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Umgang mit nationalsozialistischen Täterschaften und Verfolgungserfahrungen in Familie und Gesellschaft – zur Arbeit mit Nachkommen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Oliver von Wrochem ist Historiker und seit 2009 Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Von Oliver von Wrochem 

Mit der zunehmenden zeitlichen Distanz zum Nationalsozialismus ist in den vergangenen Jahren eine Verschiebung des Interesses in Wissenschaft und Gesellschaft festzustellen: Standen bisher die nationalsozialistischen Täterschaften im Fokus, gibt es inzwischen eine hohe Bereitschaft, sich mit den familiären und gesellschaftlichen Folgen von Täterschaften und Verfolgung im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Meine bilanzierenden Überlegungen basieren auf Erfahrungen aus der Arbeit mit Nachkommen von Verfolgten und Täternachkommen an der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie auf Forschungen zu NS-Täterschaften und NS-Verfolgung.

Rechercheseminare in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme

Zwischen 2003 und 2006 wurde die KZ-Gedenkstätte Neuengamme umgestaltet und erweitert: In diesem Zeitraum wurden die Folgewirkungen von Täterschaft und Verfolgung für die zweite und dritte Generation in den Blick genommen und Interviews mit Nachkommen beider Gruppen geführt. Ihre Perspektive fand anschließend Eingang in die neue Hauptausstellung sowie die Ausstellung über die Lager-SS des KZ Neuengamme.

2009 bot die Gedenkstätte erstmals Rechercheseminare an, in denen sich Interessierte mit der Frage beschäftigen, was ihre Verwandten im Nationalsozialismus getan bzw. erlebt haben. Neben Nachkommen von Täterinnen und Tätern nehmen regelmäßig auch Verfolgtennachkommen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie weitere Interessierte daran teil. Daneben etablierte die Gedenkstätte verschiedene Gesprächsangebote, darunter ein Seminar, das sich an Täternachkommen richtet, die sich intensiver mit NS-Täterinnen und Tätern und den Folgewirkungen von Täterschaft in der eigenen Familie auseinandersetzen wollen. Dieses Seminar stößt auf regen Zuspruch – die Nachfrage war zuerst deutlich größer als die nach Gesprächsangeboten für Nachkommen von NS-Verfolgten – was nicht zuletzt darin begründet ist, dass in Deutschland wesentlich mehr Nachkommen von Täterinnen und Tätern als von Verfolgten leben. Dass Nachkommen von NS-Täter_innen verstärkt Fragen zu ihrer eigenen Familiengeschichte stellen, ist ein Ergebnis der Forschungen zur NS-Volksgemeinschaft und zu den Täterinnen und Tätern, die seit den 1990er Jahren stetig zunehmen. Vorher waren es vor allem die Kinder und – seltener – Enkel von prominenten Nazigrößen, die sich die Frage stellten, wie sie mit dem familiären Erbe umgehen sollen. Die Frage „Was haben meine Verwandten im Nationalsozialismus getan?“ stellen sich nun auch Nachkommen von Mitläuferinnen und Mitläufern, Zuschauerinnen und Zuschauern. Zudem nimmt die Auseinandersetzung mit Mittäterschaft und Kollaboration in ehemals von Deutschland besetzten Ländern zu, mit der Folge, dass in diesen Ländern Fragen nach familiengeschichtlichen Bezügen zu NS-Verbrechen laut werden.

Es bestand eine Zeit lang die Sorge, dass mit der stärkeren Aufmerksamkeit für die Ursachen und Folgen von Täterschaft und die Arbeit mit Täternachkommen die Aufmerksamkeit für das Schicksal der Verfolgten und deren Nachkommen in den Hintergrund treten könnte. Doch hat sich diese Sorge als unbegründet herausgestellt. So hat sich durch Internationalisierung und Vernetzung (z.B. im jährlich stattfindenden Forum „Zukunft der Erinnerung“ und im Blog „Reflections on Famliy History affected by Nazi Crimes“ aber auch in Seminaren und Tagungen) die Arbeit mit Angehörigen von Verfolgten zu einem festen Bestandteil der Arbeit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme entwickelt. Zudem machen die Angebote für Nachkommen von Verfolgten und von Täterinnen und Tätern keineswegs der Arbeit mit anderen Zielgruppen Konkurrenz, vielmehr eröffnen sie Fragestellungen, die für alle Besuchergruppen relevant sind und die Gedenkstättenarbeit insgesamt bereichern.

