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Die nationalsozialistische Homosexuellenverfolgung und ihre Folgen

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Thomas Rahe ist wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen.

Von Dr. Thomas Rahe

Seit 1871 waren in ganz Deutschland homosexuelle Handlungen unter Männern durch den § 175 des Strafgesetzbuches unter Strafe gestellt. Eine strafrechtliche Verfolgung weiblicher Homosexualität gab es dagegen nicht. In der Weimarer Republik galt der § 175 unverändert weiter. Die Intensität der Verfolgung nahm jedoch allmählich ab.

Das NS-Regime weitete die Verfolgung der Homosexuellen nicht nur im Hinblick auf die Zahl der Verfolgten aus, sondern radikalisierte sie auch bis hin zur Ermordung von Homosexuellen in den Konzentrationslagern. Für die Nationalsozialisten waren Homosexuelle „Volksschädlinge“, da sie nicht zur erwünschten Geburtensteigerung beitrugen, dem soldatischen Männlichkeitsbild nicht entsprachen und daher als potentielle Gegner betrachtet wurden.

Unmittelbar nach der Machtergreifung begann die weitgehende Zerschlagung der homosexuellen Subkultur. Eine systematische Verfolgung von Homosexuellen durch den Nationalsozialismus setzte Mitte 1934 ein. Sie wurde durch eine entsprechende Pressekampagne vorbereitet. Diese knüpfte an die Herabwürdigung und Verachtung von Homosexuellen durch weite Teile der bürgerlichen Gesellschaft und der christlichen Kirchen an. Die Zahl der Verhaftungen von Homosexuellen im Zuge von Razzien nahm seit 1934 stark zu. Bei Durchsuchungen von Wohnungen verhafteter Homosexueller wurden beispielsweise Adressbücher beschlagnahmt, um weitere Homosexuelle zu ermitteln. Auch bei den Verhören versuchten die Ermittler durch Drohungen und Gewaltanwendung die Namen weiterer Homosexueller zu erpressen. Viele Homosexuelle wurden auf Grund von Denunziationen durch Nachbarn, Arbeitskollegen oder Verwandte verhaftet.

1935 wurde der § 175 massiv verschärft: Die angedrohten Strafen wurden erhöht (bis zu 10 Jahren Zuchthaus) und neue Tatbestände geschaffen. Nun genügte bereits eine Berührung für eine Verurteilung. Die Zahl der Verurteilungen nahm seit 1935 sprunghaft zu. Insgesamt kam es während des NS-Regimes zu etwa 50.000 Verurteilungen wegen homosexueller Handlungen. Die Zahl der Ermittlungsverfahren wird auf 100.000 geschätzt. Der Lebensalltag Homosexueller war zumeist von sozialer Isolation und Angst vor Verfolgung geprägt. Eine systematische Verfolgung lesbischer Frauen gab es nicht. Dennoch wurde auch ihre Subkultur durch die Nationalsozialisten zerstört und ihre Lebensform herabgewürdigt.

Bereits seit 1934 waren Homosexuelle ohne Gerichtsverfahren in die Konzentrationslager gebracht worden. In einem Erlass vom Juli 1940 legte Himmler fest, dass nun alle Homosexuellen, die mehr als einen Partner „verführt“ hätten, nach Verbüßung ihrer Haft im Gefängnis oder Zuchthaus in ein KZ einzuweisen seien. Hier mussten sie auf ihrer Häftlingskleidung einen rosa Winkel tragen, der sie für ihre Mithäftlinge und die SS als Homosexuelle erkennbar machte. Sie nahmen eine Position am unteren Ende Häftlingshierarchie ein und waren besonderen Schikanen ihrer Bewacher ausgesetzt. Im Lager waren sie weitgehend isoliert und hatten kaum die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen. Die Zahl der homosexuellen KZ-Häftlinge lag bei 5.000 bis 10.000. Ihre Todesrate wird auf über 50% geschätzt. Damit gehören sie zu den nicht-rassisch verfolgten Häftlingsgruppen mit der höchsten Sterblichkeit in den Konzentrationslagern.

In der Bundesrepublik Deutschland setzte sich die strafrechtliche Verfolgung von Homosexuellen fort. Der § 175 blieb in seiner verschärften NS-Fassung geltendes Recht. Auf seiner Basis kam es zwischen 1945 und 1969 zu rund 64.000 Verurteilungen – annähernd so viele wie unter dem NS-Regime. Diese Zahlen machen deutlich, dass die Polizei auch nach 1945 nicht nur auf Anzeigen aus der Bevölkerung reagierte, sondern aktiv und mit systematischen Razzien und hohem Personalaufwand Homosexuelle zu ermitteln und zu überführen suchte. Auch Homosexuelle, die das KZ überlebt hatten, wurden erneut verurteilt. Die DDR kehrte 1950 zu der Fassung des § 175 zurück, die in der Weimarer Republik gültig gewesen war. In beiden deutschen Staaten blieben die als Homosexuelle durch den Nationalsozialismus Verfolgten von finanzieller Gutmachung in aller Regel ausgeschlossen. Auch eine moralische und juristische Rehabilitierung wurde ihnen verweigert. Sie galten weiterhin als vorbestraft und durften z. B. keine Berufe ausüben, die ein einwandfreies Führungszeugnis voraussetzten.

