Wie andere Beiträge in dieser LaG-Ausgabe bereits gezeigt haben, hat die Auseinandersetzung mit den familiären, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen von nationalsozialistischer Täterschaft in den letzten Jahren zugenommen. Diese begrüßenswerte Entwicklung wird auch und insbesondere von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme intensiv vorangetrieben. Am Anfang der Ausgabe berichtet Oliver von Wrochem von den Recherche- und Gesprächsseminaren in Neuengamme, in deren Rahmen Menschen zur Belastung ihrer Vorfahren forschen können und die Möglichkeit haben, die gewonnenen Informationen im Gespräch zu verarbeiten. Ebenfalls in Neuengamme fanden im Jahr 2013 zwei wissenschaftliche Konferenzen statt, die sich dem Umgang mit NS-Täterschaft widmeten. In der jüngeren Vergangenheit ist viel Arbeit geleistet worden, sodass es an der Zeit scheint, eine Zwischenbilanz zu ziehen.
Eben dies tut Oliver von Wrochem als Herausgeber des Sammelbandes „Nationalsozialistische Täterschaften“ aus der „Reihe Neuengammer Kolloquien“. 34 Beiträge in fünf Kapiteln sowie eine DVD mit elf filmischen Porträts greifen den vielfältigen Umgang mit NS-Verbrechen auf. Die ersten drei Kapitel basieren auf den beiden Fachkonferenzen, während die Kapitel vier und fünf auf Grundlage der Seminare und der dabei rekonstruierten Biografien entstanden sind.
„Das öffentliche, gesellschaftliche und das familiäre Erinnern an den Nationalsozialismus steht in einem Wechselverhältnis zueinander“ (S. 11), so die eingangs formulierte Grundthese des Bandes. Um dieser Annahme systematisch nachzugehen, ist das Buch sinnvoll strukturiert in die Bereiche „Forschung und Gesellschaft“, „Bildung und Gesellschaft“, „Literatur, Film und Erinnerungsgemeinschaften“, „Auseinandersetzungen mit der Täterschaft der Eltern“ sowie „Auseinandersetzungen mit der Täterschaft der Großeltern“ unterteilt.
Das erste Kapitel setzt sich mit der aktuellen Täterforschung sowie ihren Begrifflichkeiten, Periodisierungen und Grundannahmen auseinander. Es befasst sich mit gesellschaftlichen Widerständen gegen die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen in der alten Bundesrepublik und ergründet NS-Täterschaft sowie den individuellen Umgang mit ihr anhand zusätzlicher Analysekategorien wie etwa Geschlecht und Alter.
Sehr anschaulich zeichnet etwa Gerhard Paul die Veränderungen des Bildes von Täter_innen in Wissenschaft und Öffentlichkeit am Beispiel von Adolf Eichmann und Rudolf Höß nach. Täter-Bilder waren demnach in den mehr als 70 Jahren seit Kriegsende erheblichen Schwankungen unterworfen. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren galten NS-Täter_innen als Dämonen und Psychopathen, „die über die Deutschen hineingebrochen waren, gleichsam als exterrestrische Wesen, mit denen die deutsche Gesellschaft nichts gemein hatte“ (S. 57). Der sprachlich aufgeladene Diskurs wurde zu einem großen Teil von ehemaligen KZ-Häftlingen, Journalist_innen und den Ankläger_innen der Nürnberger Prozesse geprägt.
1961 jedoch markierte der israelische Prozess gegen Adolf Eichmann eine Wende. In den Medien begann sich nun die Deutung als pflichtergebener Schreibtischtäter, als „Mordbeamter“ (S. 59) in passiver Täterschaft, durchzusetzen. Diese Wahrnehmung fußte auch auf dem Auftreten Eichmanns, der sich selbst während des Prozesses als unterwürfiger Aktenwurm von „rätselhafte[r] Gewöhnlichkeit“ (S. 61) inszenierte. Auch die Forschung nahm dieses Narrativ weitgehend an, und so avancierte der „Schreibtischtäter“ zur „wohlgefälligen und langlebigen […] Entschuldungsfigur der Nachkriegsgesellschaft“ (S. 62.). Die Autobiografie von Rudolf Höß sowie ihre Rezeption verfestigten das Bild des initiativlosen Beamten weiter und trugen dazu bei, dass es auch in der heutigen Gesellschaft nach wie vor Bestand hat, auch wenn die Geschichtswissenschaft seit den 1990er-Jahren intensiver zu den Entscheidungsspielräumen der „Schreibtischtäter“ forscht und diese Deutung von dieser Seite aus nicht mehr zeitgemäß ist.
Das zweite Kapitel arbeitet Grundlagen und Potentiale von historisch-politischer Bildungsarbeit im Umgang mit Täterschaft heraus. Sehr interessant sind zwei Beiträge von Thomas Köhler und Uta George zu berufsgruppenspezifischer Bildungsarbeit, zeigen sie doch eindrucksvoll, wie die Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen auch für Menschen ohne familiäre Belastung für das eigene Handeln relevant sein kann.
Köhler berichtet von Seminaren in der Villa ten Hompel in Münster, deren Ziel es ist, durch die Auseinandersetzung mit der Rolle der Polizei im „Dritten Reich“ Polizist_innen Denkanstöße für ihr eigenes Berufsbild zu geben. Überblicksartig zeichnet er die Selbstwahrnehmung und Außendarstellung der Polizei im Verlauf des 20. Jahrhunderts nach, um die daraus resultierenden Herausforderungen für die Arbeit mit den Seminarteilnehmer_innen zu benennen.
