zuhören und aktuelle Wahrnehmungen authentisch ersetzen?
4. Gespräche ermöglichen.
Miteinander reden ist in diesem schwierigen inhaltlichen Feld der Schlüssel, um zueinander zu finden und gemeinsam die Begegnung zu gestalten. Um offen miteinander reden zu können, bedarf es einer vertrauensvollen Atmosphäre – zunächst zwischen den Projektpartner/innen, damit diese dann eine solche Atmosphäre auch für die Begegnung der deutschen und israelischen Jugendlichen schaffen können. Zwei Schritte sind also notwendig:
Zunächst gilt es, eine Gesprächsatmosphäre schaffen, die offene und persönliche Fragen zulässt. Im Folgenden gilt es, offensiv Gesprächsgelegenheiten schaffen, damit die Gruppe miteinander sprechen kann und diese bestmöglich zu moderieren.
5. Individuelle Sichtweisen und Zugänge zulassen und stehen lassen.
In der gemeinsamen Arbeit an Fragen zur Bedeutung der Geschichte für junge Menschen in der Gegenwart, aber auch für Fachkräfte und Gruppenleiter/innen gibt es kein ‚richtig‘ oder ‚falsch‘. Es ist wichtig, Wahrnehmungen, Einschätzungen, emotionale Äußerungen anzunehmen, aufzugreifen, stehen zu lassen aber nicht zu bewerten. Nur auf diesem Wege kann ein Prozess entstehen, an dessen Abschluss deutsche und israelische Jugendliche nach gemeinsamer Überlegung für sie bedeutungsvolle Ausdrucksformen für ein gemeinsames Erinnern und Gedenken finden.
6. Eigene Projektionen offen legen.
Bei den heutigen Jugendlichen handelt es sich um die sog. Dritte oder gar Vierte Generation nach der Geschichte von Nationalsozialismus und Shoah.
Forschungen und Erfahrungen zeigen, dass Interessen und Zugänge der Jugendlichen zu dieser Geschichte heute andere sind, als die der Austauschverantwortlichen, die vielfach der sog. Zweiten Generation angehören. Daher gilt für die Fachkräfte im Austausch die Anregung, wachsam zu sein: Was sind meine eigenen Wahrnehmungen, Einschätzungen, Ängste, Befürchtungen? Welche von diesen übertrage ich womöglich zu Unrecht auf die Gruppe der Jugendlichen? Wo nehmen meine Bedeutungszusammenhänge Einfluss auf den Prozess der Auseinandersetzung, den ich stärker den Jugendlichen überlassen sollte?
Neben diesen generellen Herausforderungen für ein gemeinsames Erinnern und Gedenken im deutsch-israelischen Jugendaustausch halten gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland und Israel der letzten Jahre besondere Herausforderungen bereit: Mehr und mehr wird die multikulturelle Zusammensetzung in der deutschen und israelischen Gesellschaft auch im deutsch-israelischen Jugendaustausch wirksam. In israelischen Gruppen sind jüdische Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte aus zahlreichen Ländern vertreten, zudem arabische und drusische Teilnehmende. Auf deutscher Seite haben Teilnehmende ebenfalls vielfach Zuwanderungsgeschichte aus anderen Ländern Europas, aus Asien oder auch arabischen Staaten.
Die bewusste Ausrichtung der pädagogischen Arbeit im deutsch-israelischen Jugend- und Fachkräfteaustausch auf multikulturell zusammengesetzte Gruppen aus Deutschland und Israel bedeutet eine Veränderung und Herausforderung: Wo einstmals jüdische Israelis mit jungen Herkunftsdeutschen zusammen kamen, um Brücken über die trennende Vergangenheit zu bauen, treffen heute vermehrt junge Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Herkünften und persönlichen Geschichten aus beiden Ländern aufeinander. Wo einst eine spezifische Dynamik deutsch-israelischer Begegnungen sehr präsent war, in der das Miteinander schnell auf der Folie der ‚Nachkommen von Opfern‘ und ‚Nachkommen von Tätern‘ erlebt wurde, werden heute viele Zugehörigkeiten und Facetten von Kultur und Identität wirksam. Wo sich einerseits historisch gewachsene und begründete Begegnungsdynamiken fortschreiben, verändern sie sich gleichzeitig durch gesellschaftlich-kulturelle Wandlungsprozesse im Lebensalltag beider Länder. Es scheint, dass gerade die Gleichzeitigkeit dieser Phänomene - der historisch begründeten Besonderheit des deutsch-israelischen Jugendaustausches und eine hieraus entstehende spezifische Gruppendynamik einerseits und die gesellschaftlich-kulturellen und generationenbedingten Veränderungen und sich hieraus neue begründende Begegnungsdynamiken andererseits - die pädagogische Arbeit in den nächsten Jahren bestimmen wird.
Wir sind gespannt auf Beobachtungen und Einsichten, die sich aus den hier skizzierten Informationen, Gedanken, Ideen und Hinweisen ergeben werden. Wir freuen uns über Berichte und Dokumentationen von Austauschprogrammen, die gerade im Hinblick auf die hier aufgeworfenen Themen interessant auch für andere sein können!
ConAct – Koordinierungszentrum Deutsch-Israelischer Jugendaustausch
ist Service-Zentrum und Info-Knotenpunkt für die Jugendkontakte zwischen Deutschland und Israel.
Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fördert ConAct Begegnungsprogramme, Kleinprojekte und Hospitationen im Feld der Kinder- und Jugendhilfe in beiden Ländern. ConAct berät bei der Planung deutsch-israelischer Jugend- und Fachkräftebegegnungen, vermittelt Kontakte zwischen Projektpartnern und führt eigene Veranstaltungen zur Weiterentwicklung des Jugendaustausches durch. Als Einrichtung des Bundesjugendministeriums arbeitet ConAct bundesweit, wird unterstützt durch die Länder Sachsen-Anhalt und Mecklenburg Vorpommern und hat seinen Sitz in Lutherstadt Wittenberg, angeschlossen an die Ev. Akademie Sachsen-Anhalt. Partner in Israel ist die Israel Youth Exchange Authority.
ConAct im Internet
www.ConAct-org.dewww.exchange-visions.de
www.Kom-Mit-Nadev.org
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- 12 Mär 2014 - 09:20