Miriam Menzel ist Programmmanagerin bei der Alfred Landecker Foundation. Sie betreut Projekte zu Digital History and Memory, darunter auch digitale Spiele. Bei der Digitalkonferenz re:publica 24 moderierte sie die Podiumsdiskussion „Why should I care about the Holocaust? Neue Zugänge mit digitalen Spielen“.

von Miriam Menzel

Digitale Spiele sind längst Teil unserer Alltagskultur. 58 % der 6- bis 69-Jährigen spielen laut aktuellem Jahresreport der Deutschen Gamesbranche auf ihren Smartphones, PCs, Tablets oder Konsolen. Das Durchschnittsalter der Spielenden liegt derzeit bei 38,2 Jahren, fast die Hälfte ist weiblich. Die Genres und Szenarien der Top-Spieletitel sind ebenso vielfältig wie die Spielenden selbst, sie reichen von Fußballsimulationen über First-Person-Shooter, Fantasy- und Action-Abenteuer bis hin zu Aufbaustrategiespielen in historischen Settings. Dazu kommen diverse mobile Puzzle-Games.

All diese Spiele lassen uns in andere Welten eintauchen, sorgen für Unterhaltung und Ablenkung vom Alltag. Für Gedenkstätten, Museen sowie weitere Akteur:innen der Gedenkarbeit und historisch-politischen Bildung können digitale Spiele aber auch eine niedrigschwellige und zielgruppennahe Auseinandersetzung mit dem Holocaust ermöglichen. Mit welchen Ansätzen und Spielen das gelingen kann, war Thema der Podiumsdiskussion „Why should I care about the Holocaust? Neue Zugänge mit digitalen Spielen“ bei der Digitalkonferenz re:publica 24, die vom 27. bis zum 29. Mai 2024 in Berlin stattfand. Auf Einladung der Alfred Landecker Foundation diskutierten Tabea Widmann von der Stiftung Digitale Spielekultur, Michael Zöller vom Leipziger Independent Game Studio ROTxBLAU und Markus Bassermann von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen über aktuelle Spieleentwicklungen und Projekte sowie die besondere Rolle digitaler Spiele in der Erinnerungskultur. Eine Zusammenfassung des Gesprächs. 

Abb.1 Podiumsdiskussion bei der re:publica 24. © Giulio Rasi/Alfred Landecker Foundation

Erinnern als interaktiver Prozess

Für Markus Bassermann von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte sind digitale Spiele ein interaktives Medium, mit dem Erinnerung erfahrbar wird und lebendig bleiben kann: „Je entrückter die Vergangenheit ist, desto wichtiger wird die Frage danach, welche Praktiken mit ‚Nie wieder‘ verbunden sind und was es bedeutet zu erinnern“. 

Ein entscheidender und u.a. für Gedenkstätten und die Bildungsarbeit interessanter Aspekt bei digitalen Games sei die intensive interaktive Auseinandersetzung mit dem Spiel, sagt Spieleentwickler Michael Zöller. Im Gegensatz zum passiven Zuschauen bei Filmen, bei denen man jederzeit ein- und aussteigen könne, müsse man sich bei Spielen aktiv engagieren und Barrieren überwinden, um Fortschritte zu machen. „Wir bauen Hindernisparcours und machen es Spielenden paradoxerweise erstmal schwer“, so Zöller. Er betonte zugleich, dass die genaue (neuronale) Wirkung solcher Spielmechaniken bislang kaum erforscht sei. Was sich jedoch – z.B. bei Spielen wie Tetris – beobachten lasse, sei, dass gut gebaute Hindernisparcours die Spielenden „in einen ähnlichen Flow-Modus wie bei sportlichen Aktivitäten bringen“, was dafür sorge, sich lange und intensiv mit dem Spiel zu beschäftigen.

Obwohl Digitale Spiele diese besondere Wirkung entfalten können und bereits für viele Menschen zum Alltag gehören, scheint es Vorbehalte oder Berührungsängste aufseiten der Spielenden zu geben, wenn es um sensible Themen geht. So können sich aktuell nur 17 % der über 18-Jährigen vorstellen, ein digitales Spiel mit Bezug zum Nationalsozialismus zu spielen. Das ist das Ergebnis einer Umfrage der Alfred Landecker Foundation mit YouGov, die auch auf dem re:publica-Podium diskutiert wurde.

Wenn digitale Erinnerungskulturen für die kommenden Generationen bedeutungsvoll sein sollen, muss man sie in ihrer Lebenswelt abholen“, betont Tabea Widmann. Es gibt bereits eine Reihe von digitalen Spielen, die das berücksichtigen. Sie richten sich an junge Spielende und möchten bei ihnen eine aktive Auseinandersetzung mit Gedenkarbeit und Erinnern auslösen. Ein solches Spiel ist Erinnern. Die Kinder vom Bullenhuser Damm, das in Zusammenarbeit mit der gleichnamigen Gedenkstätte und mit Förderung der Alfred Landecker Foundation entstanden ist.

