Neubewertung sowjetischer Denkmäler in Ostmitteleuropa: Fortführung des Widerstands gegen den Staatssozialismus?
Stephanie Beetz
Denkmäler transportieren Narrative und bisweilen auch Ideologien aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart, in der sie aktualisiert werden. Obwohl sie – oft auch wortwörtlich – in Stein gemeißelt sind und damit etwas Endgültiges an die Betrachter*innen herantragen, lassen ihre Botschaften sie, auch in gegenwärtigen Gesellschaften, dynamisch werden und machen mitunter eine erneute Auseinandersetzung und ggf. eine gesellschaftliche Neubewertung erforderlich.
Die Notwendigkeit dazu resultiert oft aus politischen Ereignissen und gesellschaftlichen Prozessen – national wie international –, und insbesondere im Zuge tiefgreifender politischer, ökonomischer und kultureller Transformationsprozesse. Die Staaten Ostmitteleuropas befinden sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zum Teil noch immer in solchen Aushandlungsprozessen, in denen ihre nationale Identität neu geformt wird.
Zuletzt löste der russische Angriffskrieg auf die Ukraine in vielen dieser Staaten eine Neubewertung ihrer kommunistischen Vergangenheit sowie verbliebener sowjetischer Denkmäler aus. Die Debatten darüber sind oft hitzig und emotional: Unterschiedliche kollektive Erinnerungen und historische Narrative sowie deren Bewertung treffen aufeinander. Insbesondere im Hinblick auf den einstigen Widerstand gegen den Staatssozialismus stellt sich die Frage, ob der Verbleib sowjetischer Denkmäler die Erinnerung an diesen Widerstand trübt und ob deren Entfernung diesen sogar fortsetzt.
DENKMÄLER ALS BOTSCHAFTER DER
VERGANGENHEIT
Denkmäler sind kulturell und politisch aufgeladene Symbole. Sie erinnern an historische Ereignisse oder Akteur*innen, die im nationalen Gedächtnis eines Landes sowohl mit Trauer als auch mit Triumph verbunden sein können. Durch ihre Präsenz im öffentlichen Raum vermitteln sie ein spezifisches Bild einer Nation, ihrer Gesellschaft und deren Geschichte, die von bestimmten Werten geprägt ist. Errichtet werden sie meist von politischen Eliten, die bei der Gestaltung der nationalen Erinnerungskultur eine zentrale Rolle einnehmen (Bellentani 2021: 33). Denkmäler vermitteln nicht nur politische Botschaften, sondern sie festigen auch Wertvorstellungen, legitimieren politische Machtausübung und manifestieren soziale Dynamiken der Ein- und Ausgrenzung innerhalb einer Gesellschaft. Die Erinnerung an historische Ereignisse sowie deren Bewertung wird geformt, wobei insbesondere in autoritären Staaten oftmals lediglich eine legitime Form der Erinnerung sowie Bewertung transportiert wird (ebd.: 45). Denkmäler adressieren in dieser Funktion mehrere zeitliche Ebenen: den Zeitpunkt ihrer Errichtung, den gegenwärtigen Augenblick und eine Verknüpfung mit der Zukunft, die in der plastischen Manifestation ihrer Botschaften verbindlich erscheint (Dräger 2023: 179).
SOWJETISCHE DENKMÄLER ALS
KONTROVERSES ERBE
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde die kommunistische Staatsdiktatur in den ostmitteleuropäischen Staaten überwiegend kritisch beurteilt. Zudem führten die tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse, die diese Länder in den 1990er Jahren durchliefen, zu einer Neuformung ihrer nationalen Identität. Die neuen Eliten der Postsowjet-Ära begannen schon kurz nach Ende der Diktatur mit der Entfernung alter sowjetischer Denkmäler und Symbole, die im kommunistischen System im öffentlichen Raum stark präsent waren. Insbesondere Länder, die sich nach ihrer Unabhängigkeit schnell dem Westen zuwandten, gingen bei der Entfernung solcher Denkmäler konsequent und zügig vor. Auch die baltischen Staaten durchliefen in den 1990er Jahren eine sogenannte Desowjetisierung und begannen schon kurz nach ihrer Unabhängigkeit mit den Abrissarbeiten. Gleichwohl ist die Thematisierung der sowjetischen Vergangenheit sowie der Umgang mit ihren Denkmälern auch heute noch präsent. So gab der russische Angriffskrieg auf die Ukraine in vielen ostmitteleuropäischen Staaten einen erneuten Anstoß, verbliebene sowjetische Denkmäler zu entfernen, so etwa in Litauen und Estland, aber auch in Polen.
Allerdings koexistieren gerade in den baltischen Staaten mehrere historische Narrative und ethnische Identitäten parallel, da hier u.a. eine große russische Minderheit lebt, die zwar die Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes besitzt, doch mitunter eine eigene nationale Identität für sich beansprucht, die sich von der Mehrheitsgesellschaft unterscheidet (Bellentani 2021: 40). Eine konkurrierende Bewertung des Staatskommunismus als repressive Besatzung einerseits und als Befreier vom Naziregime andererseits führt daher bei der Entfernung von sowjetischen Denkmälern zu Konflikten. Gleichzeitig sind die verschiedenen ethnischen Gruppen in den baltischen Staaten auch in sich divers. Dementsprechend vertreten sie nicht immer die gleiche Meinung, wenn es um die (Neu-)bewertung der sowjetischen Vergangenheit geht. Darüber hinaus haben sich insbesondere die baltischen Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwar dem Westen zugewandt, geleichzeitig wurden jedoch auch landesspezifische traditionelle Werte, die während der sozialistischen Diktatur unterdrückt wurden, wiederbelebt. Die Schaffung eines neuen nationalen Selbstbildes ist daher bis heute in Bewegung.
