Inklusion an Gedenkstätten?
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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel Sie müssen angemeldet sein, um das Benutzerprofil zu sehen |
Von Uta George
1. Die Anfänge
In der Vergangenheit waren Menschen mit Lernschwierigkeiten (= Menschen mit geistigen Behinderungen) nicht als Zielgruppe der historisch-politischen Bildung vorgesehen. Dies betraf auch Gedenkstätten. Besonders bei Gedenkstätten, die an die Opfer von NS-Euthanasie-Verbrechen erinnerten, war eine solche Lücke problematisch. Schließlich machten Menschen mit (geistigen) Behinderungen, psychischen Erkrankungen, sowie als sozial unangepasst geltende Personen in diesem Zusammenhang einen Großteil der Opfergruppen aus. Faktisch waren ihresgleichen von dem Besuch einer Euthanasie-Gedenkstätte ausgeschlossen, da sie kein Angebot vorfanden.
In der Gedenkstätte Hadamar erarbeiteten Pädagoginnen und Menschen mit Lernschwierigkeiten zwischen 2003 und 2008 ein Konzept, um NS-Gedenkstätten für diese Zielgruppe zu öffnen. Maßgeblich beteiligt waren der Verein zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. und Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.
Hauptthesen zu Beginn der Arbeit waren:
- Menschen mit Lernschwierigkeiten betrachten die Euthanasie-Verbrechen als Teil ihrer eigenen Geschichte. Sie empfinden eine besondere Nähe zu den Opfern.
- Eine Gedenkstätte, die an die NS-Euthanasie-Verbrechen erinnert, kann sich Menschen, die heute als behindert oder psychisch krank gelten nicht verschließen. Es handelt sich im sozialen Sinn um Angehörige der Opfergruppe.
In der gedenkstätten- aber auch sozialpädagogischen Fachwelt stieß die Absicht, eine Gedenkstätte für Menschen mit Lernschwierigkeiten zu öffnen, zunächst auf Skepsis und Abwehr. Angeblich sei diese Zielgruppe von dem Thema emotional und kognitiv überfordert.
2. Die Zusammenarbeit
2003 führten die beiden Vereine den ersten gemeinsamen Workshop durch. Das Team bestand aus Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten. Die Teilnehmenden waren Menschen mit Lernschwierigkeiten und ihre Unterstützungspersonen. Der Workshop wurde in Leichter Sprache durchgeführt, das bedeutet u.a. keine Fremdwörter oder Anglizismen zu verwenden, ebenso keine Schachtelsätze und keine Metaphern. Vor allem allerdings beinhaltete der Workshop eine Begegnung auf Augenhöhe, etwas, das in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich ist. Deshalb waren insbesondere die Teamerinnen und Teamer ohne Behinderung aufgefordert, ihre eigenen Vorurteile zu reflektieren. Das Ergebnis dieses ersten Workshops lautete, keinen Ort und kein Thema auszulassen, das auch andere Gruppen sehen bzw. hören.
Das Konzept sollte bewusst mit der neuen Zielgruppe gemeinsam entwickelt werden. In der Regel wurde – heute löst sich dies zunehmend auf – über Menschen mit Lernschwierigkeiten gesprochen, nicht mit ihnen. Da es zudem keine Ansätze gab, die als Vorbild hätten gelten können, war es Pionierarbeit. Menschen mit Lernschwierigkeiten entschieden dabei maßgeblich über Inhalte und Form des neuen Angebotes. Im Rahmen dieser Erarbeitung bildete sich die Perspektive von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf die Euthanasie-Verbrechen ab. Gleichzeitig förderte die Zusammenarbeit der beiden Vereine den Gedanken von Inklusion.
Grundlage aller künftigen Angebote für Menschen mit Lernschwierigkeiten waren die im ersten Workshop gewonnenen Erfahrungen. Die kommenden Workshops waren offen, die Gruppen setzten sich deshalb immer unterschiedlich zusammen. Das Team nutzte auch die folgenden Workshops zur Weiterentwicklung des Konzeptes, so erarbeiteten Team und Gruppe einen Katalog in Leichter Sprache. In den späteren Jahren hatten die Workshops inhaltliche Schwerpunkte, wie z.B. die Bedeutung des Gedenkens und von Lernen.
3. Erfahrungen
Die Erarbeitung des Ansatzes machte die Strukturen von Ausgrenzung sichtbar: Nicht etwa war die Zielgruppe für das Thema ungeeignet oder das Thema für die Zielgruppe. Vielmehr lagen keine Zugänge vor, die das Thema in einer angemessenen und angepassten Form dargeboten hätten. Die nicht-behinderten Teamerinnen und Teamer versuchten deshalb von der Zielgruppe bzw. ihren Bedürfnissen zu lernen.
Zentrale Methode war die Anwendung Leichter Sprache. Jede Einheit des Workshops wurde von einen Tandem-Team moderiert, d.h. eine Person mit Lernschwierigkeiten und eine ohne Lernschwierigkeiten gestalteten das Thema gemeinsam. Die bei jedem Workshop vorgesehene Gedenkzeremonie lag maßgeblich in den Händen der Teilnehmenden. Das Team wandte Methoden an, um möglichst authentische Vorstellungen von der Gruppe zu erfahren, die dann von Teilnehmenden und Team gemeinsam umgesetzt wurden.
