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Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten und die Geschichtswissenschaft

Dorothee Wierling, im Erstberuf Hauptschullehrerin, im Zweitberuf Professorin für Zeitgeschichte und Stellvertretende Direktorin der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg. Schwerpunkte: Sozial- und Erfahrungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Oral History. Seit 2015 im Ruhestand.

Von Dorothee Wierling

Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten begann in den 1970er Jahren weniger als ein geschichtswissenschaftliches Projekt, sondern im Kern vielmehr als eines der demokratisch-politischen Bildung: Der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann und der Hamburger Mäzen Kurt A. Körber erhofften sich von der Erforschung zentraler demokratischer Ereignisse, Umbrüche und Revolutionen durch Schüler und Schülerinnen vor Ort eine historisch grundierte Demokratieerziehung der „Schuljugend“. Es sollte also das geschichtskulturelle Kapital historisch-forschenden Lernens zunächst in Bezug auf die demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte ausgelotet werden.

Der zunächst mäßige Erfolg – Arbeiten entstanden vor allem an Gymnasien, die öffentliche Aufmerksamkeit blieb begrenzt, und vor allem wurde ein eklatanter Mangel an würdigen, „demokratischen“ Elementen in der deutschen Geschichte deutlich – erforderte eine Neukonzeption. An dieser Stelle war es ein Glücksfall, dass sich die Körber-Stiftung an Historiker wandte, die damals innerhalb der Zunft eher randständig, wissenschaftlich aber exzellent und innovativ waren: vor allem Lutz Niethammer, Reinhard Rürup und Jürgen Reulecke. Diese drei standen für das Bemühen um eine gründliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus, für Alltagsgeschichte und Oral History, für die Geschichte der Urbanisierung und des Wohnens. Sie repräsentierten einen Aufbruch in der bis dahin überwiegend konservativen Zunft – sowohl thematisch als auch methodisch – und traten auch beim Geschichtswettbewerb für einen produktiven Neuanfang ein, bei dem insbesondere die Forschung im Nahbereich zentral war: die Geschichte sozialer Beziehungen und Praktiken vor Ort sowie später die Lokal- und Familiengeschichte im Nationalsozialismus und der frühen Nachkriegszeit. Besonders mit den letztgenannten Themen wurden die großen Fragen nach der Vorgeschichte und den Anfängen der Bundesrepublik und deren langfristige Auswirkungen auf ihre Geschichte an das lokale Umfeld der Schüler und Schülerinnen gebunden.

Politisch reagierte der Wettbewerb 1995 mit dem Rahmenthema „Ost-West-Geschichten“ auf das Ende der DDR und die Entstehung eines wieder vereinten Deutschlands, aber die alltagsgeschichtlichen Themen bestimmen ihn bis heute – dies freilich nicht mehr nur im Sinne einer Alltagsgeschichte, sondern auch durch die konsequente Historisierung gesellschaftlicher Veränderungen und Konflikte.

Geschichte vor Ort

War die Lokalgeschichte lange von Heimatvereinen und pensionierten Lehrern dominiert, die zwar wertvolle, aber meist affirmative Geschichte(n) schrieben, ging (und geht) es beim Geschichtswettbewerb um übergreifende Themen: Lebensweisen, beispielhafte Konflikte, Erfahrungsgeschichte und Alltag als Ebenen, auf denen sich große historische Prozesse und politische Umbrüche vor Ort oder in der Familie beispielhaft und spezifisch abspielen. Doch werden die großen Themen dabei nicht klein gemacht: Es ist ja gerade die Konkretheit der Orte, Personen und Prozesse, die den geschichtswissenschaftlichen Erkenntniswert ausmacht und übergeordnete Entwicklungslinien und Fragestellungen plastisch hervortreten lässt.

Mit der Verknüpfung von großen Themen und ihren spezifischen Erscheinungsformen erfüllen die Schülerarbeiten konzeptionell die anspruchsvollen Kriterien historischer Mikrostudien, wie sie seit den 1970er Jahren in der europäischen Geschichtswissenschaft, in der Bundesrepublik vor allem durch Forscher am Max-Planck-Institut in Göttingen (Medick 1984), eine produktive Rolle spielten. Dabei kam es zu einer methodischen Öffnung hin zur außereuropäischen und europäischen Ethnologie, vormals Völker- und Volkskunde, einer Wissenschaft, die ihrerseits zu dieser Zeit begonnen hatte, sich von ihren kolonialistischen bzw. völkischen Traditionen zu distanzieren und sich dem Alltag und der Perspektive der Kolonialisierten zuzuwenden.

