Dr. Kathleen Heft ist Kulturwissenschaftlerin, sie forscht zu Ostdeutschland im medial-öffentlichen Diskurs, zu Migration in die DDR sowie zu Ostdeutschen und Migrant*innen und ihren Nachkommen in bundesdeutschen Eliten. Ihre Dissertation „Kindsmord in den Medien. Eine Diskursanalyse ost-westdeutscher Dominanzverhältnisse“ erschien 2020. Als Co-Herausgeberin veröffentlichte sie 2022 den Sammelband „Feministische Visionen vor und nach 1989“.

Von Kathleen Heft

Das Kolonisierungsnarrativ in der Kritik

Die Rede von der Kolonisierung Ostdeutschlands durch den Westen im Zuge der Deutschen Einheit und Transformation gibt es seit den 1990er Jahren. Als Folge von Kolonisierung verstanden wurden vor allem die bereits damals bestehende wirtschaftliche Ungleichheit zwischen Ost- und Westdeutschland – etwa geringere Löhne und Renten, das Fehlen von wirtschaftlich starken Unternehmen im Osten sowie die hohen Arbeitslosenzahlen –, die durch die Währungsunion, den Elitentransfer von West nach Ost und die Politiken der Treuhand hergestellt oder verfestigt wurden. Aber auch Erfahrungen von ostdeutscher Unterrepräsentation und westdeutscher Dominanz in Politik, Kultur, Wissenschaft und Medien sowie der Umgang mit der Erinnerung an die DDR wurden und werden als Kolonisierung beschrieben. So identifizierten Dümcke/Vilmar 1995 (13) „[die] Zerstörung einer ‚einheimischen‘ Wirtschaftsstruktur, die Ausbeutung der vorhandenen ökonomischen Ressourcen, die soziale Liquidation nicht nur der politischen Elite, sondern auch der Intelligenz eines Landes sowie die Zerstörung der gewachsenen – wie auch immer problematischen – Identität einer Bevölkerung“ als Anzeichen einer Kolonisierung des Ostens. Für die Autorin Grit Lemke ist es auch im Jahr 2023 noch „die Osterfahrung schlechthin: ein kolonisiertes Gebiet zu sein“ (Lemke 2023: 20).

Zugleich wurde die Rede von der Kolonisierung des Ostens durch den Westen von Anfang an kritisiert und mit unterschiedlichen Argumenten zurückgewiesen. Insbesondere die implizite Gleichsetzung ostdeutscher Marginalisierungserfahrungen im vereinten Deutschland mit den vielfältigen, gewaltvollen Ereignissen und Praxen des europäischen – und deutschen – Kolonialismus seit dem 15. Jahrhundert und seinen anhaltenden Auswirkungen in der Gegenwart wurde infrage gestellt. Sollen wir wirklich die gleichen Begriffe und Konzepte für die Erforschung und gesellschaftliche Aufarbeitung so grundlegend unterschiedlicher Kontexte nutzen? Lassen sich die Verschleppung, Versklavung und Auslöschung ganzer Bevölkerungen oder die Zerstörung und Ersetzung vorhandener Rechts-, Wirtschafts- und Regierungsstrukturen durch koloniale Herrschaftsstrukturen mit den Unterschichtungs- und Marginalisierungserfahrungen von Ostdeutschen vergleichen, die in einem demokratischen Rechtsstaat volle Bürger*innenrechte genießen?

Vor dem Hintergrund, dass der europäische Kolonialismus ein kaum aufgearbeitetes Kapitel der deutschen Geschichte und Gegenwart darstellt, irritiert die Nutzung des Kolonisierungsnarrativs für Verhältnisse im vereinten Deutschland umso mehr. Er wird als Verharmlosung des Kolonialismus kritisiert (vgl. etwa Kowalczuk 2019: 15f.), etwa, da aus postkolonialer Perspektive weiße Ostdeutsche Erben und Nutznießer*innen des Kolonialismus sowie seiner Folgen sind – und gerade nicht seine Opfer.

