Im Gespräch: kritisch nachgefragt bei Kirsten Pörschke, Programm-Managerin Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten bei der Körber-Stiftung
LaG: Der Geschichtswettbewerb wird hartnäckig mit dem (Vor)Urteil konfrontiert, dass er ein „elitärer Wettbewerb“ sei, in dem Sinne, dass mehrheitlich Gymnasiast:innen teilnehmen. Was erwidern Sie darauf?
Kirsten Pörschke (Körber-Stiftung): Es stimmt, dass am Geschichtswettbewerb mehrheitlich Gymnasien teilnehmen. Rund 67% der Schüler:innen, die sich 2022/23 an der Ausschreibung „Wohnen hat Geschichte“ beteiligt haben, besuchten ein Gymnasium. Auf die Beitragszahlen geschaut liegt der Anteil mit knapp 81% noch höher, weil an Gymnasien mehr Einzel- als Gruppenbeiträge entstehen. Die Gründe sind vielfältig: Wie viel Raum für historische Projektarbeit gibt es an den Schulen? Wie viel Anleitung und Engagement seitens der Lehrkräfte sind erforderlich? Wo können Schüler:innen einen Teil der Projektarbeit außerhalb des Unterrichts erbringen, wo tendenziell auf familiäre Unterstützung bauen …? Das, was wir als Frage der Bildungsungerechtigkeit in der Gesellschaft diskutieren, spiegelt sich auch im Teilnehmendenspektrum des Geschichtswettbewerbs. Der Wettbewerb kann ungleiche Voraussetzungen nicht kompensieren. Aber er kann sich aktiv öffnen, Anreize schaffen und stellenweise Barrieren verringern, um alle Schulformen und Altersstufen zur Teilnahme einzuladen: So haben wir 2012/13 ein Projektheft für Schüler:innen eingeführt. In Ergänzung zum spurensuchen-Magazin finden Teilnehmer:innen hier Arbeitstipps und Checklisten, die sie durch die Projektschritte führen. Dazu werden der voraussetzungsreiche Thementext und die Aufgabenstellung in einfachere Sprache übersetzt. Zudem wirbt der Geschichtswettbewerb offensiv für kreative Beitragsformate wie Podcasts, Videos, Theaterstücke oder Apps. Seit 2018/19 stellen wir dazu didaktische Materialien, Workshops und Video-Tutorials zur Verfügung. Das ist auch eine Reaktion auf die veränderte Mediennutzung von Schüler:innen. Denn Geschichte(n) vor Ort oder in der Familie zu erforschen, reizt viele – einen langen Text mit Fußnoten zu verfassen dagegen eher nicht.
Darüber hinaus fördern und würdigen wir besonders gelungene Teamarbeit. 2020/21 haben wir beispielsweise erstmals einen Preis für den erfolgreichsten Gruppenbeitrag im Bundesland ausgelobt. Durch diesen Anreiz wachsen vor allem die Chancen für jüngere Teilnehmer:innen und nicht-gymnasiale Schulformen, beim Wettbewerb erfolgreich zu sein. Andere Anreize sind weniger sichtbar: Ein zentrales Element für ein möglichst faires Bewertungsverfahren etwa ist der Arbeitsbericht von Teilnehmer:innen, bei Jüngeren der von Tutor:innen, der den Forschungsprozess schildert und reflektiert. Der Arbeitsbericht hilft den Jurys dabei, nicht nur das Ergebnis, sondern auch den Forschungsweg bei ihrer Bewertung zu berücksichtigen. Zudem sind die Bewertungskriterien nach Altersstufen gestaffelt. All das ändert zwar nichts an der Tatsache, dass die Schüler:innen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen in den Wettbewerb starten. Unsere Bemühungen helfen aber bei einer möglichst fairen Bewertung. Und natürlich denken wir weiter: Im Austausch mit unserem Netzwerk diskutieren wir über größere strukturelle Eingriffe wie eine Quote oder nach Schulformen getrennte Ausschreibungen. Aber hier gilt es, auch die triftigen Argumente dagegen abzuwägen. In jedem Fall sind wir für Diskussionen und gute Ideen offen.
LaG: Wie erfolgt die Themenauswahl für den jeweiligen Wettbewerb innerhalb der Stiftung? Sind es vor allem politisch brisante Themen, die ausgeschrieben und später auch prämiert werden?
