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Stolpersteine als dezentrales Denk-Mal

Sibylla Hesse ist seit 20 Jahren Waldorflehrerin für Geschichte, Kunstgeschichte und Französisch.

Von Sibylla Hesse

Was glänzt da im Straßenpflaster? Man neigt den Kopf und liest: „Hier wohnte / Kurt Samter / Jg. 1882 / Deportiert 1942 / Riga / Ermordet März 1942“. Das war 2010 in Babelsberg das Ergebnis eines Geschichtsprojekts mit Oberstufenschüler/innen der Waldorfschule Potsdam.

Ungefähr 23.000 solcher Stolpersteine finden sich in rund 550 Orten vorwiegend in Deutschland; einige der in den Bürgersteig eben eingelassenen Betonwürfel mit geprägter Messingplatte liegen in unseren Nachbarländern. Alle zeugen von einem Menschen, der aus rassistischen, politischen oder anderen Gründen von den Nationalsozialisten verfolgt und deportiert wurde. Meist hatte er oder sie in dem Haus hinter dem Stein seine/ihre letzte frei gewählte Wohnung.

Jedes dieser „Denkzeichen“ verweist aber auch auf einen oder mehrere Menschen, die sich für dieses Schicksal interessierten, Recherchen unternahmen und bei Gunter Demnig einen Stolperstein anfertigen ließen. Der Kölner Künstler, 1947 in Berlin geboren und dort zum Kunstlehrer ausgebildet, dachte, man könne nicht „mit frisierter Seele einmal im Jahr abtrauern“. Auf der Suche nach dem passenden Erinnerungsort fand er, über verschiedene Etappen, 1994 diese Form eines dezentralen Mahnmals.

Damit kommt er den Vorstellungen und Bedürfnissen von Jugendlichen sehr nahe. Viele Stolperstein-Biographien wurden von Schüler/innen, Gemeindemitgliedern, Privatpersonen etc. initiiert. Dazu ist eine gründliche historische Recherche nötig.
Wer sich für diese Form der Erinnerung interessiert, sollte sich zuerst erkundigen, ob es in dem betreffenden Ort bereits eine solche Initiative gibt. Die Namen der jüdischen Deportierten findet man in den Gedenkbüchern, in großen Städten sind auch lokale Gedenkbücher erstellt worden. Hier stehen die wichtigsten biographischen Daten.

Dann müssen Quellen gefunden werden. Besonders aussagefähige Dokumente bieten die Akten der Finanzämter, denn diese übernahmen das Beraubungsgeschäft. Juden mussten unmittelbar vor dem Abtransport „Vermögensverzeichnisse“ ausfüllen. In deutsch-deutlicher Manier wurde versucht, jedes Möbel, allen Besitz zu registrieren, damit die Behörden ihn nach der Deportation requirieren oder verkaufen lassen konnten. Weitere Informationen mögen in Quellen der Gestapo, der örtlichen jüdischen Gemeinde und im Standesamt zu finden sein. Auch Adressbücher muss man wälzen. Wenn es „prominente“ Opfer sind, kann man die Tageszeitungen vor und nach 1933 durchforsten.

Manchmal hilft auch gründliches Suchen im Internet mit kombinierten Namens-, Orts- und evtl. Zeitangaben. Wir stießen dadurch sowohl auf ebenfalls deportierte Verwandte unserer Personen wie auch auf einen lebenden Nachkommen in Israel.
Nur selten gelingt es, sich ein rundes Bild von den Verstorbenen zu machen, oft muss man sich mit kleinen Einzelinformationen zufrieden geben, was leicht zu Frustrationen führen kann. Die – historisch korrekt unterfütterte – Einfühlung kann helfen, sich die Schicksale genauer zu vergegenwärtigen. Dafür kann man mit den Jugendlichen grundlegende Begriffe aus dem Geschichtsunterricht reaktivieren wie etwa Diktatur, Scheinlegalität, Rassismus, Antisemitismus etc. Diese Worte füllen sich durch lokalhistorische Recherchen mit Leben. So wird Menschenrechtserziehung konkret.

Schnell kommt die Frage auf, ob denn niemand das Verschwinden Tausender Menschen bemerkt habe. Damit eröffnet sich die Gelegenheit, über Propaganda, Mitläufertum und Profiteure zu sprechen, aber auch über mutige Menschen, die Gesuchte versteckten oder ihnen in irgendeiner Weise halfen.
Zuletzt erfolgt die Verlegung im Straßenpflaster (über den öffentlichen Grund entscheidet das Tiefbauamt, das man einbeziehen sollte, nicht der heutige Besitzer des Grundstücks). Dazu kann man, neben der Presse, lokale Politprominenz, die jüdische Gemeinde etc. einladen. Dabei ist es wichtig, die erforschten Biographien vorzustellen. Wenn die Straße zu laut ist, suche man einen nahegelegenen Raum (Kino, Gemeindesaal, Festsaal einer Schule...) für eine detailliertere Würdigung der Deportierten. Musik, Rezitationen, Reden können die Darstellungen einrahmen.
Um das Projekt würdig abzuschließen, empfiehlt sich die Erstellung eines Flyers mit Stadtplan, der alle Stolpersteine eines Ortes verzeichnet (Schauen Sie sich unser Beispiel mit Informationen u.a. zu Kurt Samter an).

 

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