MÖGLICHKEITEN DER NEUGESTALTUNG
Der Abriss ist nicht die einzige Option, kontroverse Denkmäler politisch umzuwerten. Zudem ist er aus Gründen des Denkmalschutzes auch nicht immer möglich. So kann etwa die gezielte Veränderung der Umgebung, in der sich das Denkmal befindet, zur Veränderung der ursprünglichen politisch-ideologischen Bedeutung führen, beispielsweise durch architektonische Veränderungen im Stadtbild oder durch die Errichtung neuer Denkmäler. Deren Deutungsangebote und die mit ihnen verknüpften historischen Narrative können die ursprüngliche Intention des Denkmales irritieren. Gleichzeitig kann die Umsiedlung eines Denkmals an einen weniger prominenten oder an einen für die Öffentlichkeit unzugänglichen Ort ebenfalls eine Alternative zur Zerstörung sein.
Darüber hinaus schlägt der Historiker Jürgen Zimmerer das Konzept des Gegendenkmals vor, bei dem ein Denkmal verändert bzw. umgewidmet wird, um eine Antithese zu seiner ursprünglichen Bedeutung zu entwickeln (Deutschlandfunk Nova 2020). Dieser Vorgang kann politisch gesteuert oder auch von der Zivilgesellschaft herbeigeführt werden. Er verleiht dem Denkmal eine neue politische Bedeutung, er kann es entpolitisieren oder popkulturell umdeuten, wie etwa 2015 in Odessa, als der ukrainische Künstler Alexander Milov eine Lenin-Statue mit einer Darth-Vader-Maske versehen hat. Somit wird ihm seine ursprüngliche Bedeutung sowie sein vermeintlicher Vorbildcharakter genommen und ein Neuaushandlungsprozess angestoßen.
DENKMÄLER IM SCHULUNTERRICHT
Die politische und historische Relevanz von Denkmälern sowie deren potenzielle Umstrittenheit kann auch im Geschichtsunterricht vielschichtig beleuchtet und erörtert werden. Dabei lässt sich das Thema nicht nur theoretisch erarbeiten, indem etwa die Funktionen und gesellschaftlichen Bedeutungen von Denkmälern in Verbindung mit geschichtlichen Ereignissen behandelt werden. Auch die Erkundung von Denkmälern in der eigenen Umgebung bietet sich für die Erschließung des Gegenstands im Unterricht an, indem diese etwa von den Schüler*innen analysiert, interpretiert und miteinander verglichen werden (vgl. dazu Dräger 2021 und 2022).
Die Staaten Ostmitteleuropas haben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschiedenste Wege des Umgangs mit kontroversen sowjetischen Denkmälern gewählt. Dabei ist der klassische Denkmalsturz, wie etwa die Entfernung des sowjetischen Bronzesoldaten 2007 in Tallinn oder der Sprengung sowjetischer Statuen auf der Grünen Brücke 2015 in Vilnius, besonders in den baltischen Staaten die verbreitetste Form. Weiterhin gibt es auch kontrovers diskutierte Projekte, dazu zählt etwa der von einem litauischen Unternehmer betriebene Grūtas-Park, in dem alte sowjetische Statuen in einer Art Freilichtmuseum mit Freizeitparkflair ausgestellt werden.
Die Debatte darüber, ob der Verbleib alter sowjetischer Denkmäler die Erinnerung an den Widerstand gegen die sozialistische Staatsdiktatur trübt oder ob umgekehrt deren Entfernung oder Umgestaltung den Widerstand gegen diese fortführt, bleibt unabgeschlossen. Die politische, kulturelle und gesellschaftliche Neubewertung wird weiterhin von zukünftigen politischen Ereignissen sowie von den Regierungen postsowjetischer Staaten und deren Zivilgesellschaften geformt werden.
LITERATUR
Deutschlandfunk Nova, 8.6. 2020: Solange die Denkmäler ungebrochen stehen, wird dieses Weltbild weiter verherrlicht. Historiker Jürgen Zimmerer zu umstrittenen Statuen, URL: https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/rassismus-und-kolonialismus-umstrittene-denkmaeler [22.7.2024].
Bellentani, Federico: The Meanings of the Built Environment. De Gruyter Mouton 2021. https://doi.org/10.1515/9783110617276.
Dräger, Marco: Erinnern – Zerstören – Gestalten: Geschichtsdidaktische Anmerkungen zum Umgang mit Denkmälern, in: erinnern_zerstören_gestalten: Denkmäler im interdisziplinären Diskurs. Think! Historically: Teaching History and the Dialogue of Disciplines, S. 177–193. https://doi.org/10.38072/2703-0784/p56.
Dräger, Marco: Denkmäler im Geschichtsunterricht 2021.
Dräger, Marco: Denkmäler im Geschichtsunterricht thematisieren 2022.
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- 28 Aug 2024 - 06:31