Umbenennung von Straßen – historischer Exorzismus? Das Freiburger Modell
von Bernd Martin
Ein wesentliches Element des kollektiven Gedächtnisses eines Landes, einer Stadt oder einer Kommune sind nach „verdienten“ Personen benannte Straßen. Der Erinnerungswert ist jedoch politischen Schwankungen bzw. sich verändernden Wertvorstellungen unterworfen. Augenblicklich bestimmt die deutsche Kolonialgeschichte und deren rassistisches Herrschafts- und Ausbeutungssystem die öffentliche Debatte noch vor den Auseinandersetzungen über den deutschen Antisemitismus. Spürbare Folgen sind die recht unterschiedlich gehandhabten Umbenennungen von Straßen. In Mannheim sind jüngst vier historisch belastete Straßennamen ersetzt worden. Die drei bekanntesten und lange hochgeschätzten deutschen Kolonialpioniere Theodor Leutwein, Adolf Lüderitz, Gustav Nachtigall und der schwedische Asienforscher Sven Hedin wichen der österreichischen Reiseschriftstellerin Ida Pfeiffer, der französisch-schweizerischen Schriftstellerin Isabelle Eberhardt, dem Asienreisenden Marco Polo und dem Geophysiker Balthasar Neumayer. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus ermöglicht dieser Schritt allein jedoch nicht. Ohne an den Schildern angebrachte Erklärungen wird ein neues Geschichtsbild per Gemeinderatsbeschluss verordnet, das nicht hinterfragt werden kann.
Ganz anders die Situation in Berlin: Der Jahrzehnte andauernde Streit über eine Umbenennung der Heinrich-von-Treitschke-Straße wurde 2003 (vorläufig) von der Steglitzer Bezirksverordnetenversammlung zugunsten einer Beibehaltung des an den deutschen Historiker erinnernden Straßenschildes entschieden. Vorausgegangen war ein Bürgerentscheid der Einwohnerinnen und Einwohner der Straße, die mit großer Mehrheit eine Umbenennung abgelehnt hatten. Eine Neubenennung, so die mehrheitliche Meinung, koste nur Zeit und verursache auch noch dazu Kosten. Die von Treitschke entlehnte Losung „Die Juden sind unser Unglück!“ wurde offensichtlich bei der Urteilsfindung nicht genügend reflektiert. Treitschke zeichnet nicht dafür verantwortlich, dass die Losung in der Agitation der Nationalsozialisten allgegenwärtig war und auch zum Wahlspruch des Hetzblattes Der Stürmer wurde. Die antijüdischen Aussagen des von vielen Zeitgenossen hochgeschätzten Historikers besaßen jedoch Gewicht und verstärkten den ohnehin schon vorhandenen Antisemitismus. Die Juden galten ihm nicht als Deutsche, vielmehr diffamierte er sie als undankbare Fremde (Berg 2023).
Offensichtlich waren die politischen Gremien in Berlin nach der Vereinigung der Stadt mit der Umbenennung kommunistisch-sozialistischer Straßenschilder im Ostteil stark beschäftigt. Es verwundert nämlich auch, dass Teile der Freien Universität in Berlin-Dahlem an zwei Straßen liegen, die an den Einsatz deutscher Marinesoldaten bei der Eröffnung des Boxerkrieges erinnern. Die Takustraße ist nach den Sperrforts im Mündungsgebiet des Pei-ho, des Eingangstores nach Peking, benannt. Die verbündeten westlichen Truppen „eroberten“ die Forts, als die chinesische Besatzung bereits größtenteils abgezogen war. Die benachbarte Iltis-Straße erinnert an den Einsatz des Kanonenbootes Iltis II, das bei einem Artillerieduell einige Treffer erhielt. Deutsche Marinesoldaten eröffneten daraufhin zusammen mit Soldaten der anderen Interventionsmächte Kriegshandlungen gegen die Chinesen. Diese führten schließlich zum Krieg gegen die Boxer und zu einer gemeinsamen Intervention im „Reich der Mitte“.