Demnach brachten die Protestbewegungen der 1950er- und 1960er-Jahre ein seit Jahrzehnten bestehendes elitäres Selbstbild ins Wanken, wonach die Polizei aktiv Einfluss auf die Entwicklung von Staat und Gesellschaft nehmen könne. Der im Zuge darauf einsetzenden Reformierung der Polizei in stärkerer Anlehnung an die Bürgerrechte wurde in Reaktion auf den Terrorismus der RAF ein vorläufiges Ende gesetzt. Der „Leitgedanke […] einer aufgerüsteten Polizei als Bürgerkriegsarmee“ (S. 152) etablierte sich erneut, wenngleich diese Periodisierung vor dem Hintergrund der bereits 1968 erlassenen Notstandsgesetze durchaus streitbar ist. Erst seit den 1980er-Jahren ist die Entwicklung einer sich öffnenden Polizeikultur erkennbar und mit ihr die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit der Institution, nicht zuletzt im Rahmen der Ausbildung.
Bei den Seminaren in der Villa ten Hompel werden Polizist_innen anhand einer Dauerausstellung mit dieser Vergangenheit konfrontiert. Die sich aufdrängenden Fragen und Diskussionen, etwa nach der potentiellen eigenen Reaktion auf verbrecherische Befehle, können möglicherweise das unstete Wertegerüst der Polizei nachhaltig beeinflussen. Ziel der Seminare ist daher eine Stärkung der „humanen Autonomie“ (S. 155) sowie die Entwicklung neuer, nicht hierarchisch angeordneter Denk- und Handlungsmuster.
Der Beitrag von Uta George bezieht sich auf die Bildungsarbeit zu Täter_innen der ehemaligen Landesheilanstalt Hadamar in Hessen, wo alleine im Jahr 1941 mehr als 10.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung vergast wurden. Seit 1983 ist das Krankenhaus eine Euthanasie-Gedenkstätte. Heute werden dort Seminare veranstaltet, vorwiegend für Schüler_innen von Kranken- und Altenpflegeschulen, aber auch für Mitarbeiter_innen aus dem Bildungsbereich.
In den Seminaren drängen sich wie auch bei den Polizist_innen Fragen nach den eigenen Handlungsmöglichkeiten in einem hierarchischen Umfeld auf, ebenso wie Aspekte von Menschenwürde und Inklusion. Die Teilnehmer_innen studieren die Aussagen ehemaliger Angestellter der Heilanstalt in den Prozessen der Nachkriegszeit. Die Argumente der Täter_innen werden nach Berufsgruppen separiert (Ärzt_innen, Krankenpfleger_innen, Verwaltungsbeamt_innen) und in der Runde diskutiert. Auffällig ist dabei das große Verständnis, das die Teilnehmenden, auch aus dem Bildungsbereich, immer wieder für das Handeln der Täter_innen entwickeln. Hier spiegelt sich auch ein Teil der deutschen Erinnerungskultur wieder, in der etwa Erlösungsphantasien („Vielleicht war der Tod für die Kranken das Beste“) oder der niedrige soziale Status von Menschen mit Behinderung auch heute noch in die Beurteilung von Euthanasie-Verbrechen einfließen.
Das dritte Kapitel thematisiert die Darstellung von NS-Täterschaft in autobiografischen Dokumentarfilmen oder autobiografischer Literatur, aber auch in regionalen sowie familiären Erinnerungsgemeinschaften. Es zeigt sich unter anderem, wie oftmals verharmlosende Narrative zu Täterschaft in der eigenen Familie existieren, während gleichzeitig „die geschichtspolitische Anerkennung der NS-Verbrechen […] als gesellschaftliche[r] Konsens“ (S. 14) akzeptiert wird.
In den Kapiteln vier und fünf kommen schließlich Nachkommen ehemaliger Täter_innen zu Wort. Sie berichten über ihren eigenen Umgang mit der Täterschaft der Eltern oder Großeltern, über die eigene Flucht in die wissenschaftliche Literatur, über Fortbestehen von NS-Ideologie in der Familie und das Problem des Nicht-Bedauerns. Die Rolle der Eltern als Vermittlungsinstanz zwischen Enkeln und Großeltern wird ebenso aufgegriffen wie Probleme bei der objektiven Recherche der eigenen familiären Belastung.
Die beiliegende DVD knüpft an die letzten beiden Kapitel an, porträtiert elf der beteiligten Autoren und geht auf der Grundlage von Interviews mit Nachkommen weiteren Fragen im Umgang mit familiärer NS-Belastung nach.
Mit dem Sammelband „Nationalsozialistische Täterschaften“ ist ein komplexes Werk entstanden, das einen multidimensionalen Blick auf den Umgang mit NS-Täterschaft in verschiedensten Bereichen von Forschung, Bildung und Gesellschaft sowie den beobachtbaren Wechselwirkungen zwischen diesen wirft. Das Buch ist damit besonders für Akteure der historisch-politischen Bildung interessant, die über die Grenzen ihres gewohnten Tätigkeitsbereiches hinausschauen und sich über die Arbeit ihrer Kollegen informieren wollen. Nicht zuletzt bieten die Porträts Zugang zum Innenleben der Nachkommen von NS-Täter_innen und reflektieren auf ehrliche Weise Aufarbeitungs-, Bewältigungs- sowie Verdrängungsmechanismen.
Oliver von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Metropol Verlag, Berlin 2016. 534 Seiten + DVD, 24 Euro.