So lassen sich aus der Arbeit mit Täternachkommen ebenso wie aus der Arbeit mit Verfolgtennachkommen Perspektiven gewinnen für die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg, darunter auch in globalgeschichtlicher Dimension. Ähnlich wie der Kolonialismus und der Stalinismus wirken die Folgen des Nationalsozialismus bis in die Gegenwart weiter – und zwar weltweit, in Deutschland, in den besetzten Ländern, in den so genannten neutralen Staaten, aber auch in der so genannten Dritten Welt, sowohl in Gesellschaften wie in Familien.

Unterschiede der Nachkommen von Täter_innen und Verfolgten

Es gibt einen ganz wesentlichen Unterschied zwischen Täter- und Verfolgtennachkommen: Während erstere bis heute in ihrer Mehrzahl eher ungern auf ihre Familiengeschichte schauen und in ihrer Sozialisation kaum mit der Täterschaft in der eigenen Familie konfrontiert werden, bildet die Auseinandersetzung mit den Folgen der NS-Gewalt bei Nachkommen von Verfolgten meist einen wichtigen Teil ihrer lebensweltlichen Orientierung. Zumal wenn Verwandte ermordet wurden, können Nachkommen von Verfolgten oftmals ihrem familiären Erbe gar nicht ausweichen. Während es für letztere Gruppe selbstverständlich ist, die eigene Familiengeschichte in der Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus und seiner Verbrechen zu verorten, fehlt diese Verortung bei den meisten Täternachkommen. Sie erkennen die Verbrechen zwar an, dekontextualisieren sie jedoch, indem sie ausblenden, dass die Verbrechen von Menschen begangen wurden, die nicht fremd, sondern mit ihnen verwandt sind.

Die Tendenz zur Distanz und Abstraktion wohnt dem Umgang vieler Täternachkommen mit dem Holocaust und anderen NS-Massenverbrechen inne. Damit setzen sie eine Tendenz fort, die bereits der NS-Täterschaft selbst – wie anderen Formen der Massengewalt – eigen ist. Zwar wurde die NS-Gewalt im Vollzug von einer großen Gruppe in der Gesellschaft als legitim gerechtfertigt, aber bereits während der Handlung von der eigenen Person entkoppelt und umgedeutet, indem sie etwa als „notwendige Maßnahme“ durchgeführt und erinnert wurde. Nach dem Ende der Massengewalt wollte es niemand der daran Beteiligten gewesen sein und kaum jemand konnte sich erklären, weshalb Menschen zu „so etwas“ in der Lage sind. Diese Entkopplung setzt sich in der generationalen Überlieferung in Familien und Gesellschaften bis heute fort. Die Überlieferung im privaten Rahmen der Familie war und ist auf Seiten dieser Gruppen auch deshalb oft unverbunden mit dem öffentlichen Sprechen über die NS-Verbrechen. Insofern ist ein Ziel der Seminare, den gesellschaftlich vorherrschenden gespaltenen Zugang zum Nationalsozialismus bei den Nachkommen von Täterinnen und Tätern, aber auch von Mitläuferinnen und Mitläufern wie Zuschauerinnen und Zuschauern zu mindern.

Dagegen schlagen Nachkommen von NS-Verfolgten häufig eine Brücke zwischen der eigenen Familiengeschichte und der Gewaltgeschichte des Nationalsozialismus. Diese Gruppe ist sich bewusst, dass die Verfolgung ein Kollektivschicksal bildete, das ihre Verwandten nicht zufällig ereilte, sondern auf Grundlage von damals herrschenden gesellschaftlichen Ideologemen wie Rassismus, Antisemitismus oder Antiziganismus stattfand. Bei Nachkommen von politisch und rassisch Verfolgten bildet das Wissen um das Familienschicksal zudem häufig einen festen Bestandteil ihrer Sozialisation und ist in die Familienüberlieferungen eingeschrieben. Dies gilt allerdings weniger für die Nachkommen von Verfolgtengruppen, die bis heute um Anerkennung kämpfen, unter anderem beispielsweise als asozial oder kriminell Verfolgte oder Opfer der NS-Militärjustiz.

Was hat meine Familie im Nationalsozialismus getan?

Angesichts der fortschreitenden Historisierung kann die familiengeschichtliche Fragestellung – was hat meine Familie in der Zeit des Nationalsozialismus getan – für viele Menschen einen relevanten Zugang zur Vergangenheit bieten, weil sie einen wichtigen gegenwärtigen Bezug zum historischen Geschehen herstellt: was geht mich das noch an? Betrachtet man Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg als globalgeschichtliche historische Ereignisse, deren Folgen die Gesellschaften weltweit bis heute prägen, so stellt sich diese Frage nicht nur in Deutschland, sondern auch in den ehemals besetzten Ländern und Kollaborationsregimen, in Ländern, die Flüchtlinge aufgenommen haben (oder nicht aufgenommen haben) oder eben auch in den damals sogenannten neutralen Staaten. Allerdings stellt sich die Frage in der postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft dringlicher, denn hier sind die Folgen der NS-Gewalt bis in die Gegenwart überall auffindbar, und die Verweigerung, dies zu erkennen und zu reflektieren, führt dazu, dass zwischen dem öffentlichen Gedenken an die NS-Massenverbrechen und privaten Erzählungen und Überlieferungen in Familien in Deutschland nicht selten eine erhebliche Diskrepanz besteht.