Pörschke: Politische Brisanz zählt nicht zu den Kriterien für ein Wettbewerbsthema, wohl aber öffentliches Interesse, gesellschaftliche Relevanz und Schüler:innenbezug. Der Geschichtswettbewerb versteht sich als Initiative der historisch-politischen Bildung. Die historische Spurensuche soll Kinder und Jugendliche in die Lage versetzen, ein Verständnis für gesellschaftliche Lagen in Geschichte und Gegenwart zu entwickeln, Perspektiven einzuordnen und ihre Kritik- und Urteilskraft zu stärken. Insofern ist eine Bezugnahme auf aktuelle Probleme und Diskussionen erwünscht, aber nicht im Sinne eines politischen Statements. Bei der Themenwahl spielen verschiedene Kriterien eine Rolle: Das Thema muss bundesweit, in urbanen wie ländlichen Räumen und über für Schüler:innen zugängliche Quellen zu erforschen sein. Es muss lokal-, regional- und familiengeschichtliche Zugänge ermöglichen. Außerdem muss es eine Streuung der Schwierigkeitsgrade zulassen, damit Schüler:innen aller Altersstufen und Schulformen teilnehmen können. Es muss offen sein, Assoziationen wecken, auch über Bilder vermittelbar sein – und nicht zuletzt sollte es den Nerv junger Menschen treffen. Das gelingt mal mehr und mal weniger. Außerdem entscheiden wir über das Rahmenthema nicht am grünen Tisch. Die Themenfindung für eine Ausschreibung zieht sich über acht Monate. Sie beginnt mit einem Aufruf an unser Netzwerk, in dem unter anderem viele Lehrkräfte und Archivpädagog:innen sind. Deren und unsere eigenen Ideen ordnen und gewichten wir, erstellen eine Shortlist, prüfen eine Auswahl mit Blick auf die genannten Kriterien. In mitunter kontroversen Debatten mit dem wissenschaftlichen Beirat ermitteln wir dann drei Themenfelder, von denen nach erneuter Aufbereitung und Diskussion das Wettbewerbskuratorium eines auswählt.
Politische Brisanz trägt einen Beitrag ebenso wenig wie Stromlinienförmigkeit zur Prämierung. Allerdings sind ein gelungener Gegenwartsbezug, die Reflexion von Bezügen der Forschungsergebnisse zu heutigen Problemlagen oder das Nachdenken über die Frage „Was hat das mit uns oder mir zu tun?“ durchaus im Sinne des Wettbewerbs. Die Auswahl potenziell zu prämierender Beiträge ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Erst ganz am Schluss, bei der Diskussion um die Vergabe der fünf ersten Bundespreise, spielen dann sicher auch wettbewerbspolitische Aspekte eine Rolle. Denn diese Beiträge stehen im Scheinwerferlicht der bundesweiten Öffentlichkeit. Sie sollten nicht nur eine möglichst große Vielfalt mit Blick auf Region, Alter und Geschlecht der Teilnehmer:innen repräsentieren, von ihnen sollte auch thematisch eine gewisse Strahlkraft ausgehen, um öffentliche Diskussionen anzustoßen, weiße Flecken unserer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aufzuzeigen und die Schüler:innen als Forschende sichtbar werden zu lassen.
LaG: In der 50-jährigen Wettbewerbsgeschichte ist ein großer Fundus an Beiträgen entstanden. Wo werden sie öffentlich sichtbar und welche neuen Möglichkeiten ergeben sich hierfür durch die Digitalisierung?
Pörschke: Für eine öffentliche Sichtbarkeit und Anerkennung der Forschungsleistungen ist neben dem Engagement von Teilnehmer:innen und Tutor:innen vor allem wichtig, dass das Thema auf Interesse in der Öffentlichkeit vor Ort stößt. Immer wieder entfalten Forschungsarbeiten auch über den Wettbewerb hinaus Wirkung, fließen in die regionale Geschichtskultur ein oder stoßen im lokalen Umfeld Debatten an. Teilnehmer:innen initiieren Gedenkveranstaltungen, verlegen Stolpersteine, präsentieren ihre Ergebnisse in öffentlichen Institutionen vor Ort oder veröffentlichen ihre Arbeiten in regionalen Publikationen.
