Der „Phosphoritkrieg“ – Umweltbewegung und nationale Mobilisierung in der Estnischen SSR
David Feest
In musikalischer Hinsicht war das „Festival für Unterhaltungsmusik“ in der estnischen Universitätsstadt Tartu immer ein Ort gewisser Freiheiten (Püttsepp et al. 2009: 4–5). Aber was sich hier am 16. Mai 1987 abspielte, ging den politischen Organen dann doch zu weit. Dabei war es nicht das musikalische Programm, das für Kontroversen sorgte. Stein des Anstoßes waren Hunderte von Menschen, die durch das Tragen von gelben T-Shirts aus der Menge herausstachen. Diese trugen die Aufschrift: „Phosphorit – nein danke!“ (Liivik 2022: 48). Sie demonstrierten damit gegen Pläne der Moskauer Zentralregierung, den Phosphoritabbau im Nordosten der Estnischen SSR (ESSR) erheblich auszubauen, um die Kunstdüngerproduktion zu steigern. Am Ende wagte einer der Protestierenden sogar, Losungen gegen den Phosphoritabbau am Rathaus der Stadt aufzuhängen. Auch wenn die Ordnungskräfte des Komsomol sie sofort entfernten, ließ sich die Wirkung der Proteste nicht eindämmen (Aare 1999: 18). Die Sowjetmacht sah sich im November desselben Jahres gezwungen, ihre Pläne auf Eis zu legen (Lõhmus 2012).
Die Aktionen auf dem Musikfestival sind nur ein Beispiel für die öffentlichen Unmutsäußerungen gegen die Moskauer Phosphoritpolitik. Was daraus entstand, hat der Historiker Olev Liivik als „erste größere Protestbewegung in der estnischen Zeitgeschichte“ eingestuft (Liivik 2022: 132, 150). Beteiligte sprachen schon früh von einem „Phosphoritkrieg“ (Lauristin 1988: 425). Der durch die Umweltproteste geweckte Geist ließ sich nicht in die Flasche zurückdrängen, denn die Menschen hatten gelernt, sich zu organisieren, ihre Handlungsfähigkeit entdeckt und getestet, wie weit sie auch unter den Bedingungen des autoritären Einparteienstaats gehen konnten. Im Rückblick werden die geschilderten Ereignisse daher meist als erste Station im Kampf um die nationale Unabhängigkeit geschildert (Raun 2001: 223). Wie kam es dazu, dass gerade ökologische Fragen zum Katalysator gemeinschaftlicher Willensbildung wurden?
GLASNOST UND ÖKOLOGIE
Proteste gegen den Phosphoritabbau in der ESSR hatte es bereits in den 1970er Jahren gegeben. Besonders Pläne, zum günstigeren offenen Abbau von Phosphorit überzugehen, waren auf Kritik von Experten und Expertinnen gestoßen, die vor einer erheblichen Kontaminierung der Luft und des Grundwassers gewarnt hatten. Allerdings waren diese Proteste auf wissenschaftliche Kreise beschränkt gewesen und nur hinter geschlossenen Türen vorgebracht worden (Aare 1999: 150).
Erst der Amtsantritt des neuen Generalsekretärs Michail Gorbatschow im Jahr 1985 in Moskau, schuf Möglichkeiten einer öffentlichen Diskussion. Seine Politik der Transparenz (Glasnost) hatte nicht zuletzt das Ziel, das verlorene Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen und die stagnierende lokale Eigeninitiative wieder zu mobilisieren. Umweltfragen gehörten zu dem Bereich, in dem die Gesellschaft aktiver beteiligt werden sollte (Weiner 1999). Mit offenen Karten spielte die Parteiführung jedoch nicht: Die Pläne für Estland blieben weitestgehend geheim, und die Parteiorganisation der ESSR hatte die undankbare Aufgabe, die örtliche Bevölkerung zu beschwichtigen. Doch unter den Bedingungen von Glasnost bildete sich eine neue Öffentlichkeit heraus, deren Ziele bald nicht mehr mit denen Gorbatschows übereinstimmten.