Das Freiburger Modell
Die angeführten Beispiele zeigen, dass klare Leitlinien für die Umbenennung von Straßen fehlen. Dementsprechend erfolgt die Änderung oder Beibehaltung je nach Zusammensetzung der Entscheidungsgremien. Die damit verbundene Willkür zu vermeiden und die Autonomie der Entscheidung über Straßenumbenennungen zu bewahren, war von Anfang an das Ziel einer Initiative des Freiburger Gemeinderats, die inzwischen gern als Freiburger Modell bezeichnet wird. Oberste Entscheidungsinstanz über Umbenennungen muss der demokratisch gewählte Gemeinderat sein, der die Aufgabe zwar an eine Kommission delegieren kann, aber letztlich über die Änderung entscheiden muss. Die vom Gemeinderat vorgegebene Zusammensetzung der Kommission erwies sich als entscheidend für ihre Arbeit. Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind häufig in ihrem Arbeitsgebiet befangen und bei den notwendigen historischen Recherchen überfordert.
Weiterhin überaus wichtig für die Untersuchung ist der vorgegebene Zeitrahmen. Die meisten Recherchen befassen sich mit der nationalsozialistischen Zeit. Damit übergehen sie Personen und Orte, die an Kriege, wie etwa die Entscheidungsschlachten auf dem Wege zur Gründung des Deutschen Reichs oder an den Ersten Weltkrieg – oft auf heroisierende Weise, z.B. mit der Wendung „im Felde unbesiegt“ –, erinnern. Auch die nationalistische Aufwallung in den antinapoleonischen deutschen Befreiungskriegen führte zur Benennung von Straßen nach Personen wie Carl Theodor Körner, deren Ehrung mit heutigen Wertvorstellungen nicht vereinbar ist und auch damals nicht allgemein geteilt wurden. Eine solche Verherrlichung des Krieges sollte ein zentrales Kriterium bei der Neubeurteilung darstellen, die am besten Historikerinnen und Historikern anvertraut werden sollte.
Die Zusammensetzung der Kommission, teilweise vom Gemeinderat vorgegeben, teilweise vom eingesetzten Vorsitzenden der Kommission mitbestimmt, war für das Freiburger Modell von ganz entscheidender Bedeutung. Den Vorsitz übernahm ein emeritierter Professor für Neuere Geschichte – der Verfasser dieses Berichts –, dem sechs historisch arbeitende Fachleute (zwei Archivare, eine Politologin und drei Historiker) sowie eine Soziologin, die Vorsitzende der Abteilung für Gender Studies, beigegeben wurden. Die Arbeit der recht homogen zusammengesetzten Kommission war daher historisch ausgerichtet. Einer der von der Stadtverwaltung bestellten und bezahlten Historiker war für die Vorbereitung der Sitzungen bestimmt. Er hatte die Aufgabe, den Werdegang der zu untersuchenden Person, ihren Einflusskreis und ihre Verbindungen in die Politik nachzugehen, etwa Parteizugehörigkeit. Die Ergebnisse der Recherche präsentierte er in einem Papier, das der Kommission als Diskussionsgrundlage diente. Oftmals wurden die Ergebnisse kritisch hinterfragt und weitere Recherchen angeregt. Die verwandte Denk- und Vorgehensweise der Mitglieder der Kommission wurde bereits zu Anfang der Arbeit deutlich.
Die erbetene Durchsicht aller 1.300 Freiburger Straßennamen, etwa zur Hälfte nach Personen benannt, ergab frappierende Überschneidungen und insgesamt 60 Problemfälle. Zu diesem Zeitpunkt fehlten jedoch noch die Beurteilungskriterien. Neu- und Umbenennungen in der nationalsozialistischen Zeit beliefen sich auf die relativ geringe Zahl von 144 Fällen, bei denen nur die gute Hälfte personenbezogen war. Offensichtlich standen nicht genügend nationalsozialistische Führungspersonen zur Verfügung, sodass der Stadtrat unverfängliche Ortsnamen wählte. Die nach den NS-Größen umbenannten Straßen ließ die französische Besatzungsmacht bereits im Juli 1945 abhängen und die alten Bezeichnungen wieder installieren.