Die Themen, die mit dem Kolonisierungsnarrativ angesprochen werden sollen – die Herstellung und Aufrechterhaltung von Ungleichheiten zwischen Ost- und Westdeutschland –, verschwinden hinter der berechtigten Kritik an der problematischen Gleichsetzung. Dennoch wird das Kolonisierungsnarrativ immer wieder aufgegriffen. Warum ist das so? Zeigt sich hier die Unbelehrbarkeit mancher ost- (und west‑)deutscher Akteur*innen? Haben wir es mit den berüchtigten ‚Jammer-Ossis‘ zu tun, die sich immerfort als Opfer des Westens inszenieren? Oder haben die Ostdeutschen vergessen, dass sie in der letzten Volkskammerwahl 1990 den Weg der Deutschen Einheit gewählt und damit für den Beitritt zur Bundesrepublik, ihrer Demokratie, ihrem Rechtsstaat und ihrem Wirtschaftssystem gestimmt haben?

Wie über den Osten (und Westen) sprechen?

Ich denke, dass die fortwährende Nutzung des Kolonisierungsnarrativs auf eine Leerstelle hinweist: Es fehlen adäquate Konzepte und Begriffe, mit denen deutsch-deutsche Verhältnisse seit der Deutschen Einheit in ihrer Widersprüchlichkeit und Komplexität diskutiert, kritisiert und aufgearbeitet werden können. Stattdessen findet die Auseinandersetzung mit Missständen in Ostdeutschland und Ungleichheiten zwischen Ost und West in wiederkehrenden medialen „Ost-Debatten“ statt, die allzu häufig auf gegenseitige Schuldzuweisungen hinauslaufen. Ein Beispiel dafür ist der Diskurs über den „braunen Osten“, der sich mit (extrem) rechten und rechtspopulistischen Zuständen im Osten Deutschlands beschäftigt (vgl. Heft 2018). Dabei werden (extrem) rechte und rechtspopulistische Ereignisse und Missstände häufig wahlweise als ostdeutscher Defekt und Spätschaden der DDR oder als Import aus dem Westen verhandelt.

Zudem werden der Osten und die Ostdeutschen im medialen Diskurs allzu oft als Problem und Besonderheit dargestellt (vgl. Ahbe 2009; Kollmorgen/Hans 2011; Heft 2020). Ostdeutsche erscheinen hier als befremdliche Andere, die von der DDR und der Transformation der 1990er Jahre geschädigt und auch im Jahr 2023 noch nicht im Deutschland der Gegenwart angekommen sind. Missstände, aber auch Differenzen werden als ostdeutsche Abweichung von der westdeutschen Normalität verstanden und als Folge von Autoritarismus und Diktatur in der DDR gedeutet. Der Westen fungiert dabei als „stille Norm“ (Dietze 2009): Er ist der unhinterfragte Standard, der nicht benannt werden muss und trotzdem Maßstab für das vereinte Deutschland ist. Dieser Vorstellung folgend muss sich der Osten im Sinne einer „nachholenden Modernisierung“ und Demokratisierung an den Westen anpassen.

Das Kolonisierungsnarrativ nimmt gewissermaßen den Gegenstandpunkt zu dieser Sichtweise ein; es lenkt den Blick auf die Rolle des Westens, seiner Institutionen und Akteur*innen. Damit rücken Ereignisse und Prozesse in den Fokus, die nicht primär in der DDR und ihrem Scheitern begründet sind, sondern die geteilte Geschichte und Gegenwart im vereinten Deutschland einbeziehen. Allerdings kann das Kolonisierungsnarrativ der Komplexität der historischen Ereignisse und aktuellen Verhältnisse nicht gerecht werden, wenn es lediglich den Opferstatus des Ostens betont und sich dafür ein Vokabular zunutze macht, das Kolonialismus relativiert.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR, der Deutschen Einheit und Transformation benötigt Begriffe und Konzepte, die den komplexen Realitäten in Geschichte und Gegenwart gerecht werden können und davon Abstand nehmen, vor allem Opfer und Täter zu markieren und die Schuld beim jeweils anderen zu suchen. „Ost-Debatten“ lassen kaum Spielraum für Ambivalenzen und Widersprüche, für Grautöne und die Möglichkeit eines Sowohl-als-auch zu. Ostdeutsch (und westdeutsch) wird in „Ost-Debatten“ meist monolithisch und nicht intersektional gedacht. Das bedeutet, dass unterschiedliche, sich überschneidende Machtverhältnisse nicht berücksichtigt werden, die die Erfahrungen und Perspektiven von Ostdeutschen jeweils prägen. So machen ostdeutsche Pfarrerskinder andere Erfahrungen als Ostdeutsche mit Migrationsgeschichte (vgl. Prennig 2019; Lierke/Massochua/Zimmermann 2020). Ostdeutsche Erfahrungen von gesellschaftlichem Ein- und Ausschluss, von Anders-gemacht-Werden (Othering) und selbstverständlicher Zugehörigkeit, von Macht und Ohnmacht sowie von Demokratie und anhaltender ökonomischer Unterschichtung lassen sich weder mit dem Kolonisierungsnarrativ noch mit dem Verweis auf den langen Schatten der DDR adäquat bearbeiten. Auch die Perspektiven und Erfahrungen von migrantischen Ostdeutschen sowie Ostdeutschen of Color/Schwarzen Ostdeutschen lassen sich nur schlecht mit dem Kolonisierungsnarrativ abbilden.