MÖGLICHKEITEN VON ÖFFENTLICHKEIT
Als Startschuss der breiteren Proteste gilt ein Coup des 39-jährigen Fernsehjournalisten Juhan Aare, der die Umweltsendung „Panda“ moderierte. Am 25. Februar 1987 lud er einen ranghohen Mitarbeiter des Ministeriums für die Produktion von Mineraldünger der UdSSR in seine Sendung ein: Juri Jampol, der in Aare offenbar einen Befürworter der Moskauer Phosphoritpläne sah. In einer Liveübertragung bestätigte er bereitwillig alle Pläne, die bislang unter Verschluss geblieben waren: Der erheblich erweiterte Phosphoritabbau in Nordost-Estland sei be- schlossene Sache und der Arbeitsbeginn bereits im nächsten Fünfjahresplan „im Interesse des Volkes“ geplant (Aare 1999: 152–153). Und noch ein weiteres Thema erregte die Gemüter: Der Moskauer Funktionär erwähnte, dass für die Arbeiten eine Ansiedlung von mindestens 10.000 Arbeitern und ihren Familien aus anderen Sowjetrepubliken notwendig sein würde. Für die estnische Bevölkerung, deren Anteil durch gezielte Ansiedlung insbesondere von russischen Arbeiterinnen und Arbeitern von fast 90 % im Jahr 1941 auf knapp 65 % im Jahr 1979 gesunken war, erschien dies als existenzielle Bedrohung (Ainsaar 1997: 31; Aare 1999: 82–85; Liivik 2018: 131).
Das Interview, so ist es später beschrieben worden, „schlug in Estland ein wie eine Bombe“ (Erilaid 2019). Versuche der estnischen Staats- und Parteiführung, die Aufzeichnungen des Interviews als Fälschung und Jampol als inkompetent darzustellen, überzeugten kaum jemanden. Aus einem Problem, das bislang nur in kleineren Kreisen diskutiert worden war, wurde über Nacht eine öffentliche Angelegenheit. Ja, es kann behauptet werden, dass in der Folge die Öffentlichkeit in der kleinen Sowjetrepublik von einer staatlich zu einer gesellschaftlich dominierten Plattform wurde. Eine zentrale Rolle dabei hatte schon zuvor der Schriftstellerverband eingenommen, dem Gorbatschow im Zuge seiner Reformbemühungen besondere Spielräume zugestanden hatte (Aare 1999: 51; Liivik 2022: 141–143). Ihm traten nach dem medialen „Startschuss“ von Aare noch andere estnische Einrichtungen zur Seite: der Rechtsanwaltsverband, der Rat der Staatlichen Universität Tartu, der Verband der Naturforscher und schließlich auch die Akademie der Wissenschaften. Sie alle machten das Umweltproblem zum Thema von Versammlungen, Petitionen und gemeinsamen Briefen und schufen damit einen kommunikativen Raum, der über naturwissenschaftliche Fachfragen weit hinausging (Liivik 2022: 132–145; Liivik 2018). An der Phosphoritfrage diskutierten sie auch die rechtliche Stellung der kleinen Republik in der Union oder machten sich Gedanken über die kulturelle Bedeutung der nordöstlichen Region für die estnische nationale Identität. Auf diese Weise dienten Einrichtungen und Praktiken, die von der Sowjetmacht zur Informationsbeschaffung und Einflussnahme etabliert worden waren, in zunehmendem Maße als Katalysatoren einer staatskritischen politischen und kulturellen Solidarisierung. Wichtig für das Entstehen der Bewegung war die Schaffung eigener Symbole. Die erwähnten, in Handarbeit hergestellten gelben T-Shirts dienten den Protestierenden als Erkennungszeichen. Sie waren bereits bei den Feiern zum 1. Mai 1986 getragen worden, die Studierende der Universität Tartu in eine Anti-Phosphorit-Demonstration verwandelten. Die T-Shirts symbolisierten nicht nur Einheit, sondern verbanden die Demonstrationen mit der westeuropäischen Umweltbewegung: Ihre Aufschrift „Phosphorit – nein danke“ war unmittelbar dem aus Dänemark stammenden Slogan „Atomkraft – nein danke!“ entlehnt. Und auch über eine Art Hymne verfügten die Protestierenden: das von Alo Mattiisen und Jüri Leesment verfasste patriotische Lied „Ei ole üksi ükski maa“ („Kein Land steht alleine da“). Eben dieses Lied wurde auf dem eingangs erwähnten „Festival für Unterhaltungsmusik“ vorgetragen. Es endete in einer weitreichenden politischen Botschaft: „Wenn im Landkreis Viru alle Flüsse mit klarem Wasser sauber bleiben“, so hieß es am Ende des Liedes, „erst dann werden wir den Mut haben zu sagen, ich lebe in meinem eigenen Land“.