Bis heute erweisen sich mikrohistorische Tiefenbohrungen als produktiver Zugang zu den übergeordneten Fragen der National- und Weltgeschichte; auf der Ebene der Schülerarbeiten bleibt es allerdings meist bei lokalen Entdeckungen, deren überregionale Bedeutung in der Regel unbewusst bleibt oder nur angedeutet wird. Schüler und Schülerinnen sind eben keine Historiker und Historikerinnen; und auch die meisten Teilnehmenden am Wettbewerb werden es nie werden. Sven Beckert wird wohl vorerst der einzige Teilnehmer des Geschichtswettbewerbs an der Harvard University bleiben. (Er hatte 1983 zum Thema „Alltag im Nationalsozialismus II [Kriegsjahre]“ mit einer Arbeit über den „Arbeitsalltag in Offenbach 1939–1945“ einen 1. Preis gewonnen).

Bedeutsam sind dennoch die Wissensprozesse und Einsichten, die sich aus der Mitarbeit am Wettbewerb ergeben können. Allerdings sind sie empirisch schwer nachzuweisen, weil sie sich nicht in abfragbaren Wissensbeständen, sondern in Haltungen wiederfinden. Das Wissen um und das Verständnis von historischem Wandel als menschlicher Grunderfahrung ist hier das wichtigste Potenzial und zugleich das Kerngeschäft der Geschichtswissenschaft, das in Zeiten zunehmenden Komplexitätsverlusts als besonders wertvoll für das historische Urteilen erscheint. Es gilt zunächst, das Fremde in der Vergangenheit zu akzeptieren: „Die Vergangenheit ist ein fremdes Land, dort gelten andere Regeln“ (Hartley 2010: 9).

Neue Quellen, neue Methoden

Nicht nur thematisch, sondern auch methodisch gilt der Geschichtswettbewerb zu Recht als eng verbunden mit dem, was „Sozialgeschichte in der Erweiterung“ genannt wurde (Nathaus 2012). Dazu gehörten seit den 1980er Jahren sozial-, alltags- und mentalitätsgeschichtliche Themen und Fragen. Viele davon waren verbunden mit den Aktionsfeldern der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, z.B. der Neuen Frauenbewegung, aber auch den Themen der Geschichtswerkstätten, die nach neuen lokalen Spuren und Traditionen suchten. Der Wettbewerb gehörte zu den ersten öffentlich geförderten Projekten in diesem Bereich. Dadurch dass neue Fragen und Gruppen als geschichtswürdig erkannt wurden, wurden die lokalen Archive auf bisher ungekannte Weise gefragt und herausgefordert. Archivmaterialien, die wegen ihrer scheinbaren Bedeutungslosigkeit noch nie aus dem Karton geholt worden waren, wurden nun erstmals als ernst zu nehmende Quellen anerkannt.

Hinzu kam die Produktion neuer Quellenarten, wie z.B. durch die Oral History, die diachron-narrative und/oder autobiografische Interviews hervorbrachte. Anfangs galt die Oral History als eine besonders geeignete Methode, um Schüler und Schülerinnen anschaulich und lebensnah mit der Vergangenheit zu verbinden. Bis heute ist der „Zeitzeuge“ (nicht zu verwechseln mit den Interviewpartnern und ‑partnerinnen eines Oral-History-Interviews) ein beliebtes Medium des Geschichtsunterrichts (Bertram 2017).

In der Praxis hat sich allerdings erwiesen, dass Oral History keineswegs ein besonders leichter Zugang zur Geschichte und kein Selbstläufer ist (ich beziehe mich bei dieser Einschätzung auf meine Tätigkeit in der Zentraljury des Geschichtswettbewerbs von 1991 bis 2015). Es kam vor, dass die Interviewten ihre jugendlichen Interviewer und Interviewerinnen nicht ernst nahmen und/oder sie einschüchterten; und dass Letztere oft (und verständlicherweise) mit der Komplexität der mündlichen Quelle stärker überfordert waren als mit der einer schriftlichen. Der Respekt vor den meist älteren Interviewpartnern und ‑partnerinnen konnte verhindern, dass die Schüler und Schülerinnen in kritische Distanz gehen und etwa dem Abgleiten von einer philosemitischen in eine antisemitische Erzählung nichts entgegensetzen konnten.

