Clara Mansfeld ist Historikerin und in der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte für Digitale Kommunikation zuständig. Davor arbeitete sie als pädagogische Mitarbeiterin bei den Gedenkstätten Brandenburg an der Havel, in dieser Funktion konzipierte und realisierte sie das Projekt geschichte-inklusiv.de.

von Clara Mansfeld

 

Das Website-Projekt

Die Website geschichte-inklusiv.de ist ein Projekt der Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde Brandenburg an der Havel und wurde im Februar 2022 gelauncht. Die Website bietet die Gelegenheit, sich online mit dem Themenkomplex der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen zu beschäftigen. Besonderheit des Angebots sind seine einfache Sprache und eine leichte Navigation. In den drei Kapiteln „Die national-sozialistischen Euthanasie-Verbrechen“, „Die Tötungs-Anstalt in Brandenburg an der Havel“ und „Wie gehen wir heute mit dieser Geschichte um?“ ermöglicht die Seite eine Auseinandersetzung mit diesem nationalsozialistischen Verbrechenskomplex (vgl. Ley/Hinz-Wessels 2012) und gegenwärtigen erinnerungskulturellen Praktiken.

„Wie gehen wir heute mit dieser Geschichte um?“, Websiteausschnitt geschichte-inklusiv.de. © GBadH  

Dabei wird zunächst die Geschichte der Tötungsanstalt in Brandenburg an der Havel erzählt. Ausgehend davon erfahren die Nutzer*innen auch anderes über die nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen. Die Webseite führt in die Lebensgeschichten der Opfer ein, nimmt aber auch Täter*innen sowie die Stadtbevölkerung in den Blick. Im letzten Kapitel – „Wie gehen wir heute mit dieser Geschichte um?“ – werden Akteur*innen der Erinnerungskultur vorgestellt. Die Website ermöglicht mit vier eigens dafür produzierten Videos, historischen Fotografien und Dokumenten (diese sind durchgehend mit Alternativ-Texten versehen) sowie Texten in einfacher Sprache, die man sich auch vorlesen lassen kann, vielfältige Zugänge zu komplexen historischen Sachverhalten. Sie regt zugleich zur Reflexion der eigenen Position an.

Analoges Inklusions-Projekt und digitale Teilhabe

Bereits 2016 hat die Gedenkstätte gemeinsam mit der Lebenshilfe Potsdam-Brandenburg ein erfolgreiches inklusives Angebot etabliert. Es wurde 2015 von Menschen mit Lernschwierigkeiten gemeinsam mit den Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte entwickelt. Buchbar sind Studientage für Menschen mit und ohne Lernschwierigkeiten (vgl. Mansfeld 2020; Marx 2021). An diesen Studientagen führen Guides mit Lernschwierigkeiten zusammen mit Gedenkstättenpädagog*innen durch die Gedenkstätte und informieren über die Geschichte des historischen Ortes. Auch, weil dieses und ähnliche Angebote während der Covid-19-Pandemie lange Zeit nicht stattfinden konnten, wurden Fragen von digitaler Teilhabe vielerorts mit neuem Bewusstsein diskutiert (beispielsweise: Wer hat noch Zugang, wenn Zeitfenstertickets für Museen und Schwimmbäder lediglich online buchbar sind?).

Dabei wurde digitale Teilhabe primär mit Blick auf alte Menschen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen diskutiert und ein großer Nachholbedarf identifiziert (Borgstedt/ Möller-Slawinski 2020). Drei unterschiedliche Aspekte traten hervor: 1. Zugang zu digitaler Infrastruktur und digitalen Systemen, 2. digitale Kompetenz, um diese selbstbestimmt und eigenständig nutzen zu können und 3. passende Angebote, die Zugänge in den digitalen Raum ermöglichen und eine Auswahl zulassen.

Geschichte-inklusiv.de setzt als barrierearme, digitale Informationsressource für alle, die mehr über die Geschichte der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen wissen wollen, am dritten Aspekt an. In der Planungsphase wurden als primäre Zielgruppe Menschen definiert, die (noch) nicht gut mit dem Internet umgehen können, Probleme mit schwerer Sprache haben oder nicht so gut lesen können. Die Webseite wurde nicht nur für, sondern mit dieser Zielgruppe zusammen entwickelt. Die bereits im analogen Inklusionsprojekt der Gedenkstätte arbeitenden Guides mit Lernschwierigkeiten nahmen an Workshops mit der Web-Agentur „Erdmännchen und Bär“ und Mitarbeiter*innen der Gedenkstätte teil. Dadurch konnte ihre Perspektive in die inhaltlichen Überlegungen einfließen und die Webseite auf diese Weise in einem inklusiven Entwicklungs- und Designprozess realisiert werden. Zudem wurde ein Prototyp der Website von den Guides und weiteren Mitarbeit*innen der Lebenshilfe Potsdam-Brandenburg ausführlich getestet. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse flossen in die Optimierung der Webseite ein.

