Historische Spurensuche und Spurenlesen: Schülerforschung als Citizen Science
von Anke John
Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten will nicht nur ein Eliten-, sondern auch ein Breitenwettbewerb sein, an dem Kinder und Jugendliche vom Grundschulalter bis zum Alter von 21 Jahren teilnehmen können. Die konstant überdurchschnittliche Beteiligung von Gymnasien erinnert indessen daran, dass partizipative Forschung und Mitgestaltung von Geschichtskultur keine Selbstläufer sind, sondern bildungsbürgerlich und städtisch-westdeutsch dominierte Vorstellungen (Handro 2019: 319–326).Eine gesellschaftlich breit verankerte Schüler*innenforschung zu erreichen, ist insofern eine Herausforderung für den Geschichtswettbewerb, deren Bewältigung mit der Citizen-Science-Bewegung derzeit neu in den Fokus rückt (Makuch und Aczel 2018).
Citizen Science bezeichnet einen Ansatz, bei dem Laien mit oder ohne Beteiligung von hauptamtlich Forschenden wissenschaftlich tätig sind. Die Praxis reicht von der kurzzeitigen Erhebung von Daten bis zur zeitintensiven Befassung mit einem Thema. Sie ist ähnlich der Schüler*innenforschung im Geschichtswettbewerb lokal, im Unterschied dazu aber nicht kompetitiv ausgelegt (ENEC 2018; Makuch und Aczel 2018: 403). Die Etablierung einer „Bürgerwissenschaft“ soll nicht zuletzt Wissenschaftsskepsis und Desinformation als einem der derzeit größten globalen Risiken (World Economic Forum 2024: 18–21) entgegenwirken. Betrachtet man den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten aus dem Blickwinkel von Citizen Science, lassen sich gemeinsame Ziele und Effekte erkennen. Dazu gehören die Entwicklung eines in der Gesellschaft verankerten Wissenschaftsverständnisses, eine positive Kultur des Engagements und der Akzeptanz unterschiedlicher Fähigkeiten sowie die glokale Perspektive auf gesellschaftliche Fragen.
Beitragsformate und Beiträge nach Schulart im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten 2022/23 zum Thema „Mehr als ein Dach über dem Kopf. Wohnen hat Geschichte“, aus: spurensuchen H. 37/2023, S. 32.
Partizipation im Wettbewerb
Die mit einer Teilnahme am Geschichtswettbewerb verbundenen Schwierigkeiten, die in Arbeits- und Tutor*innenberichten immer wieder genannt werden, betreffen den Kern des Wettbewerbskonzepts: Die Erwartung, etwas Neues herausfinden zu können, und das Bewusstsein, mit anderen in einem Wettbewerb zu stehen, wirken motivierend und hemmend zugleich. Inbegriffen ist stets die Möglichkeit des Scheiterns und die Enttäuschung, sollte es am Ende keinen Preis geben. Allerdings geht mit dem Entschluss zur Teilnahme das Verstehen erhöhter wissenschaftsbezogener Anforderungen einher: Die Aufgaben des Wettbewerbs werden auf den „gelben Seiten“ des spurensuchen-Heftes veröffentlicht. Sie sind fachspezifisch, aber einem demokratischen Ansatz folgend weder alters- noch schulartenbezogen formuliert (John 2022).
Erschwerend kommt hinzu, dass unterschiedliche Schüler*innenwettbewerbe unterschiedliche Anforderungen stellen, die von den naturwissenschaftlichen Ansprüchen an die Datenqualität bis zu den Maßstäben plausibler historischer Deutungen reichen. Die Herausforderungen, die mit dieser Bandbreite wissenschaftlichen Arbeitens einhergehen, beschreibt eine 17-jährige Teilnehmerin: „Zwar kannte ich umfangreiche Recherche und Schreibarbeit auch aus den naturwissenschaftlichen Wettbewerben. Aber diese Form der Quellenrecherche, der Umgang mit Karten und Grundrissplänen, und vor allem das kritische Hinterfragen von Quellen und Zeugenaussagen sowie das Deuten waren eine neue Herausforderung“ (Körber-Archiv GW 2023-0819). Abgesehen vom Zeit- und Erfolgsdruck, unter dem im Schulalltag etwas Außergewöhnliches geleistet werden soll, spielen zudem ökonomische Faktoren wie Fahrtkosten und Archivgebühren und nicht zuletzt die oft fehlende Akzeptanz von Erwachsenen für die Nachforschungen von Kindern und Jugendlichen eine Rolle.
Am Detail interessiert und kreativ
„Warum sind die Häuser in der Konradsiedlung so klein, haben aber so einen riesengroßen Garten dabei?“ (Körber-Archiv GW 2023-0254) oder „Wie kommt die Kuh ins Bad?“ (Körber-Archiv GW 2023-0115) – Kinder und Jugendliche stellen Fragen an die Vergangenheit, die ansonsten selten gestellt werden und die weit entfernt von gewohnten wissenschaftlichen Expertisen sind. Sie haben besondere Interessen, vertiefen sich in Details, äußern irritierende, aber daher auch oft inspirierende Vorstellungen von Geschichte. Pädagog*innen und Wissenschaftler*innen werden durch sie mit ihren eigenen, erwachsenen Vorannahmen und Überzeugungen konfrontiert. Schüler*innenforschung verschiebt Standpunkte und eröffnet andere Perspektiven auf wissenschaftlich-methodische Standards.
