Wie das Format den Inhalt und der Inhalt das Format prägt
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Von Meike Günther
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat mit Unterstützung der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" und in Kooperation mit Lernen aus der Geschichte kürzlich das Online-Handbuch "Inklusion als Menschenrecht" vorgestellt. Bei dem Handbuch handelt es sich um eine bislang in Deutschland einzigartige Website mit Informationen, Spielen und pädagogischen Materialien zu den Themen Inklusion, Behinderung und Menschenrechte. Es richtet sich an Pädagogen und Pädagoginnen in Schule und Hochschule, Jugendliche und Erwachsene in Selbsthilfegruppen und in Jugendzentren, an Erzieher/innen in Kindertagesstätten sowie an Ausbilder/innen in Heilerziehungspflegeschulen, Altenpflegeschulen und Fachschulen für Erzieher/innen.
Gähnende Leere
Mit dem Onlinehandbuch reagieren wir auf eine merkliche Leerstelle in der historisch-politischen Bildung bezogen auf Materialien zu dem Thema Behinderung. Zwar existierten auch in anderen Bereichen noch häufig nicht genug und ausreichend zielgruppengerecht aufbereitete Materialien zu Themen wie dem Nationalsozialismus, Antisemitismus, Gender, Rassismus oder Migration. Zum Thema Behinderung gibt es bisher noch keine historisch-politisch orientierten Lern- und Lehrmaterialien in Deutschland, die das Thema derart aufbereiten, dass Pädagog/innen in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Zielgruppen ermöglicht wird, zum Thema Behinderung zu arbeiten, ohne selbst über große Vorkenntnisse in dem Themenbereich zu verfügen.
Inhalt und Ziel
Aufgrund dieser Leerstelle und der Beobachtung, dass sie nicht zufällig besteht, sondern dem Thema Behinderungen noch sehr stark mit Distanz und Fremdheit begegnet wird, haben wir uns entschlossen, Material zu erstellen, das ein breites Publikum ansprechen soll. Die Tatsache, dass Behinderung und chronische Krankheit im öffentlichen Bewusstsein noch durchweg gleichgesetzt werden mit der Folge eines quasi schicksalhaften Ausschlusses, hat uns bewogen, folgende Schwerpunkte zu setzten: Das Material soll historisch-politisch aufzeigen, wie sich die Situation und Einstellung von und gegenüber Menschen mit Behinderungen in den letzten 2000 Jahren verändert hat. Darüber hinaus machen die Texte und Schwerpunkte deutlich, dass Exklusion von Menschen mit Behinderungen eine Menschenrechtsverletzung darstellt und die Inklusion, also die Teilhabe aller Menschen an allen gesellschaftlichen Bereichen, ein Menschenrecht ist. Behinderungen werden in sozialen Zusammenhängen wirksam. Sie sind nur zu verstehen in der Wechselwirkung von individuellen Gegebenheiten und der gesellschaftlichen Umwelt. Deutlich werden soll, dass Menschen mit Behinderungen mit völlig unterschiedlichen Lebenslagen, Zeiten und Situationen konfrontiert waren und sind. Auch geht jeder Mensch individuell ganz unterschiedlich um mit seiner Lebenssituation und hat unterschiedliche Möglichkeiten, die seit jeher eng insbesondere mit der Frage nach dem jeweiligen sozialen Status und den verfügbaren finanziellen Ressourcen verknüpft sind. Weiterhin soll vermittelt werden, dass der gesellschaftliche Beitrag und die Lebenserfahrung, die Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer spezifischen Lebenssituation einbringen, wertvoll und spannend sein können. Die Wahrnehmung dieses Beitrages als wertvoll und beachtenswert verändert die Wertebasis und Struktur einer Gesellschaft inklusiv.
Format
Um diese Aspekte einem möglichst breiten Publikum nahezubringen, haben wir uns entschlossen, online abrufbares Material zu erstellen, das aber auch bei Bedarf in den Teilen ausdruckbar ist, die jeweils benötigt werden. Was benötigt wird, ist ein Internetanschluss und ein Drucker – hier tun sich möglicherweise neue Barrieren auf, die wir nun überlegen, durch das Vorhalten einer Druckversion gegen Gebühr zu minimieren.