Ob kreative Beitragsformate per se zu mehr Sichtbarkeit führen, wissen wir nicht. Theaterstücke oder Ausstellungen richten sich von der Eigenlogik her an ein größeres Publikum. Das gilt auch für Videos: So hat beispielsweise das Musikvideo einer 5. Klasse aus Hannover auf YouTube über 7.000 Aufrufe erzielt, der Dokumentarfilm von sechs Hamburger Schülern über die Vereinskultur des FC St. Pauli gar über 66.000. Wirkung lässt sich aber auch mit weniger Reichweite erzielen. Der klassische schriftliche Beitrag, früher vereinzelt über 200 Seiten stark, ist inzwischen auf maximal 50 Seiten begrenzt, kann aber ebenso wie eine ansprechende Ausstellung Wirkung vor Ort entfalten.
Eine Bildstrecke zur Vielfalt der Wettbewerbsbeiträge und ihrer Formate finden Sie hier:
Schriftlicher Beitrag mit Zeichnungen und Skizzen (insgesamt 82 Seiten) zu Revolution 1848/49 zur ersten Wettbewerbsausschreibung (Körber-Archiv GW 1974-0179)
Schulweg früher und heute: der kreative Beitrag einer 5. Klasse, handschriftlich und mit selbst gemalten Bildern illustriert (Körber-Archiv GW 1991-0967)
Eine der ersten Webseiten beim Geschichtswettbewerb, hier zur Ausschreibung „Protest in der Geschichte“ (Körber-Archiv GW 1999-1071). Weitere Beispiele hier.
Eine Gruppe Berufsschüler:innen hat ihre Untersuchung von Frauenarbeit in Haus und Beruf kreativ gestaltet, mit Booklets und T-Shirts in Kartons für verschiedene Zeiträume (Körber-Archiv GW 2005-1378)
„Miesbach brannte, Petronilla rannte“: ein Gesellschaftsspiel zum großen Brand in Miesbach 1738 (Körber-Archiv GW 2009-1196)
Eine Ausstellung zur Schulgeschichte in einer Hamburger Schule (Körber-Archiv GW 2019-0419)
Schriftbeitrag samt nachgebildeter Kutte einer Stralsunder Jugendgruppe (Körber-Archiv GW 2019-1802)
App: Interaktiver Stadtrundgang zum Kriegsende in Demmin 1945 (Körber-Archiv GW 2019-0695)
Von Seiten der Körber-Stiftung erfahren die Beiträge vor allem durch die Preisverleihungen in allen Bundesländern, die Bundespreisverleihung und die von uns koordinierte Pressearbeit Sichtbarkeit. Alle prämierten Arbeiten und die Teilnehmer:innen mit ihren Tutor:innen werden vorgestellt, oft stoßen diese Veranstaltungen auf ein reges Interesse bei der Presse vor Ort. Außerdem haben Standorte mit langer Wettbewerbstradition teils eigene Formate entwickelt, um die Leistung aller Wettbewerbsteilnehmer:innen anzuerkennen. Ins digitale Hamburg-Geschichtsbuch etwa haben verschiedene Wettbewerbsbeiträge Eingang gefunden. Die mehr als 1.700 in Münster entstandenen Beiträge sind in einer eigens dafür entwickelten Online-Datenbank erfasst worden und werden zusätzlich im Stadtarchiv archiviert. Solche Initiativen sind ein wichtiges Instrument zur Förderung von Schüler:innenforschung.
Seit 2012/13 werden Beiträge zum Geschichtswettbewerb online eingereicht. Das war für uns und die Jurymitglieder durchaus ein Einschnitt – im positiven Sinne. Jetzt gehen keine Pakete mit Wettbewerbsarbeiten mehr durch das ganze Land und es braucht keinen Transporter mehr, der die Arbeiten zur Abschlusstagung der Bundesjury liefert. Abläufe haben sich vereinfacht und wir bewahren alle Beiträge auf, nicht bloß die prämierten.
Zwei Mitarbeiterinnen der Körber-Stiftung beim Auspacken eines Wettbewerbsbeitrags 1989. Foto: Körber-Stiftung
Dass die Körber-Stiftung trotz der theoretischen Möglichkeit nicht alle Beiträge öffentlich zur Verfügung stellt, hängt außer an komplizierten Fragen der Bild- und Persönlichkeitsrechte vor allem an der immensen Menge: Pro Ausschreibung werden mehr als 1.500 Beiträge eingereicht! Wir archivieren seit 2012 alle, in der Datenbank auf unserer Website sind die prämierten Beiträge auffindbar.