Das betrifft derzeit insbesondere den Umgang mit der Digitalisierung und Medialität von Geschichte in der Öffentlichkeit. Dieser ist bei vielen Teilnehmenden technisch versiert, in hohem Maße intuitiv und in Bezug auf populäre Medienformate imitierend. Im Fokus steht, dass die eigenen Geschichten außerhalb des Klassenzimmers gehört werden, und natürlich auch, dass sie sich in einem Wettbewerb durchsetzen sollen. In Podcasts und Erklärvideos testen Kinder und Jugendliche so die Übertragbarkeit und den Impact von Wissenschaft aus. Bei der Recherche und historischen Kontextualisierung greifen sie zwar auf klassische geschichtswissenschaftliche Darstellungen zurück und rufen diese zunehmend im Internet ab. Wissenschaftlichen Texten wird aber eine vergleichsweise geringe Reichweite zugeschrieben, wenn es um die Präsentation der eigenen Forschung geht. Podcasts können – ein großer Vorzug aus der Sicht von Wettbewerbsteilnehmer*innen – „fast überall gehört werden und man ist nicht auf den Bildschirm angewiesen. Mit einem Podcast können wir auch jüngere Personen erreichen und sie vielleicht für das Thema sensibilisieren“. Auch erscheint es „einfacher, dem Gesprochenen zu folgen, als einen wissenschaftlichen Text zu lesen“ (Körber-Archiv GW 2021-0393).
Fehlt dagegen ein Bezug auf historische Methoden und auf den Forschungsstand, kann mit der Öffnung des Geschichtswettbewerbs für kreative Beiträge auch Wissenschaftsskepsis genährt werden. Welches Wissenschaftsverständnis Kinder und Jugendliche entwickeln, wird daher oft erst im Arbeitsbericht deutlich, in dem ihr Recherche- und Erkenntnisprozess dokumentiert ist.
Alltagspraktisches Wissenschaftsverständnis
Nimmt man den demokratischen Gedanken ernst, dann trägt der Geschichtswettbewerb zu einem alltagstauglichen Wissenschaftsverständnis bei, das den Bedürfnissen von Laien gerecht wird. Dazu zählen eine positive Kultur des Engagements, die Auseinandersetzung mit wissenschaftsorientierten Medien, das Sprechen über Forschung außerhalb von Schule und nicht zuletzt Möglichkeiten, Menschen persönlich kennenzulernen, die in einem wissenschaftlichen Beruf arbeiten (Edwards 2018: 384).
Oft sind Schüler*innen überrascht, was historisches Arbeiten in der Auseinandersetzung mit Quellen, Zeitzeug*innen und lokaler Geschichtskultur bedeutet (John 2018: 74–78). Sie erfahren, dass es nicht so sehr darum geht, möglichst viel und breites Wissen zusammenzutragen, sondern darum, Vergangenes erkenntnisgeleitet zu recherchieren und zu interpretieren. Während der Geschichtsunterricht auf Routinen baut und verhältnismäßig regelmäßige Abläufe die Unterrichtsplanung erleichtern sollen, sind im forschenden Lernen Flexibilität und Geduld gefragt sowie der Mut, mit anderen etwas Ungewohntes auszuprobieren und sich auf eine Diskrepanz zwischen geplanten und tatsächlichen Vorgehensweisen einzulassen (John 2022: 22). Dabei hat es positive Effekte auf das Selbstbewusstsein und auf die Entwicklung interpersonaler und sozialer Fähigkeiten, wenn Kinder und Jugendliche in der Gruppe zusammenarbeiten und gemeinsam lernen. Neue Erfahrungen in der Zusammenarbeit, die Motivation und Begeisterung von Schüler*innen sind auch für die betreuenden Tutor*innen auschlaggebende Gründe, die aufwändige Projektkoordination und eine Mehrarbeit an didaktischer Unterstützung zu leisten (John 2018: 28f.).
