Im Gedenken der Kinder
Von Annemarie Hühne
Der deutsch- und englischsprachige Katalog zur Ausstellung „Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ veröffentlicht neben Texten und Bildern der Ausstellung auch vier wissenschaftliche Aufsätze zu dieser Thematik. Die Ausstellung wurde von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ) in Auftrag gegeben und erstmals im September 2010 auf der 106. Jahrestagung der DGKJ in Potsdam präsentiert. Zu diesem Anlass fand auch eine zentrale Gedenkfeier zur Erinnerung an die Opfer der Kinder-„Euthanasie“ statt. Die dort verlesene Erklärung der DGKJ ersetzt im vorliegenden Band eine inhaltliche Einleitung. Die zentrale Aussage der Erklärung war: „Wir bekennen die geistige Miturheberschaft und das aktive Mittun von Kinderärztinnen und Kinderärzten an diesen Verbrechen;“ – womit sich die Vereinigung klar zu einer Mitschuld bekannte und mit der gezeigten Ausstellung zur Aufarbeitung der eigenen und deutschlandweiten NS-Vergangenheit einen Beitrag leisten will.
Reichsausschuss
Auf die Erklärung folgen verschiedene Aufsätze zum Thema „Euthanasie“ im Nationalsozialismus, sowie Texte über die Verbrechen an Kindern. Einleitend schildert Sascha Topp die Funktion der Tarnorganisation „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ mit Sitz in der „Kanzlei des Führers“ in Berlin. Die Schaffung dieser institutionalisierten Ebene sollte verhindern, dass einzelne Personen, die die Organisation der „Euthanasie“-Verbrechen planten, persönlich in der Öffentlichkeit auftraten. Ein weiterer Schritt in den Planungen war ein Runderlass des Reichsministeriums im August 1939 an die Landesregierungen. Diese mussten demnach Kinder mit bestimmten angeborenen Leiden melden. Neben den politischen Planungen des NS-Tötungsprogrammes versucht Topp auch die Rolle der Eltern wiederzugeben. Für ihn ist diese in einer „Gratwanderung […] zwischen ‚Wahrnehmung und Verdrängung des Schrecklichen‘“ (S.19) anzusiedeln.
„Aktion T4“
Petra Fuchs schildert Kinder und Jugendliche als einen Teil der Opfer im „T4“-Programm. Grundlagen ihrer Erkenntnisse beruhen auf in den 1990er Jahren wiedergefundene Patient/-innenakten. Auf diese Akten stützt sich ihre Hauptaussage, dass es keine strikte Trennung zwischen der Tötung von minderjährigen oder erwachsenen Menschen gab. Zwar erfolgte die Auswahl von Jugendlichen verstärkt mittels ihrer schulischen Leistungen, aber grundsätzlich unterlag diese „Selektion“ einem wirtschaftlichen Gedanken. Die Täter/ innen hinterfragten die Arbeitsfähigkeit und damit den ökonomischen Nutzen eines jeden Menschen.
Brandenburg-Görden
Die Autorin und der Autor des folgenden Artikels beschreiben die Geschichte des Gebäudes in Brandenburg-Görden und dessen Entwicklung zum Ort der NS-„Euthanasie“. Auch für Thomas Beddies und Kristina Hübner sind Patient/-innenakten die Grundlage. Bei diesen ist zu erkennen, dass nur wenige der getöteten Kinder und Jugendliche das Verfahren des Reichsausschusses durchlaufen haben, so dass die Ermordung in vielen Fällen vor Ort entschieden wurde. Die meisten Kinder sind aufgrund von „aktiv oder passiv […] unterlassene(r) Behandlung und mangelnde(r) Pflege getötet worde(n)“ (S.34), was die hohe Sterbequote an diesem Ort, der ursprünglich nur für die „Selektion“ bestimmt war, erklärt. In den folgenden wissenschaftlichen Artikeln werden Experimente an Kindern in der psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg, aber auch in Konzentrationslagern thematisiert.
Ausstellung
Der Weg hin zu den „Euthanasie“-Verbrechen an Kindern wird anhand von Schilderungen von Arisierungen und Gleichschaltungen in der Kinderheilkunde sowie an ersten eugenischen Zwangssterilisationen aufgezeigt. Zum einen wird auch hier die Systematisierung der Krankenmorde im Zusammenhang mit dem Reichsausschuss vorgestellt, zum anderen werden ebenso Orte der dezentralen „Euthanasie“-Verbrechen benannt. Dabei wird zwar auch die Tötungsanstalt in Hadamar beschrieben, aber besonders im Mittelpunkt stehen die Einrichtungen, die oftmals den ersten Kontakt mit den Opfern hatten. Die gezeigten Orte lagen in verschiedenen Regionen im damaligen Reichsgebiet, zum Beispiel die „Brandenburgische Idiotenanstalt“ in Lübben, die Heil- und Pflegeanstalt in Kaufbeuren und die Jenaer Universitäts-Kinderklinik. Besonders hervorzuheben ist hier die namentliche Benennung der Täterinnen und Täter. Die Praxis in diesen Einrichtungen wird mithilfe vieler Originaldokumente dargestellt wie Personal- und Patient/-innen-Akten und Schriftverkehr zwischen den Institutionen und dem Reichsausschuss, aber auch mit den Eltern. Weitere Themen der Ausstellung und der dazugehörigen Publikation sind die Ermordungen von Kindern der „Ostarbeiter/-innen“ in Hadamar und medizinische Experimente an Minderjährigen.
Fazit
Die Ausstellung und der dazugehörige Katalog sind ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung der Geschichte der „Euthanasie“-Verbrechen allgemein, dient aber auch ein weiteres Mal als Beleg, dass die ideologischen Verbrechen der Nationalsozialisten nicht vor Kindern und Jugendlichen zurückschreckten. Die Vielzahl an Unterthemen und benannten Orten von beiden Präsentationsformen zeigen den dezentralen Charakter der „Euthanasie“-Verbrechen anhand von wissenschaftlichen Texten, Originaldokumenten und Fotografien.
Derzeit ist die Ausstellung noch bis zum 20. Mai 2012 in der Topografie des Terrors in Berlin zusehen. Dort kann auch der Ausstellungskatalog erworben werden. Außerdem ist der Katalog auch für 12 Euro im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-00-036957-5).
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- 16 Mai 2012 - 07:43