Gespeist von wissenschaftlichen Erkenntnissen ist die Zahl jener Täternachkommen, die über ihre Familiengeschichte in kritischer Weise publizieren oder die sich in künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Folgen für ihr eigenes Leben befassen, erfreulicherweise ansteigend. Nicht nur in Deutschland, auch in ehemals von Deutschland besetzten Ländern wächst das Interesse an der Auseinandersetzung in Bezug auf Täterschaft und Kollaboration der eigenen Vorfahren. Diese Nachkommen treten häufig in Distanz zu vorherrschenden Familienerzählungen, in denen die familiäre Vergangenheit abgewehrt bzw. ignoriert wird, sie artikulieren Loyalitätskonflikte, die mit der Anerkennung der Schuld ihrer Angehörigen einhergehen, innerfamiliäre Verwerfungen, Kontaktabbrüche und das Erlebnis der Unfähigkeit ihrer Täterverwandten zu Reue.

Auch die Verfolgtennachkommen setzen sich zunehmend öffentlich mit ihrer Familiengeschichte auseinander und fragen nach den Folgen für ihr eigenes Leben. Die öffentliche Resonanz von familiengeschichtlicher Literatur ist auch hier ein Faktor für die intensivere Beschäftigung mit der familiären Vergangenheit. Und gerade jene, die an die Öffentlichkeit gehen, verbinden damit ein politisches Mandat, das im Kern ein „Nie wieder“ beinhaltet. Dieses Mandat verbindet sie mit jenen Täternachkommen, die sich kritisch mit ihrer Familiengeschichte auseinandersetzen. In einer 2014 abgegebenen Erklärung heißt es in diesem Sinne: „Die Kinder von Tätern und die Kinder von KZ-Häftlingen […] müssen mit den Folgen einer Vergangenheit umgehen, für die sie selbst keine Verantwortung tragen. Sie können und sollten gemeinsam handeln, damit die Verbrechen, die ihre Eltern verübt haben oder erleiden mussten, sich nicht wiederholen.“ (Mehrgenerationenbegegnungen in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme)

Die Vermittlung von Wissen über die NS-Gewaltverbrechen und deren Ursachen ist aber nicht nur für Verfolgten- wie Täternachkommen, sondern für alle Menschen relevant, ebenso die Beschäftigung mit den Folgen von Gewalt, sie bildet die Grundlage eigener Urteilsfähigkeit und eines reflektierten Geschichtsbewusstseins in Bezug auf die historischen Ereignisse und ihre Folgen. Familiäre und gesellschaftliche Folgewirkungen von Täterschaften und von Verfolgung haben nicht nur bezogen auf den Nationalsozialismus einen hohen Erklärungswert für gesellschaftliche Prozesse. Die Motivation der an Verbrechen Beteiligten sowie Entstehungsbedingungen und Mechanismen der ausgeübten Gewalt, das Schicksal der von dieser Gewalt betroffenen Gruppen und der Umgang mit den Gewaltakteuren nach Kriegsende spielen deshalb in der Bildungsarbeit von Gedenkstätten eine zunehmend bedeutende Rolle – und zwar mit allen Besuchergruppen.

Es geht in der Auseinandersetzung mit den Vergangenheiten stets auch um uns; unser Geschichtsbewusstsein, die Verfasstheit der Gesellschaft, die familiären Umgangsweisen, die eigene Stellung zu gegenwärtigen Herausforderungen, beispielsweise der eigenen Stellung zu gesellschaftlichem Rassismus, der sich beispielsweise im Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen und völkischen Tendenzen in Europa im Umgang mit Flüchtlingen, aber auch im Umgang mit andauerndem Antiziganismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit zeigt. Die Auseinandersetzung mit den familiären und gesellschaftlichen Folgen von Täterschaft und von Verfolgung geht uns deshalb alle an. 

Literatur

Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel (Hg.), Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie, Berlin 2016.

Thorsten Fehlberg/Jost Rebentisch/Anke Wolf (Hrsg.), Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Herausforderungen und Perspektiven, Frankfurt am Main 2016.

 

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