Am Nikolaustag 1968 hört ein Berliner Literaturstudent im Radio, dass der Nazi-Richter Rehse endgültig freigesprochen wurde. Noch während die Nachrichten laufen, beschließt er, ein Zeichen zu setzen: Er will diesen Richter umbringen. Für den Studenten eine ganz persönliche Angelegenheit, denn Rehse hat auch den Vater seines besten Freundes zum Tode verurteilt, Georg Groscurth - Leibarzt von Rudolf Heß und zugleich als Widerstandskämpfer aktiv, gemeinsam mit Robert Havemann.
Die Tatbereitschaft des jungen Mannes wächst, je mehr er sich mit der Familiengeschichte beschäftigt. Besonders empört ihn das Schicksal von Groscurths Witwe Anneliese, die nach 1945 zwischen die Fronten des Kalten Krieges geriet. Dass ein ehemaliger Nazi ungeschoren davonkommt, während die Witwe seines Opfers als kommunistische Hexe verschrien und in eine Kette von Justizskandalen verstrickt wird, ruft nach Vergeltung.
"Mein Jahr als Mörder" ist eine unerlässliche Lektüre, spannend und brisant. Der Autor Friedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, aufgewachsen in Hessen, war mit Groscurths Söhnen von klein auf befreundet, hat dafür zahlreiche Gespräche geführt, Aktenmaterial und Briefe gesichtet, die Autobiographie des Verlegers Hermann Kindler gelesen, der in der "Europäischen Union" mitarbeitete, und aus Ruth Andreas-Friedrichs Tagebuch "Der Schattenmann" den Bericht eines Augenzeugen über die Hinrichtung Groscurths zitiert.
Georg Groscurth verblieb nach der Entlassung jüdischer Ärzte, deren Stellen mit SA- und SS-Ärzte besetzt wurden, am Berliner Robert-Koch-Krankenhaus als einer der wenigen kompetenten Mediziner. Rudolf Heß machte ihn deswegen sogar zu seinem Leibarzt, weil er ihm mehr vertraute als den Parteigenossen.
Groscurth baute zusammen mit dem Chemiker Robert Havemann und rund zwanzig anderen Gleichgesinnten die "Europäische Union" auf, eine Gruppe, die Zwangsarbeiter, versteckte Juden und Menschen in der Illegalität praktisch unterstützte und mit Tschechen, Slowaken, Polen, Russen zusammenarbeitete. Delius zeichnet Groscurth als tätigen Humanisten ohne konkrete politische Ziele, der in der Zeit der Barbarei anständig bleiben und durchhalten wollte bis zum Ende des Krieges und der nationalsozialistischen Herrschaft.
Anders und kritisch ist der Blick auf Robert Havemann, der mit großem Risiko Flugblätter druckte, damit aus "Ehrgeiz und Eitelkeit" die Gruppe gefährdete und sich dadurch mitschuldig am Tod der Freunde machte. Havemann war der einzige, dessen Todesurteil nicht vollstreckt wurde, weil es ihm gelang, die Kriegsnotwendigkeit seiner Forschung glaubhaft zu machen. Der Lebensweg Havemanns nach dem Krieg - vom überzeugten Stalinisten zum führenden Dissidenten der DDR - ist bekannt.
Vergessen dagegen ist das Schicksal von Anneliese Groscurth, der Witwe des hingerichteten Georg Groscurth, die selbst in der "Europäischen Union" mitarbeitete. Sie ist die eigentliche Heldin des Buches. "Es gab keine Helden", schärft sie dem Autor ein, "es gab bloß ein paar anständige Leute". Sie tritt ein für den Frieden, gegen Remilitarisierung, gegen Nazis. Mit dieser Gradlinigkeit gerät sie in Widerspruch zur bundesdeutschen Restauration der Adenauer Ära.
Nachdem 1951 in ihrer Wohnung eine Pressekonferenz zu einer "Volksbefragung" gegen die Wiederbewaffnung stattfand, unterstellte der West-Berliner "Tagesspiegel" eine "kommunistische Volksbefragung" und entschied mit der Hinzufügung des Wörtchens "kommunistisch" das Schicksal von Anneliese Groscurth für Jahrzehnte. In West-Berlin galt sie als Agentin der DDR. Sie ist eines von vielen Beispielen dafür, wie im Kalten Krieg ausgerechnet die Menschen wieder in Verdacht gerieten, die schon den Nazis verdächtig waren.
Anneliese Groscurth verlor ihren Rentenanspruch als Verfolgte des Naziregimes, während zur gleichen Zeit alle ehemaligen NS-Beamten ihre Rente rückwirkend zuerkannt bekamen und eine Beschäftigungsgarantie erhielten. Sie verlor ihre Arbeit als Bezirksärztin und fand nur noch eine Stelle beim "Berliner Rundfunk" in der Masurenallee - einer DDR-Institution im Westen. Nach dem Mauerbau zog der Sender nach Ost-Berlin um. Sie wohnte weiter im Westen und arbeitete im Osten. Einen Reisepass verweigerten ihr die Behörden mit der Begründung, sie agitiere gegen die freiheitliche Grundordnung.
Zwanzig Jahre prozessierte sie um ihr Recht und verlor am Ende. Delius berichtet eindrücklich, unter welch fragwürdigen Bedingungen der bundesdeutsche Nachkriegsstaat die Grenze zur ideologischen Urteilsbegründung überschritt und eine Humanistin zur Staatsfeindin machte. Erschreckend deutlich wird die Kontinuität zu Gerichten des Dritten Reiches. Die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit hat nach 1989 in Vergessenheit geraten lassen, dass es auch im Westen politisch motivierte Rechtsbeugung gab.
Hätte sich diese Geschichte in der DDR ereignet, würde Anneliese Groscurth heute als Dissidentin gesehen und geachtet. Es ist das Verdienst von Delius, an diese verdrängten finsteren Ursprünge der Bundesrepublik zu erinnern und damit auch die in letzter Zeit gerne von den Jüngeren gescholtene Achtundsechziger-Generation in ihrem Gerechtigkeitsdrang und ihrer Wut gegen die Verdrängung des nationalsozialistischen Erbes ein wenig zu rehabilitieren.
Ein Generationenroman, der autobiographische Fiktion und lebendige Zeitgeschichte genial verknüpft: Die vierziger, fünfziger, sechziger Jahre - wie man sie bisher noch nicht vernommen hat.
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- 1 Mär 2010 - 12:09