Orts- und weltverbunden
Schüler*innenforschung im Sinne von Citizen Science wird als weltoffen verstanden. Ein Citizen ist in diesem Sinne jemand, dessen lokales Interesse über die eigene Stadt und ihre Geschichte hinausgeht. Insbesondere Migrationsgeschichten regen im Geschichtswettbewerb immer wieder dazu an, sich mit transnationalen Verflechtungsgeschichten auseinanderzusetzen. Exemplarisch dafür steht der Beitrag eines in Vietnam geborenen Preisträgers über die Kleinstadt Haren, die nach dem Zweiten Weltkrieg als polnische Republik Haren Macków verwaltet wurde. In den zwangsgeräumten Häusern und kommunalen Einrichtungen fanden Displaced Persons von 1945 bis 1948 ein vorübergehendes Zuhause. Anhand der teils verständnisvollen, teils gewaltsamen Reaktionen der deutschen Einwohner*innen setzte sich der 17-Jährige mit seiner eigenen Identität sowie mit Heimatvorstellungen und Ressentiments auseinander. Die für ihn ausschlaggebenden Alteritätserfahrungen fand dieser Jugendliche dabei weniger in der Familiengeschichte, sondern vor allem in der Lokalgeschichte: „Antworten bekomme ich nur, wenn ich mich mit der Geschichte anderer befasse, sprich mit dem Unbekannten […] direkt in meiner Region“ (Körber-Archiv GW 2023-0104).
Nicht für jede*n ist der Schul- und Wohnort auch der Geburtsort. Die Spanne zwischen Kindheit und Erwachsensein ist vielmehr eine Phase der Übergänge und des Wechsels von Wohn-, Ausbildungs- und Studienorten. Zwar sind Jugendmobilität sowie Weltoffenheit gesellschaftlich und politisch gewollt und überwiegend erwünscht (Lange 2018), doch stehen dieser Haltung ausgeprägte Heimatbezüge von Erwachsenen gegenüber (Reiser und Best 2018: 39). Auch deshalb sind in den prämierten und archivierten Beiträgen Auseinandersetzungen mit nostalgischen Gefühlen und mit abschottenden Haltungen und rassistischen Vorurteilen zu finden. Sie treiben eine bürgerwissenschaftliche Forschung und lokale Geschichtskultur voran, die gesellschaftliche Orientierungsbedürfnisse aufgreift (John 2019): „Einwanderung im ländlichen Kontext und das Gefühl der Einheimischen, etwas an die ‚Fremden‘ zu verlieren, sind Themen, die noch viel Nachholbedarf benötigen“ (Körber-Archiv GW 2023-0104).
Der Geschichtswettbewerb verhandelt und normiert die Partizipation an lokaler Forschung und Geschichtskultur als multiperspektivisch und wissenschaftsorientiert. Citizen Science setzt einen neuen Impuls und kann helfen, diese Ansprüche mit Kindern und Jugendlichen zugleich breitenwirksam und gesellschaftlich inklusiv umzusetzen. Interpretiert man Schüler*innenforschung als Citizen Science, erhalten Komponenten der Partizipation und Mobilisierungseffekte des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten in Relation zur Sichtbarkeit von Spitzenbeiträgen und Preisträger*innen mehr Beachtung.
Literatur
Edwards, Richard/Kirn, Sarah/Hillmann, Thomas/Kloetzer, Laure/Mathieson, Katherine/Mc Donnell, Diarmuid/Phillips, Tina: Learning and developing science capital through citizen science, in: Hecker, Susanne/Haklay, Muki/Bowser, Anne/Makuch, Zen/Vogel, Johannes/Bonn, Aletta (Hrsg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018, S. 381–390, URL: https://www.jstor.org/stable/j.ctv550cf2.33.
Handro, Saskia: Kinder und Jugendliche machen Geschichte! Geschichtswettbewerbe als partizipative Ressource, in: Minner, Katrin (Hrsg.): Public History in der Regional- und Landesgeschichte, Münster 2019, S. 295–327.
John, Anke: Der Geschichtswettbewerb im Tutorencheck, in: Spurensuchen 32 (2018), S. 28–29.
John, Anke: Lokales Geschichtswissen statt „Lebendige Lokalgeschichte“, in: Lernen aus der Geschichte (2019), URL: http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14354.
John, Anke/Fleischhauer, Tom/Schwarzkopf, Antonia/Krug, Barbara: Forschend-entdeckendes Lernen im Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Leitfaden für studentische Tutor:innen und ihre Betreuung in Praxisphasen des Studiums (2022), URL: https://koerber-stiftung.de/site/assets/files/23762/geschichtswettbewerb_leitfaden_studentische_tutorinnen.pdf.
Lange, Joachim (Hrsg.): Jugendmobilität als europäische Strategie. Wer und was bewegt Jugendliche?, Hildesheim 2018.
Makuch, Karen E./Aczel, Miriam R.: Children and citizen science, in: Hecker, Susanne/Haklay, Muki/Bowser, Anne/Makuch, Zen/Vogel, Johannes/Bonn, Aletta (Hrsg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018, S. 391–409, URL: https://www.jstor.org/stable/j.ctv550cf2.34.
Reiser, Marion/Best, Heinrich: Heimat Thüringen. Ergebnisse des Thüringen-Monitors 2018, URL: https://www.komrex.uni-jena.de/komrexmedia/thueringen-monitor-neu/tm-2018-mit-anhang.pdf.
World Economic Forum: Global Risks Report 19 (2024), URL: https://www.weforum.org/publications/global-risks-report-2024/.
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- 25 Mär 2024 - 13:26