„Was hat das mit mir zu tun?“

Das Spiel behandelt zum einen das Endphaseverbrechen im ehemaligen Nebenlager des KZ Neuengamme, bei dem 1945 kurz vor Kriegsende 20 jüdische Kinder und mindestens 28 Erwachsene ermordet wurden. Zum anderen geht es um das Erinnern an dieses Verbrechen. Thematisiert wird dies im Spiel aus der Perspektive von fiktiven Schüler:innen der Schule Bullenhuser Damm in den späten 1970er-Jahren.

Es gibt fünf spielbare Charaktere, die im Verlauf des Spiels mit Zeitzeug:innen ins Gespräch kommen, Erinnerungsgegenstände sammeln und so aktiv dazu beitragen, dass das nationalsozialistische Verbrechen nicht vergessen wird. Über diese Spielmechanik würden die jungen Spielcharaktere direkt mit der Vergangenheit konfrontiert, das rege sie zum Nachdenken an, sagt Projektleiter Markus Bassermann. Und es beantworte eine Frage, die sich viele Jugendliche beim Besuch der Gedenkstätte stellten: Was hat das mit mir zu tun?

Einen anderen Ansatz wählt das Indie Game Meine Oma (88), das derzeit von Michael Zöllers Game Studio entwickelt wird. Es soll vor allem Erwachsene über kommerzielle Vertriebswege erreichen und nur in zweiter Linie an schulischen und außerschulischen Lernorten zum Einsatz kommen. Im Spiel kann man in die Rolle einer Enkelin schlüpfen, die versucht, die Geheimnisse ihrer Familie während des Nationalsozialismus zu lüften. Im Laufe des Spiels taucht die Enkelin immer tiefer in die Erzählungen ihrer Großmutter ein, hinterfragt Erinnerungen und muss im Durchlaufen und Durchbrechen sehr anstrengender Loops herausfinden: Was wird in ihrer Familie verdrängt und verschwiegen und was hat das mit ihr selbst zu tun? 

Kein Geschichtsunterricht durch die Hintertür

Die ersten Prototypen-Tests mit unterschiedlichen Zielgruppen zeigten, so Michael Zöller, dass das Spielen von Meine Oma (88) eine starke Wirkung auf Spielende haben kann. Die Spielmechanik erfordert, dass man sich aktiv gegen die Figur der Oma und ihre Anweisungen stellt. Schon das falle Einigen schwer. Vielen werde bewusst, dass möglicherweise auch in ihrer eigenen Familie Schweigen über den Nationalsozialismus herrscht. Und Tests unter Schüler:innen machen deutlich, dass sie Meine Oma (88) als vollwertiges Spiel wahrnehmen: „Sie merken, das ist kein Lernspiel, das ist kein Geschichtsunterricht durch die Hintertür“. Zugleich komme oft die Frage auf, wie authentisch das Gezeigte sei.

Bei solchen Spielen gehe es weniger darum, die Vergangenheit möglichst realistisch abzubilden, unterstreicht Tabea Widmann. Im Fokus stehe stattdessen, Erinnerungsprozesse darzustellen und in Gang zu setzen: „Games sind wie alle Erinnerungskulturen immer nachgemacht. Sie können aber authentisch Erinnerungsprozesse an sich darstellen. Erinnerungsprozesse sind Erfahrungen, die wir durchleben.“

Das geschehe nicht nur in Spielen, die speziell als Beitrag zur Erinnerungskultur entwickelt wurden: „Auch Call of Duty zeigt nicht den Zweiten Weltkrieg, wie er war. Das ist eine Deutung, die ganz bestimmte Narrative von Heldentum, von einem amerikanischen Diskurs trägt“, so Widmann. Um den Wert der Spiele für die Erinnerungskultur zu beurteilen, sei es wichtig zu fragen, welche Geschichtsbilder in Spielen vermittelt werden. 

Die Zukunft der Erinnerungskultur 

Dabei hilft zum Beispiel die Datenbank Games und Erinnerungskultur der Stiftung Digitale Spielekultur. Dort sind aktuell 80 Spiele mit besonderer erinnerungskultureller Relevanz gesammelt und kategorisiert. Dazu gehören Spiele zum Nationalsozialismus, zum Holocaust, zu den Weltkriegen, aber auch zu den Themen Kolonialismus, deutsch-deutsche Geschichte und Migrationsgeschichte. Die Beiträge der Datenbank verorten die Spiele in aktuellen Diskursen und reflektieren Möglichkeiten der erinnerungskulturellen Nutzung – zum Beispiel für Lehrende und außerschulische Bildner:innen.

Auf dem re:publica-Panel wurde deutlich, dass und warum digitale Spiele kein Nischenthema in der erinnerungskulturellen Landschaft sein sollten. Dabei drehen sich aktuell viele Ansätze immer noch stark um Jugendliche als Zielgruppe und um Schule als Ort des Spielens. Parallel lohnt es sich darüber nachzudenken, wie in Zukunft auch Erwachsene und Menschen außerhalb formaler Bildungskontexte mit digitalen Spielen zu sensiblen Themen erreicht werden können. Bei der Konzeption und Umsetzung entsprechender Ansätze haben Entwicklungsstudios, Gedenkstätten, Akteure wie die Stiftung Digitale Spielkultur und Förderer noch viel vor sich. 

 

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