Kriterien für eine Straßenumbenennung
Die vom Kulturamt der Stadt erwünschte Überprüfung aller Namen nach „historischen, ethischen und politischen Maßstäben“ gab recht allgemeine Richtlinien vor, denen zufolge Bezüge zur Diktatur, Militarismus, Nationalismus, Chauvinismus, Kolonialismus und Antisemitismus vermieden werden sollten. Das warf zugleich die Frage auf, ob heutige Rechts- und Moralvorstellungen allgemeingültiger Maßstab sein sollten. In jedem Fall schien eine Einzelbewertung geboten und ein behutsames Vorgehen angebracht. Daraufhin bestimmte die Kommission in einigen der insgesamt 18 Sitzungen erweiterte Kriterien und legte ein für alle Namen gleiches Procedere fest. Zunächst war herauszufinden, zu welchem Zeitpunkt, von welchen Kreisen, mit welcher Begründung eine Straßenbenennung angeregt worden war und wie sich die städtischen Instanzen, vor allem der Gemeinderat, dazu verhalten hatten. Im Laufe der Diskussionen kristallisierten sich genauere Ausschlusskriterien heraus:
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Aktive Förderung des Nationalsozialismus von führender Position aus
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Aggressiver Antisemitismus von Multiplikatoren, die über entsprechenden Einfluss verfügten
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Extremer Rassismus in Theorie und/oder Praxis
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Militarismus in Form von Glorifizierung, etwa des Ersten Weltkrieges (Dolchstoßlegende)
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Extreme, unzeitgemäße Frauenfeindlichkeit
Der gründlichen Prüfung stand häufig die unzureichende Quellenlage entgegen. Die Resultate der Entnazifizierungsverfahren taugen als Beweismaterial wenig. Auch die Mitgliedschaft in einer radikalen Partei sagt zunächst nichts über die entsprechende Betätigung der Person aus. Die vielfältige Expertise und das unterschiedliche Herangehen der Kommissionsmitglieder führten oftmals zum Auffinden von unbekanntem Material, belastendem oder entlastendem, und somit zu einer Neubewertung.
Schließlich wurde ein Grobraster mit drei Kategorien entworfen. Kategorie A: Schwerbelastet, nicht haltbar. In diese Kategorie fielen in Freiburg schlussendlich zwölf Personen, an die Straßenschilder erinnerten. Hier mussten die Schilder fraglos abgenommen und durch neue ersetzt werden. Die Kategorie B umfasste die schwierigen Fälle, die diskussionswürdig waren. Die Kategorie C enthielt die unbelasteten Fälle, bei denen kein Handlungsbedarf bestand. Diese Rubrik wurde im Laufe der Sitzungen nochmals aufgegliedert in eine Reihe C1 der Namen, die heute nicht mehr vergeben würden, und einer weiteren Reihe C2, von Namen, die auch für heutige Vorstellungen akzeptabel erscheinen. Rege Diskussionen führten zu Verschiebungen bestimmter Namen innerhalb der Gruppen. Eine alphabetische Sortierung oder die Zusammenfassung aufgrund ähnlicher Delikte oder Verstrickungen belasteter Personen in Gruppen erwiesen sich als wenig hilfreich, um die schillernden Persönlichkeiten in ihrem Tun und Handeln zu erfassen. Es fehlte die Vergleichbarkeit. Diese schien eher gegeben, wenn die Untersuchungen sich auf bestimmte Berufsgruppen (Mediziner, Künstler, Militärs, Verwaltungsfachleute) bezogen. Im Vergleichen der einzelnen Personen konnten die Verfehlungen besser erfasst und dem Berufsbild entsprechend eingeordnet werden. Über jeden Fall der in Kategorie A und B erfassten Personen wurde ein ausführliches Gutachten verfasst und in der Regel einstimmig von der Kommission gebilligt.