Neben dem dezidiert partizipativen Prozess hat die Website von zwei grundlegenden Entscheidungen profitiert: zum einen, dass man sich dafür entschied, auf die Erfahrungen mit dem analogen Angebot für Menschen mit Lernschwierigkeiten in der Gedenkstätte zurückzugreifen. Hieraus wurden einige Aspekte in die Webseite übernommen, aber im Bewusstsein, dass eine „eins zu eins“-Übersetzung vom Analogen ins Digitale nicht funktioniert, sondern dass das Digitale eine eigene Struktur, eigene Aufbereitung, andere Zugänge und Erzählweisen benötigt. Auch eine andere grundlegende Entscheidung erwies sich als gewinnbringend: die, keine „Übersetzung“ der Gedenkstättenwebsite in Einfache Sprache anzustreben, sondern ein eigenständiges Angebot, das kein „Add-on“ ist und ortsunabhängig funktioniert.

Erfahrungen mit geschichte-inklusiv.de

Nach dem Launch wurde das Projekt auf viele Tagungen, zu Summer Schools und Seminaren zu historisch-politischer Bildung oder Vermittlungsarbeit in Gedenkstätten eingeladen. Diese erfreulich große Resonanz weist sicherlich auch darauf hin, dass es hier Leerstellen gab und gibt. Bei digitalen inklusiven Projekten existiert nach wie vor Nachholbedarf. Schwerer war und ist es, geschichte-inklusiv.de in der Zielgruppe, die in weiten Teilen (noch) nicht digital-affin ist, bekannt zu machen. Hier wären mögliche Ansätze, dezidiert mit Multiplikator*innen zu arbeiten oder Menschen mit Lernschwierigkeiten zu Peer-Berater*innen fortzubilden, so dass sie im Anschluss in die Nutzung der Webseite einführen können.

Was bereits kurz nach der Veröffentlichung deutlich wurde: Geschichte-inklusiv.de wird auch über die ursprünglich adressierte Zielgruppe hinaus genutzt. Die Seite wurde etwa in Bildungsangeboten für Menschen, die gerade Deutsch lernen, oder für jüngere Kinder eingesetzt.

Wie bei vielen digitalen Projekten endete auch bei geschichte-inklusiv.de der Förderzeitraum mit der Veröffentlichung der Webseite (das Projekt wurde im Rahmen von Neustart Kultur gefördert). Auch aus diesem Grund ist es bisher nur bedingt gelungen, das Projekt langfristig in die alltägliche Vermittlungsarbeit der Gedenkstätte einzubinden oder es weiterzuentwickeln, etwa mit hybriden Konzepten, die die Nutzung der Webseite mit einem Besuch am historischen Ort verknüpfen. Das Problem ist also auch hier die fehlende Nachhaltigkeit vieler Förderungen. Dies gilt es zukünftig bei Fördergeber*innen und Fördernehmer*innen für digitale Projekte mitzudenken. Denn digitale, inklusive Projekte fördern nicht nur die digitale Teilhabe, sondern bieten auch vielfache Möglichkeiten für die historische Bildung.

Literatur

Borgstedt, Silke/Möller-Slawinski, Heide: Digitale Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Trendstudie [Sinus-Studie im Auftrag der Aktion Mensch], Heidelberg/Berlin 2020.

Ley, Astrid/Hinz-Wessels, Annette (Hrsg.): Die Euthanasie-Anstalt Brandenburg an der Havel. Morde an Kranken und Behinderten im Nationalsozialismus, Berlin 2012.

Mansfeld, Clara: Menschen mit Lernschwierigkeiten als Vermittelnde von Geschichte. Historisch-politische Bildungsarbeit und inklusive Begegnungen in der „Euthanasie“-Gedenkstätte Brandenburg, in: Meyer, Dorothee/Hilpert, Wolfram/Lindmeier, Bettina (Hrsg.): Grundlagen und Praxis inklusiver politischer Bildung, Bonn 2020, S. 239–252.

Marx, Christian: Von Menschen mit Lernschwierigkeiten – für Menschen mit Lernschwierigkeiten. Inklusiver Ausbau der gedenkstätten-pädagogischen Angebote der NS-Euthanasie-Gedenkstätte in Brandenburg an der Havel für Menschen mit Lernschwierigkeiten, in: Musenberg, Oliver et al. (Hrsg.): Historische Bildung inklusiv. Zur Rekonstruktion, Vermittlung und Aneignung vielfältiger Vergangenheiten, Bielefeld 2021, S. 399–408.

 

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