Die Körber-Stiftung hat darauf früh reagiert mit sehr guten Einführungen und Ratschlägen zur Oral History; zugleich verweisen solche Überforderungen auf die zentrale Rolle der Tutoren und Tutorinnen, die ihr eigene Quellenkompetenz einbringen müssen, wenn die Schüler und Schülerinnen vom Material überwältigt werden.

Oral History und ihre Grenzen – ein Beispiel

Mir geht es an dieser Stelle aber vor allem darum, dass die Geschichten, die im Wettbewerb erforscht werden, genauso komplex sind, und genauso viel Arbeit und Nachdenken erfordern, wie geschichtswissenschaftliche Forschung selbst – und dass wir zugleich beides voneinander trennen müssen. Es gehört zu den Prinzipien bei der Begutachtung der Körber-Stiftung, dass der wissenschaftliche Anspruch an die Schülerarbeiten alters- und schulformgerecht überprüft und dass dem Arbeitsbericht entnommen wird, wie hartnäckig und reflektiert geforscht wurde und wie kompetent (und behutsam) die Tutoren und Tutorinnen beraten haben.

Ein gutes Beispiel ist die Arbeit einer 12. Gymnasialklasse aus dem Wettbewerb über „Die Kriegsjahre in Deutschland 1939–1945“ von 1982/83 (Körber-Archiv GW 1983-0772). Die Schüler und Schülerinnen untersuchten die bis dahin nur in Andeutungen besprochene Hinrichtung eines polnischen Zwangsarbeiters aus dem Dorf Metze bei Kassel und erhielten dafür einen 4. Preis.

Der hingerichtete Johann Novak, ein Deutschpole mit polnischer Staatsangehörigkeit, geriet 1939 in deutsche Kriegsgefangenschaft und wurde dann einem Bauern in Metze als Zwangsarbeiter zugeteilt. Dort verliebte er sich in Marie, die auf dem Hof als Magd arbeitete. Im Oktober 1940 durfte er zurück ins (besetzte) Polen, wo er im August 1941 verhaftet wurde, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Magd ein Kind von ihm erwartete. Diese wurde ins KZ Ravensbrück eingeliefert, das Kind wurde ihr weggenommen. Beide starben kurz nach Kriegsende. Novak wurde in das „Arbeitserziehungslager Breitenau“ und von dort zur öffentlichen Hinrichtung gebracht.

Damals mussten sich alle Zwangsarbeiter und ‑arbeiterinnen der umliegenden Dörfer versammeln, um der Hinrichtung beizuwohnen. Die erste Quelle der Schüler und Schülerinnen war ein ehemaliger Zwangsarbeiter, der als Zeuge den Ablauf der Hinrichtung genau darstellte. Auf dieser Grundlage versuchten die Jugendlichen durch „gezielte Nachfrage“ bei Eltern, Großeltern und Verwandten aus Metze, den Fall so genau wie möglich zu rekonstruieren. Durch die Verhaftungen der Magd und des Zwangsarbeiters war auch ein schriftlicher Quellenbestand entstanden, der mit den mündlichen Quellen verknüpft werden konnte. Die Schüler und Schülerinnen bewegten sich zwischen schriftlichen und mündlichen Quellen und verbanden diese zu einem Bild, das immer dichter, aber auch komplexer wurde. Sie waren vor allem daran interessiert, den Ablauf der Ereignisse im Fall Novak möglichst detailliert und lückenlos nachvollziehen zu können. Die subjektive Position der jeweiligen Erzähler und Erzählerinnen, die Komplexität des Falls oder die Nachgeschichte der Andeutungen und des Verschweigens im Dorf interessierte sie weniger bzw. überforderte sie. Die Oral History hatte hier vor allem eine Ersatzfunktion für fehlende schriftliche Quellen. Deshalb kommentierten die Schüler und Schülerinnen die Interviews hauptsächlich in Bezug auf ihren sachlichen Gehalt als „Zeugenaussagen“.

Diese Arbeit ist ein eindrucksvolles Beispiel für den altersgerechten Zugang zu historischer Forschung; zugleich aber erkennen wir auch seine Grenzen. Dennoch erfüllt auch diese Arbeit die Aufgabe des Geschichtswettbewerbs als „Forschung“ in hervorragender Weise: Es geht um die quellenbasierte Multiperspektivität und vor allem um die Anerkennung und das Aushalten von Komplexität. Trotz zurückhaltender Kommentierung des Geschehenen durch die Schülerinnen und Schüler hat die dörfliche Geschichte Tiefe bekommen, man könnte auch sagen: Abgründe.

Hat der Geschichtswettbewerb eine Zukunft?