Begrenzungen durch spezifisches Format mit Inhalt
Mit der Entscheidung, Material zum Thema Behinderung im Onlineformat anzubieten gingen weit mehr weitere inhaltliche und didaktische Entscheidungen einher, als unmittelbar zu Projektbeginn absehbar war. Dadurch, dass auch und besonders Menschen, die mit dem Thema kaum Vorerfahrungen haben, mit dem Material arbeiten sollen und können, kam es zu folgenden Begrenzungen: In erster Linie können Basisinformationen gegeben und nicht so sehr in die Tiefe gearbeitet werden. Zu diesem neuen Thema und Format können nicht vollkommen unbekannte didaktische Neuerungen angeboten, zumal auch alles ausdruckbar und nicht nur am Computer spielbar sein sollte, um diesen nicht zwingend erforderlich zu machen. Vor allem bei schwierigen Themen wie der „Euthanasie“ im Nationalsozialismus hieß dies zusätzlich, dass hier auf relativ kognitive und einfache Frage-Antwort-Formate zurückgegriffen werden musste. So können Menschen durch das Material geführt werden, die weder mit dem Thema Nationalsozialismus noch mit dem Thema „Euthanasie“ oder Behinderung inhaltliche oder didaktische Erfahrungen haben.
Einige Inhalte fielen in Folge ganz heraus. Dazu gehört beispielsweise die Diskussion um die Präimplantationsdiagnostik, da hier ohne umfangreiche Schulung unklar war, wie ein so facettenreiches und moralisch umstrittenes Thema in dem vorgegebenen Format angemessen und sicher diskriminierungsfrei aufgefangen werden kann. Bei Biographien, Übungen und Spielen konnte allerdings dort, wo es sich inhaltlich ergab, auch auf andere Themen, Stereotypisierungen oder Ausgrenzungen von Menschen oder Gruppen von Menschen hingewiesen werden. Auch hier stellte es sich jedoch gleichzeitig nicht als sinnvoll heraus, rassistische oder aufgrund anderer Merkmale diskriminierende Erfahrungen beispielsweise zusätzlich besonders herauszustellen, da jeweils unklar ist, welchen Sensibilisierungsgrad die Multiplikator/innen zum Thema mitbringen und an welchen Stellen Stereotypisierungen verstärkt, statt abgeschwächt werden. Diese Auslassungen laufen selbstverständlich Gefahr, selbst Auslassungen zu reproduzieren und müssen auch in der Erprobung genau beobachtet werden.
Eine ähnliche Gradwanderung ist die Reduktion auf den deutschen Kontext (mit einigen Ausnahmen entlang der Menschenrechtsthemen aus den USA und Österreich). Aufgrund der Tatsache, dass die deutsche Geschichte mit dem NS ihre eigene Spezifik hat, was auch bezogen auf den Umgang mit dem Thema Behinderungen gilt, schien es sinnvoll, ein Material zu produzieren, dass auf diese Spezifität eingeht. Damit einhergehend wird gleichzeitig an dieser Stelle nicht thematisiert, wie ein anderer Umgang aufgrund diverser Herkünfte beispielsweise auch von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sein kann, bzw. wie er in anderen Ländern aufgrund anderer historischer und kultureller Entwicklungen war und ist. Ebenfalls nicht aufgegriffen werden konnte, welche Umgangsweisen es beispielsweise in Ländern gibt, die den Kolonialismus, bzw. auch den Krieg in den Kolonien während des Nationalsozialismus ertragen mussten - und damit auch den NS in einer spezifischen Weise.
Chancen durch spezifisches Format und Inhalt
Jenseits dieser Begrenzungen ist der große Vorteil des Online-Formats, dass auf diese Weise viele Barrieren, die ein Papierformat bietet – es muss gekauft und bestellt werden, es ist nicht in jeder Schriftgröße vorhanden, es wird nicht vorgelesen, wie es Bildschirmprogramme ermöglichen – weg fallen.
Behinderungsspezifische Barrieren bleiben bestehen für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die auf Leichte Sprache angewiesen sind und für gehörlose Menschen, die Videos mit Gebärdenübersetzung benötigen. Beides lässt sich jedoch nachtragen, wenn die entsprechenden Ressourcen vorhanden sind. Ein weiterer großer Vorteil ist die Möglichkeit, das Onlinehandbuch jederzeit zu aktualisieren, zu verbessern oder zu erneuern an den Stellen, an denen es veraltete oder überholte Informationen enthält oder Spiele sich als didaktisch nicht mehr zeitgemäß herausstellen.
Für ein solches erstes deutschsprachiges und didaktisiertes Material zum Thema Behinderung und Menschenrechte überwogen die Argumente, die das Onlineformat an Reduzierung von Barrieren für viele Menschen mit Behinderungen bietet gegenüber den Argumenten, die diesen gegenüber stehen. Um einige der Begrenzungen abzufedern, bieten wir ab 2012 selbst Schulungen und Seminare zu dem Onlinehandbuch an, in denen von erfahrenen Trainerinnen und Trainern auch über das online vorhandene Material hinaus andere Themen und Kategorien angesprochen werden können.
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- 24 Mai 2012 - 16:38