Nach nahezu dreijähriger Arbeitszeit und achtzehn Vollsitzungen der Kommission wurde der Abschlussbericht erst dem Gemeinderat, und, von diesem akzeptiert, der Öffentlichkeit in digitaler Form vorgelegt. Der Vorsitzende der Kommission stand in einer Sitzung des Gemeinderats den gewählten Abgeordneten Rede und Antwort. Den Vertretern der „Linken“ waren zu wenig Personen erfasst worden; die rechten Gruppierungen hielten die Zahl der erörterten Fälle für zu hoch. Die Kommission nahm dieses Votum als Anerkennung für die geleistete, auf Ausgleich bedachte Arbeit.
Beispiele für die Auseinandersetzung: Hindenburg und Staudinger
In der Freiburger Öffentlichkeit stießen Befürworter und Gegner der vorgeschlagenen Straßenumbenennungen jedoch stärker aufeinander. Eine große Kontroverse erbrannte über die Hindenburgstraße, die nach dem Vorsitzenden der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, Otto Wels, umbenannt werde sollte. Wie in anderen Städten regte sich Widerstand, den ehemaligen Reichspräsidenten und populären Weltkriegsgeneral wegen seinen politischen Verfehlungen dem Vergessen anheimfallen zu lassen. Eine vom Bürgermeister einberufene Versammlung konnte Klarheit schaffen und die Gemüter beruhigen. Auch in weiteren Freiburger Bürgerversammlungen zu diesem Thema wurde demokratisch gestritten, dabei die Opponenten größtenteils überzeugt.
Einen Sonderfall stellten die Recherchen über die vermeintlichen Verfehlungen des Chemikers und Nobelpreisträger Hermann Staudinger dar. In den Akten des Universitätsarchivs fanden sich Briefe von 1942, in denen sich der Professor beim Rektor beschwerte, immer noch „Halbjuden“ unterrichten zu müssen. Eine Studentin wurde mit vollem Namen genannt und damit denunziert. In einer Bürgerversammlung wurde daraufhin angeregt, den Fall nochmals genauer zu untersuchen.
Eine Arbeitsgruppe des Leistungskurses Geschichte an der Staudinger Gesamtschule ging den Vorwürfen nach und fand die damals beklagte Studentin als hochbetagte Zeugin vor. Diese stritt vehement jeglichen Antisemitismus Staudingers ab. Der Professor habe vielmehr die Briefe nach Absprache mit ihr geschrieben, um ihr den Studienplatz zu sichern und sie vor Verfolgung zu schützen. Staudinger habe selbstverständlich gewusst, dass „jüdische Mischlinge“ mit Genehmigung des Reichserziehungsministerium studieren durften. Das negative Urteil der Kommission wurde daraufhin revidiert und die Staudingerstraße nicht umbenannt. Eine solche dokumentarische Tarnung von Wohlverhalten ist sicherlich selten, lässt sich aber auch in anderen Fällen nicht ausschließen. Im Fall Staudinger hat der demokratische Dissens die Kommission vor einem Fehlurteil bewahrt.
Fazit
Inzwischen hat die Stadt die zwölf vorgeschlagenen Umbenennungen vollzogen, die Straßenschilder abgehängt und durch neue ersetzt, auf denen immer der Grund für die Absetzung benannt und der neue Name erläutert wird. Am einfachsten fiel die Entscheidung zur Frage der Umbenennung im sogenannten Heldenviertel in Freiburg-Wiehre. Dort wurden die an deutsche Kampfhandlungen bzw. Kriegsmythen des Ersten Weltkriegs erinnernden Namen umgewidmet. So ist etwa die Skagerrakstraße nun ein Gedenkort für die Toten beider Seiten. Die Straßenumbenennungen in Freiburg sind seit 2016 abgeschlossen, doch neue Erkenntnisse und sich wandelnde gesellschaftliche Wertvorstellungen werden für weitere Änderungen sorgen. Ein Vergessen der dunklen Seiten unserer Geschichte sollte dabei auch in Zukunft vermieden werden.
Literatur
Berg, Nicolas (Hrsg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Berlin 2023.
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- 18 Dez 2024 - 09:49