Postkoloniale Theorie und Ossifizierung

Statt eine Kolonisierung des Ostens zu behaupten, möchte ich vorschlagen, die deutsche Ost-West-Problematik durch die Brille postkolonialer Theorie zu betrachten. Post- und dekoloniale Theorie wird bereits seit den 2000er Jahren für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem deutsch-deutschen Kontext adaptiert (vgl. Cooke 2005; Heft 2020: 247–293). Mit post- und dekolonialer Theorie können Themen durchdacht werden, die auch im Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschland relevant sind: Wie verhalten sich Zentrum und Peripherie zueinander? Wie werden das Eigene und das Andere durch- und miteinander hergestellt? Wie tragen Wissen und Diskurse dazu bei, dass wir den Osten als Anderes des Westens wahrnehmen und umgekehrt? Dabei ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Ostdeutsche sowohl Marginalisierung erfahren als auch machtvolle, hegemoniale Positionen einnehmen können. Sei es, weil sie Bürger*innen eines mächtigen Staates sind, oder weil sie als weiße Ostdeutsche Geflüchteten, Migrant*innen oder People of Colour/Schwarzen Menschen gegenüber Privilegien beanspruchen oder gar physische Gewalt ausüben. Die Sozialwissenschaftlerin Sandra Matthäus spricht deshalb von einer „Doppelzugehörigkeit“ des Ostens. Sie schlägt vor, den Osten „als Teil ‚des Westens‘ wie ‚des (sozialistischen) Rests‘“ zu verstehen (Matthäus 2019: 131–133; vgl. Heft 2020: 282–285).

Über Ost- und Westdeutschland mit Hilfe postkolonialer Theorie nachzudenken, bedeutet indes nicht, erneut eine Kolonisierung des Ostens auszurufen. Vielmehr geht es darum zu erkennen und sich zunutze zu machen, dass die deutsche Gegenwartsgesellschaft – in Ost und West – Teil einer postkolonialen Welt ist, die sich mithilfe dieser Theorieansätze analysieren und verstehen lässt. Diskursanalytische postkoloniale Theorie zeigt beispielsweise, wie sich westeuropäische Gesellschaften im Kolonialismus in Abgrenzung zum Orient bzw. kolonialen Anderen als Westen erschaffen haben, wie in diesem Zusammenhang Diskurse und Praxen der Grenzziehung und des Othering entstanden sind. Diese sind meines Erachtens auch in aktuellen Kontexten wirksam, die nicht als kolonial gedacht werden (müssen).

Ich habe dafür das Konzept Ossifizierung vorgeschlagen (vgl. Heft 2018; Heft 2020). Ossifizierung greift Impulse aus der post- und dekolonialen Theorie auf, darunter das Orientalismus-Konzept von Edward Said (2003) und die Okzidentalismuskritik von Fernando Coronil (2013). Die Wortneuschöpfung Ossifizierung verweist darauf, dass etwas oder jemand ostdeutsch gemacht wird. Ossifizierung findet statt, wenn Phänomene und Praxen, die die Gesellschaft als Ganze betreffen, als spezifisch oder typisch ostdeutsch verstanden werden. Zweifelsohne gibt es viele historische und gegenwärtige Differenzen zwischen Ost- und Westdeutschland, die erkannt und diskutiert werden müssen. Der springende Punkt ist ein anderer: Ossifizierung sieht die Besonderheit im Osten. Sie sucht auch die Ursachen dafür im Osten, während für das gleiche Phänomen im Westen keine gesonderten Erklärungen gesucht werden, die darüber hinaus einen Sonderstatus des Westens behaupten. Es ist also ossifizierend, wenn Besonderheiten im Osten primär auf die DDR oder/und auf die (Transformations‑)‌Erfahrungen der Ostdeutschen zurückgeführt und mit diesen erklärt werden, während der Anschein erweckt wird, dass diese Besonderheit im Westen nicht erklärungsbedürftig sei. Ossifizierung verschiebt und externalisiert (gesamt‑)‌gesellschaftliche Phänomene in den Osten und markiert sie als vorrangiges oder gar alleiniges Problem des Ostens. Der Westen erscheint hingegen als impliziter Standard, an dem die Abweichung des Ostens sichtbar wird.