1968 hoben die DDR und 1969 die BRD die Strafbarkeit von homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen auf. Erst mit der Einführung einer einheitlichen Altersschutzgrenze für Homosexuelle und Heterosexuelle im Jahr 1994 wurde die letzte Sonderregel im Sexualstrafrecht gegenüber Homosexuellen vollständig aufgehoben.

Die erschreckende Kontinuität der Homosexuellenverfolgung im Nachkriegsdeutschland basierte auf einer jahrhundertelangen, emotional tiefen Abneigung des größten Teils der Bevölkerung und nahezu aller politischen und sozialen Institutionen in der Bundesrepublik gegenüber Homosexuellen. Eine Schlüsselrolle bei der Legitimierung und Einforderung der strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen spielten die christlichen Kirchen und ihr nach 1945 wieder gewachsener gesellschaftlicher Einfluss. Dieser Zuwachs war möglich, da sie als durch den Nationalsozialismus nicht moralisch kompromittiert galten. Aber auch unter den politischen Parteien gab es – von der KPD bis zur CDU – bis in die 60er Jahre in dieser Frage keine grundsätzlichen Differenzen. Bis weit nach 1969 galt Homosexualität auch unter der großen Mehrzahl der Ärzte und Psychiater als Deformation bzw. Erkrankung. Die Weltgesundheitsorganisation entschied erst 1990, Homosexualität nicht mehr in der Liste der Krankheiten aufzuführen.

Unter diesen Bedingungen ist es nicht erstaunlich, dass es bis Anfang der 70er Jahre auch keine öffentliche Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung gab. Kaum einer der zwischen 1933 und 1945 verfolgten Homosexuellen (die dann zum Teil in den 50er und 60er Jahren erneut inhaftiert waren) schrieb seine Erinnerungen an die Verfolgung auf oder dachte gar daran, sie zu veröffentlichen. Die Traumatisierung durch die Verfolgung war so massiv, dass sich auch später (noch in den 80er Jahren) kaum Homosexuelle fanden, die bereit waren, etwa in einem Interview öffentlich von ihrer Verfolgung unter dem Nationalsozialismus bzw. ihrer KZ-Haft zu erzählen. Hinzu kam, dass angesichts einer Todesrate von über 50% unter den homosexuellen Häftlingen in den Konzentrationslagern die Zahl der Überlebenden ohnehin geringer war als bei den meisten anderen Verfolgtengruppen. So gibt es heute weltweit nicht einmal zehn ausführlichere (Video-)Interviews mit Homosexuellen, die die NS-Verfolgung überlebt haben.

Auch schwiegen die meisten Familien von verfolgten Homosexuellen über das „schwarze Schaf“ in ihrer Familie und vernichteten lieber entsprechende Bild- und Textdokumente als sie öffentlich zu machen bzw. an Museen oder Gedenkstätten zu geben. Wenn die NS-Verfolgung der Homosexuellen in Gedenkstätten, historischen Museen und der historischen Forschung bis in die 80er Jahr kaum vorkam, so hatte dies mit offenkundigem Desinteresse ebenso zu tun wie mit dieser schwierigen Quellenlage. Zudem fehlt es bei den Homosexuellen in der Regel an der Kindergeneration, die wie bei anderen Verfolgtengruppen mit ihrer spezifischen moralischen Autorität als Nachfahren der Verfolgten die Dokumentation des Schicksals ihrer Vorfahren einfordern könnten.

Es trifft den Sachverhalt somit nicht, die Homosexuellen als „vergessene Verfolgte“ zu bezeichnen. Die Homosexuellen wurden in Deutschland nach 1945 keineswegs vergessen. In Justiz und Politik, von der Moraltheologie bis zur allgemeinen Publizistik wurde immer wieder öffentlich vor der Gefährdung der Gesellschaft durch die Homosexualität gewarnt und deren Strafbarkeit gerechtfertigt – mit Behauptungen und völkischen Begriffen, die sich kaum von den entsprechenden Äußerungen aus der Zeit des Nationalsozialismus unterschieden. Die Homosexuellen gerieten in der Öffentlichkeit nach 1945 keineswegs aus dem Blick. Woran es vielmehr mangelte, war ein Bewusstsein vom Unrechtscharakter der nationalsozialistischen Homosexuellenverfolgung und der ihr zugrunde liegenden strafrechtlichen Bestimmungen und sozialen Normierungen, die nach 1945 nahezu unverändert übernommen wurden.

 

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