Die von der Geschichte als Wissenschaft abgeleiteten Standards in der Beurteilung der Beiträge werden für den Geschichtswettbewerb sicher weiter gültig bleiben. Aber wie steht es mit seiner innovativen Kraft im Hinblick auf neue Fragen und Methoden? Zu Letzteren steht zu vermuten, dass die methodische Wende der digital humanities bei Schülern und Schülerinnen auf fruchtbaren Boden fällt. Wenn wir aber auf den Anfang zurückblicken, als der Geschichtswettbewerb bei der Stärkung und Durchsetzung von Alltags- und Lokalgeschichte als Formen der neuen Mikrogeschichte eine Pionierrolle einnahm, so findet sich dazu keine aktuelle Parallele. Die innovativste Bewegung in der heutigen Geschichtswissenschaft ist sicher die Hinwendung zur Globalgeschichte: Sie nimmt sowohl außereuropäische Phänomene in den Blick als auch die Erforschung der vielen Vernetzungen, sei es im Bereich der Kommunikationstechnik, der Warenströme oder der Migration. Letztere ist noch am ehesten mit der Schülergeschichtsforschung vor Ort zu verbinden und das ist in zwei früheren Wettbewerben auch bereits geschehen: 1988/89 hieß das Thema „Unser Ort, Heimat für Fremde?“, 2002/03 „Weggehen – Ankommen, Migration in der Geschichte“. Aber die „Fremden“ waren nicht notwendig Migranten und Migrantinnen oder außereuropäische Flüchtlinge; und „Weggehen“ konnten auch die deutschen Auswanderer und Auswanderinnen in die USA.

Heute stehen wir jedoch vor einer veränderten Situation: Aktuell haben ca. 14% aller Schüler und Schülerinnen in Deutschland einen ausländischen Pass; knapp 30% haben einen Migrationshintergrund, wobei bei dieser Kategorie unklar ist, ab der wievielten Generation dieser Status sich verflüchtigt. Diese groben Zahlen verweisen darauf, dass „deutsche“ Geschichte, wie sie im Lokalen erforscht werden kann, nur noch einen Teil dessen ausmacht, wie Jugendliche an deutschen Schulen und beim Geschichtswettbewerb in die Geschichte eingebunden sind. Denn es geht nicht mehr nur um das Lokale als Nahbereich, sondern um Familie und Herkunft, wie der ehemalige Direktor der Gedenkstätte Buchenwald Volkhard Knigge argumentiert hat, als es um den Blick ausländischer und migrantischer Schüler und Schülerinnen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus ging, insbesondere den Holocaust (Knigge 2018). Und Herkunft bezieht sich auf Familie, auf Ethnie und auf deren Mikro- und Makrogeschichte. Es geht auch nicht „nur“ darum, dass deutsche Schüler und Schülerinnen sich die Geschichten aneignen, die ihre zugewanderten Mitschüler und Mitschülerinnen mitbringen, sondern dass wir uns alle als Teil einer multiethnischen Gesellschaft mit einer Geschichte der offenen Grenzen zu verstehen beginnen, wie das in den USA wegen ihrer auf Einwanderung beruhenden Gründungsgeschichte seit langem der Fall ist. Hier könnte der Geschichtswettbewerb noch einmal vorlegen und damit nicht nur der Geschichtswissenschaft folgen, sondern diese – erneut – auch inspirieren.

 

Literatur

Bertram, Christiane: Zeitzeugen im Geschichtsunterricht, Frankfurt a.M. 2017.

Hartley, Lesley P.: The Go-Between, Frankfurt a.M. 2010 [1953].

Knigge, Volkhard: „Gedenkstätten sind keine antifaschistischen Durchlauferhitzer“. Interview mit Patrick Garber, in: DLF Kultur, 27.1.2018, URL: https://www.deutschlandfunkkultur.de/volkhard-knigge-zum-holocaust-gedenktag-gedenkstaetten-sind-100.html#:~:text=L%C3%A4sst%20sich%20Antisemitismus%20durch%20Pflichtbesuche,Besuchspflicht%20f%C3%BCr%20%E2%80%9Ep%C3%A4dagogisch%20kontraproduktiv%E2%80%9C [30.1.2024].

Medick, Hans: „Missionare im Ruderboot?“ Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 10 (1984), H. 3, S. 295–319.

Nathaus, Klaus: Sozialgeschichte und Historische Sozialwissenschaft, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 24.9.2012, URL: http://docupedia.de/zg/Sozialgeschichte_und_Historische_Sozialwissenschaft [30.1.2024].

 

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