WAS BLEIBT VOM „PHOSPHORITKRIEG“?
War die nationale Solidarisierung also am Ende wichtiger als die Umweltfrage? Im Jahr 2012 haben zwei frühere sowjetische Spitzenfunktionäre, der damalige Ministerratsvorsitzende Bruno Saul und sein damaliger Stellvertreter Indrek Toome, der Umweltbewegung rückblickend vorgeworfen, sie habe nur Panikmache betrieben, um ihre eigentliche politische Agenda – die nationale Unabhängigkeit – voranzutreiben. Die von Aare aufgedeckten Pläne, so Saul, hätten mangels Geld und Effizienz ohnehin nicht verwirklicht werden können (Lõhmus 2012). Doch dies greift zu kurz: Die ökologische Bedrohung war real. Nicht zuletzt während der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hatten die Menschen erfahren, wie desaströs sich die geringen lokalen Entscheidungsbefugnisse und die restriktive sowjetische Informationspolitik auswirken konnten. Wer wollte da auf Funktionsmängel und Geldknappheit vertrauen? Trotzdem ist wahr, dass der Fokus auf den Umweltschutz, wie auch in den anderen baltischen Sowjetrepubliken, eine Phase blieb. Das Streben nach mehr Entscheidungsbefugnissen äußerte sich bald in anderen Projekten: dem Kampf um wirtschaftliche und politische Autonomie und schließlich um die staatliche Unabhängigkeit. Ökologische Fragen spielten in den Anfangsjahren nach deren Wiederherstellung im Jahr 1991 keine große Rolle mehr. Der ebenfalls extrem umweltschädliche Abbau von Ölschiefer fand vielmehr weiterhin breite Akzeptanz. Nur mit Phosphoritabbau wollte kaum jemand mehr zu tun haben. Er blieb lange Jahre ein Symbol der Fremdherrschaft.
Sind die Umweltproteste in der kollektiven Erinnerung also nur noch als einleitendes Kapitel einer nationalen Befreiungserzählung relevant? Eine solche Lesart verkennt, wie wenig der Phosphoritabbau noch heute außerhalb der Erinnerungen an den „Phosphoritkrieg“ diskutiert werden kann. Gewiss, die „Phosphorit – nein danke!“-T-Shirts sind längst zu musealen Objekten geworden, die sich in Tartu im Estnischen Nationalmuseum hinter Plexiglas besichtigen lassen (Runnel 2021). Doch lässt sich durchaus etwas von dem Geist der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre wieder zum Leben erwecken. Dies wurde deutlich, als die Regierung unlängst begann, die Möglichkeit des Phosphoritabbaus aufs Neue untersuchen zu lassen. Gegnerinnen und Gegner dieser Pläne schlossen symbolisch an den antisowjetischen Widerstand an, indem sie an den „Phosphoritkrieg“ erinnerten. Selbst die Meinung, man müsse „die gelben T-Shirts wieder hervorholen, waschen und bügeln“, wurde geäußert – von einem Anwalt, der zu jung ist, um eigene Erinnerungen an die Auseinandersetzungen in der späten Sowjetzeit zu haben (Kaljurand 2024). Gegenargumente, die auf neue, umweltfreundlichere Abbautechniken und die Knappheit estnischer Rohstoffe verweisen, können gegen diese emotional aufgeladene kollektive Erinnerung nur schwer ankommen. „Phosphorit ist unser Symbol für den Sieg über eine Fremdherrschaft“, klagte der Geologe und Umweltwissenschaftler Erik Puura schon vor einigen Jahren, doch „es wurde ein gesellschaftliches Tabuthema daraus gemacht“ (Puura 2016).