Mit dem Konzept Ossifizierung lässt sich über eine Reihe von Themen nachdenken, die auch mit dem Kolonisierungsnarrativ angesprochen werden: Das Anders-gemacht-werden (Othering) des Ostens, seine Marginalisierung sowie seine Unterordnung unter die „stille Norm“ Westdeutschlands, die Rolle westdeutscher Institutionen wie Akteur*innen in der Transformation und in Bezug auf aktuelle Ungleichheiten. Es lehnt sich an Konzepte der post- und dekolonialen Theorie an, ist aber für die Analyse deutsch-deutscher Verhältnisse gedacht und macht dies auch in der Bezeichnung deutlich.

 

Literatur

Ahbe, Thomas: Die Ost-Diskurse als Struktur der Nobilitierung und Marginalisierung von Wissen. Eine Diskursanalyse zur Konstruktion der Ostdeutschen in den westdeutschen Medien-Diskursen 1989/90 und 1995, in: Ahbe, Thomas/Gries, Rainer/Schmale, Wolfgang (Hrsg.): Die Ostdeutschen in den Medien. Das Bild von den Anderen nach 1990, Leipzig 2009, S. 59–112.

Cooke, Paul: Representing East Germany since Unification: from Colonization to Nostalgia, Oxford/New York 2005.

Coronil, Fernando: Jenseits des Okzidentalismus. Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien, in: Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini/Römhild, Regina (Hrsg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erweiterte Auflage, Frankfurt/Main und New York 2013, S. 466–505.

Dietze, Gabriele: Okzidentalismuskritik. Möglichkeiten und Grenzen einer Forschungsperspektivierung in: Dietze, Gabriele/Brunner, Claudia/Wenzel, Edith (Hrsg.): Kritik des Okzidentalismus. Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo‑)‌Orientalismus und Geschlecht, Bielefeld 2009, S. 23–54.

Dümcke, Wolfgang/Vilmar, Fritz (Hrsg.): Kolonialisierung der DDR. Kritische Analysen und Alternativen des Einigungsprozesses, Münster 1995.

Heft, Kathleen: Brauner Osten – Überlegungen zu einem populären Deutungsmuster ostdeutscher Andersheit, in: Feministische Studien, Jg. 36 (2018), H. 2, S. 357–366.

Heft, Kathleen: Kindsmord in den Medien. Eine Diskursanalyse ost-westdeutscher Dominanzverhältnisse, Opladen u.a. 2020.

Kollmorgen, Raj/Hans, Torsten: Der verlorene Osten. Massenmediale Diskurse über Ostdeutschland und die deutsche Einheit, in: Kollmorgen, Raj/Koch, Frank Thomas/Dienel, Hans-Liudger (Hrsg.): Diskurse der deutschen Einheit. Kritik und Alternativen, Wiesbaden 2011, S. 107–165.

Kowalczuk, Ilko-Sascha: Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde, München 2019.

Lemke, Grit: Die große Wunde. Warum wir die Zeit nach der Wende kollektiv aufarbeiten müssen. Jana Seppelt im Gespräch mit Grit Lemke, in: LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis, H. 1/2023, S. 18–21.

Lierke, Lydia/Massochua, Jessica/Zimmermann, Cynthia: Ossis of Color. Vom Erzählen (p)ost-migrantischer Geschichten, in: Lierke, Lydia/Perinelli, Massimo (Hrsg.): Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive, Berlin 2020, S. 451–467.

Matthäus, Sandra: ‚Der Osten‘ als Teil ‚des Westens‘ und ‚des Rests‘. Eine unmöglich knappe Skizze der Potenziale Postkolonialer Theorien für eine Analyse ‚des Ostens‘, in: Femina Politica, Jg. 28 (2019), H. 2, S. 130–135.

Prennig, Thomas: Pfarrerskinder in der DDR. Zwischen Privilegierung und Diskriminierung. Eine habitustheoretische Analyse im Anschluss an Norbert Elias und Pierre Bourdieu, Bielefeld 2019.

Said, Edward W.: Orientalism, New York 2003.

 

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