Darüber hinaus wählte das Team verschiedene Wege, um die Gruppe zu aktivieren. Ein bereits während des ersten Workshops eingesetztes Medium war eine immer zugängliche Wandzeitung. Hier konnte jede und jeder in den Pausen oder abends Gedanken niederschreiben, schreiben lassen oder kleben und malen. Diese Äußerungen reflektierten das Gehörte und Erlebte. „Es soll so was nie wieder passieren. Wir haben alle ein Recht auf Leben.“ (Wandzeitung 2004).
Die häufigste Vorannahme (unter Fachleuten) war, Menschen mit Lernschwierigkeiten könnten von der Thematik emotional und kognitiv überfordert sein. Hierauf lag ein besonderes Augenmerk bei der Durchführung des ersten Workshops. Irritationen, gleich welcher Art, hatten Vorrang und es wurde versucht, sie aufzulösen. Das Team konnte durch den engen Kontakt mit der Gruppe kognitive und emotionale Überforderung ausschließen. Auch in den zahlreichen Pausen führten Team und Gruppe Gespräche und spürten, wann eine Person emotional belastet war. Die Erfahrung zeigt, dass die Betreffenden Überforderungen sehr klar benennen können: Bei einem Workshop beschlossen die Teilnehmenden, zwei Gedenkmomente hintereinander durchzuführen (auf dem Friedhof und vor den Standorten der Verbrennungsöfen). Bei der Durchführung reagierten allerdings viele sehr emotional, sodass der zweite Teil abgebrochen wurde. Am nächsten Morgen entschied die Gruppe, die unvollendete Gedenkzeremonie nachzuholen, was dann auch ohne Komplikationen gelang.
Die These, Menschen mit Lernschwierigkeiten sähen die Euthanasie-Verbrechen als Teil ihrer Geschichte, ließ sich bestätigen. „Wenn wir damals gelebt hätten, wären wir heute nicht am Leben.“ (Wandzeitung Workshop 2005). Während der Workshops und in Interviews äußerten Teilnehmende der Workshops regelmäßig Empathie mit den Opfern. Sie leben heute überwiegend mit denselben Zuschreibungen, wie die Opfer damals. Das ist ihnen bewusst. Sie haben deshalb ein Recht, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen.
4. Schlüsse
Die Erfahrungen belegen ein großes Interesse von Menschen mit Lernschwierigkeiten, sich mit der Thematik NS-Euthanasie-Verbrechen auseinanderzusetzen. Notwendig sind Methoden und Zugänge, die ihnen die Beschäftigung mit dem Thema ermöglichen. Vor allem allerdings ist die Überzeugung der pädagogischen Kraft, dem Gegenüber auf Augenhöhe begegnen zu wollen unbedingte Voraussetzung, Überwältigung ist in jedem Fall zu vermeiden. Dann kann das Bildungsangebot zu Empowerment führen.
Die Sichtweise von Menschen mit Lernschwierigkeiten auf die NS-Euthanasie-Verbrechen bereichert die kollektive Erinnerung um einen entscheidenden Aspekt: um die Perspektive von Menschen, die damals zu den Opfern hätten zählen können. Diese sollte gesucht und nicht vergessen werden.
Der Paradigmenwechsel in der Arbeit mit Menschen mit Behinderung verbietet es, eine Personengruppe von Bildungsangeboten auszuschließen, nur weil kein geeignetes pädagogisches Konzept für sie vorhanden ist.
Literaturempfehlungen
George, Uta: Kollektive Erinnerung bei Menschen mit geistiger Behinderung. Das kulturelle Gedächtnis des nationalsozialistischen Behinderten- und Krankenmordes. Eine erinnerungssoziologische Studie, Bad Heilbrunn 2008.
George, Uta: Historisch-politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten an der Gedenkstätte Hadamar, in: Hessische Blätter für Volksbildung, „Politische Bildung“, Heft 4 (2010), S. 360-368.
George, Uta/ Göthling, Stefan (Hg.): „Was geschah in Hadamar in der Nazizeit?“ Ein Katalog in leichter Sprache (= Schriftenreihe „Geschichte verstehen“ des Vereins zur Förderung der Gedenkstätte Hadamar e.V. und des Netzwerkes People First Deutschland e.V., H 1), Kassel 2005.
George, Uta/ Winter, Bettina: Wir erobern uns unsere Geschichte. Menschen mit Behinderungen arbeiten in der Gedenkstätte Hadamar zum Thema NS-„Euthanasie“-Verbrechen, in: Zeitschrift für Heilpädagogik, Nr. 2 (2005), 56. Jahrgang, S. 55-62.
George, Uta/ Winter, Bettina: „Wir entdecken unsere Geschichte“. Menschen mit Lernschwierigkeiten als Akteurinnen und Akteure der Erinnerung, in: Politikferne und bildungsbenachteiligte Menschen als Zielgruppe politischer Bildung, Außerschulische Bildung. Materialien zur politischen Jugend- und Erwachsenenbildung Nr. 3 (2008), S. 296-300.
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- 14 Okt 2016 - 12:19