LaG: Welche Chance bieten Künstliche Intelligenz (KI) und Digitalisierung für die Körber-Stiftung, um im Umgang mit diesem Themenfeld eine Vorreiterrolle einzunehmen?
Pörschke: Mit Blick auf KI ist das Einnehmen einer Vorreiterrolle ein hoher Anspruch. Wir stehen wie andere auch unter dem Druck des schnellen Taktes, in dem sich neue Technologien und Tools entwickeln. Fest steht, dass wir die Herausforderungen durch KI offensiv angehen möchten: Schüler:innen sind uns hier im Zweifel ohnehin voraus. Zum Transkribieren handschriftlicher Quellen beispielsweise haben Teilnehmer:innen schon 2022 mit KI-gestützter Texterkennung gearbeitet – und vorbildlich im Arbeitsbericht darauf hingewiesen. Welche Tools können im Rahmen historischer Projektarbeit noch sinnvoll sein? Worauf kommt es bei ihrer Nutzung an, wo liegen ihre Grenzen und Risiken? Auch zum Umgang mit textgenerierenden Anwendungen wie ChatGPT werden wir Tipps und Regeln entwickeln. Wie sich die historische Spurensuche und Wettbewerbsbeiträge durch KI-Tools verändern, was das für Aufgabenstellung und Bewertungskriterien bedeuten wird, werden wir bis zum nächsten Ausschreibungsstart Anfang September 2024 diskutieren und festlegen. In jedem Fall spielt der Arbeitsbericht eine wichtige Rolle, wenn Teilnehmer:innen hier ihren Forschungsprozess und damit auch ihre Nutzung von KI offenlegen.
Die Recherchewege der Schüler:innen haben sich durch die Digitalisierung allerdings schon seit einigen Jahren verändert. Noch 2013 resümierte eine Teilnehmerin: „Die Spurensuche war schwerer als gedacht, zumal ich bei Google fast nichts gefunden habe“. Zehn Jahre später ist die Situation angesichts der fortschreitenden Digitalisierung und Online-Präsentation von Archivquellen, digitalisierter Zeitungsbestände oder Kartensammlungen eine andere. Aber trotz Digitalisierung lebt der Ansatz der regionalen oder familiengeschichtlichen Spurensuche noch immer von vor Ort gehobenen Quellen und eigenen Interviews mit Zeitzeug:innen und Expert:innen. Und nicht selten schwärmen unsere Teilnehmer:innen von ihrem ersten Besuch im Archiv und den ‚echten‘ Quellen. Doch auch die Frage nach der Authentizität historischer Quellen stellt sich im digitalen Zeitalter neu und gibt dem kritischen Umgang mit ihnen eine neue Dimension.
LaG: Was sind weitere Aufgaben, denen sich der Geschichtswettbewerb in Zukunft stellen muss?
Pörschke: Mit den Themen KI und Partizipation sind zwei große (Dauer)Aufgaben schon benannt. Der Geschichtswettbewerb hat auch künftig verschiedene Balanceakte zu vollbringen: Er muss die richtigen Themen aufspüren und den Nerv seiner Zielgruppen treffen. Er muss die Balance zwischen wissenschaftlichem Anspruch und größtmöglicher Teilhabe wahren, sich an sich verändernde schulische Rahmenbedingungen anpassen und zugleich an seiner Kernidee festhalten. Und was nicht zu unterschätzen ist: Wir müssen immer wieder Lehrkräfte gewinnen, die ihre Schüler:innen für den Wettbewerb begeistern und als Tutor:innen begleiten.
Wo der Geschichtswettbewerb noch mehr Potenzial birgt: Er kann die Geschichts- und Erinnerungskultur um Herkunfts- und Migrationsgeschichte(n) bereichern. Der familiengeschichtliche Bezug ermöglicht es Schüler:innen, sich bei der Spurensuche nicht nur mit Themen der deutschen Geschichte zu beschäftigen, sondern auch ihre vielfältigen Familiengeschichten einzubringen oder neue Fragen an ihre Heimatorte zu stellen. Teilnehmer:innen haben das in der Vergangenheit schon vielfach getan. Hier könnte der Wettbewerb aber noch gezieltere Impulse setzen und künftig einen größeren und sichtbareren Beitrag leisten.
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- 20 Mär 2024 - 08:17