Allerdings fällt ein wichtiger Unterschied zu den Umweltprotesten der späten Sowjetzeit auf. Der Widerstand der 1980er-Jahre war ein wirkmächtiger Faktor bei der Einigung der estnischen Gesellschaft gegen die sowjetische Zentralmacht. Heute drohen unterschiedliche Auffassungen darüber, welche Rolle der Umweltschutz spielen soll, die Gesellschaft eher zu spalten (Puura 2024).
QUELLEN UND LITERATUR
Aare, Juhan: Fosforiidisõda 1971–1989 [Der Phosphoritkrieg 1971–1989], Tallinn 1999.
Ainsaar, Mare: Eesti rahvastik. Taani hindamisraamatust tänapäevani [Die estnische Bevölkerung. Vom dänischen Schätzbuch bis heute], Tartu 1997.
Ei ole üksi ükski maa. [Kein Land steht alleine da], URL: https://www.laulud.ee/lau/ei_ole_uksi_uks-ki_maa-534.aspx [3.7.2024].
Erilaid, Tõnis: Kuidas üliõpilased alustasid fosforiidisõda [Wie die Studierenden den Phosphoritkrieg begannen], in: Õhtuleht, 2.4.2019, URL: https://www.ohtuleht.ee/naisteleht/954591/kuidas-uliopilased-alustasid-fosforiidisoda [3.7.2024].
Kaljurand, Kaspar: Riik vaeb rahva vastu uut fosforiidisõda [Der Staat führt einen neuen Phosphoritkrieg gegen das Volk], in: err meediakritika, 14.07.2024, URL: https://www.err.ee/1609385675/kaspar-kalju-rand-riik-vaeb-rahva-vastu-uut-fosforiidisoda [eingesehen am 01.07.2024].
Lauristin, Marju: Fosforiidisündroom ja avalikkuse areng [Das Phosphorit-Syndrom und die Entwicklung der Öffentlichkeit], in: Eesti Loodus 7 (1988), S. 424–430 und 8 (1988), S. 494–498.
Liivik, Olev: Glasnost Policy Reaching Estonia: Fear and Hope in the Protest Letters of Estonian Residents during the Campaign against the Phosphorite Mines in 1987, in: Piirimäe, Kaarel/Mertelsmann, Olaf (Hrsg.): The Baltic States and the End of the Cold War, Berlin 2018, S. 123–151.
Liivik, Olev: Vastuseisust protestideni: võitlus fosforiidikaevanduste vastu 1970. ja 1980. aastate Eestis [Vom Widerstand zum Protest: Der Kampf gegen den Phosphoritabbau in Estland in den 1970er und 1980er Jahren], in: Methis. Studia humaniora Estonica 30 (2022), S. 132–155, URL: https://ojs.utlib.ee/index.php/methis/article/download/22110/16810 [3.7.2024].
Lõhmus, Alo: Fosforiidikülasid vaevab halb eelaimus [Die Phosphoritdörfer leiden unter mangelnder Weitsicht], in: Maaleht, 9.2.2012, URL: https://maa-leht.delfi.ee/artikkel/63891873/fosforiidikulasid-vae-vab-halb-eelaimus [3.7.2024].
Püttsepp, Juhani/Habicht, Jaan/Tiik, Ilm: Tartu Muusikapäevad [Die Tartuer Musiktage], Tallinn 2009.
Puura, Erik: Räägitakse uuest fosforiidisõjast – aga kes peab sõda kellega? [Man spricht von einem neuen Phosphoritkrieg – aber wer führt Krieg mit wem?], in: Trialoog Taltech, 04.03.2024, URL: https://tria-loog.taltech.ee/erik-puura-raagitakse-uuest-fosfo-riidisojast-aga-kes-peab-soda-kellega/ [eingesehen am 14.07.2024].
Puura, Erik: Eesti ei vaja uut fosforiidisõda [Estland braucht keinen neuen Phosphoritkrieg], in: Sirp, 11.04.2024, URL: https://www.sirp.ee/s1-artiklid/c9-sotsiaalia/2014-04-11-11-10-58/ [eingesehen am 04.07.2024].
Raun, Toivo O.: Estonia and the Estonians, Standford 2001.
Weiner, Douglas R.: A Little Corner of Freedom: Russian Nature Protection from Stalin to Gorbachëv, Berkeley, CA 1999.
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- 28 Aug 2024 - 06:31