Johanna Sokoließ ist als Fachreferentin in der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ) verantwortlich für die Konzeption und fachliche Begleitung von Bildungsangeboten in Deutschland und Europa. Zuvor war sie als Referentin für politische Bildung in der Europäischen Akademie Berlin unter anderem für die Konzeption und Leitung des Projekts Digital Lines verantwortlich.

von Johanna Sokoließ

Das Projekt Digital Lines of Life and Death sucht nach neuen visuellen Möglichkeiten, an den Genozid an den Sinti:ze und Rom:nja zu erinnern. Denn die Diskriminierung, Verfolgung und systematische Ermordung hunderttausender europäischer Sinti:ze und Rom:nja findet auch heute noch kaum Beachtung in der Erinnerung an die NS-Zeit. Diese Leerstelle adressiert das deutsch-tschechische Projekt Digital Lines. Es möchte einen Beitrag dazu leisten, diesen Teil der Geschichte für eine breite Öffentlichkeit zugänglich sowie Kontinuitätslinien in der Verfolgung und Diskriminierung sichtbar zu machen.

Stellvertretend für die Verfolgten stellt das Projekt in Graphic Novels das Leben zweier Betroffener dar, die in den 1920er Jahren in Deutschland und der damaligen Tschechoslowakischen Republik aufgewachsen sind: Otto Rosenberg, ein deutscher Sinto, und Emilie Danielová, eine tschechische Romni. Ihre von Diskriminierung und Verfolgung, aber auch von Überlebenswillen und Kampfgeist geprägten Lebenswege werden von der Kindheit bis ins hohe Alter nachgezeichnet. Ihre Wege kreuzen sich in Auschwitz, dem emblematischen Ort der NS-Vernichtungspolitik, dem beide entkommen konnten.

Unser Anspruch: zugänglich, transnational, multiperspektivisch 

Einige grundsätzliche Leitlinien prägten die Projektarbeit: Zum einen die Prämisse des niedrigschwelligen Zugangs zu den Inhalten, die ortsunabhängig abgerufen werden können. Die Wahl des Mediums war von dem Anspruch geleitet, sich den Rezeptionsgewohnheiten einer jüngeren Zielgruppe anzupassen. Ihr Interesse sollte durch die visuelle Darstellung der Schicksale im digitalen Raum und durch den Biografie-basierten Zugang geweckt werden. Hinzu kam das Anliegen, keine rein deutsche oder rein tschechische Geschichte zu erzählen, sondern die Verwobenheit europäischer Geschichte im 20. Jahrhundert multiperspektivisch zu illustrieren. Schließlich sollte der Fokus nicht nur auf der Darstellung historischer Ereignisse liegen, sondern auch Leerstellen in der deutschen und tschechischen Erinnerungskultur beleuchten, zugleich auf Kontinuitäten und auf gegenwärtige Mechanismen der Ausgrenzung verweisen. Damit einher ging der Anspruch, die Protagonist:innen nicht ausschließlich als Opfer darzustellen, sondern auch ihr Leben und Wirken vor und nach dem Zweiten Weltkrieg zu skizzieren und zu würdigen.

Darstellungskriterien

Diese Ansprüche umzusetzen, war mit diversen Herausforderungen verbunden, die sich in fünf Schlagworten verdichten lassen:

Reduktion: Komplexe Lebenswege mussten auf wenige Lebensstationen, und diese wiederum auf konkrete Schlüsselsituationen, heruntergebrochen werden. Nichtsdestotrotz galt es, einen langen Zeitraum abzudecken, um die Kontinuitätslinien sichtbar machen zu können. Dies bedeutete: verdichtete Inhalte – auch durch visuelle Sprache.

Verständlichkeit: Um das komplexe Thema trotz der notwendigen Reduktion angemessen und verständlich darzustellen, haben wir uns für die Arbeit mit dreisprachigen Zusatzinformationen in Form von Kurztexten, Bildern, Fotografien und Linksammlungen entschieden, die den Leser:innen eine vertiefte Beschäftigung ermöglichen und selbstgesteuertes Lesen und Lernen befördern. Die (Zwischen-)Ergebnisse haben wir mit einer Gruppe Jugendlicher reflektiert.

Authentizität: Für die visuelle Darstellung der Ereignisse gibt es keine (genauen) Vorlagen, sodass es mitunter langer Recherchen bedurfte, um der Zeichnung Authentizität verleihen zu können. Die recherchierten Fotos, Lagepläne und Beschreibungen, Zeitzeug:innenberichte und Biografien bildeten zusammen mit einem wissenschaftlichen Lektorat die Grundlage für die Darstellung der Personen, ihrer Kleidung, der Orte etc.

Repräsentation: Ohne die Stimmen von Betroffenen bzw. deren Nachkommen wäre das Projekt nicht umsetzbar gewesen. Daher ist Digital Lines in engmaschiger Zusammenarbeit mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg und dem Museum der Roma-Kulturen in Brno entstanden. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit und regelmäßige Rückkoppelung über Inhalte, Darstellungen und Wording waren der Schlüssel zur erfolgreichen Realisierung. Ein weiterer wichtiger Baustein war die enge Einbindung des Illustrators und die Abstimmung mit ihm.

Nutzung: Um dem Anspruch der Multiplizierbarkeit gerecht zu werden, haben wir einen didaktischen Leitfaden mit methodischen Vorschlägen und Einsatzszenarien erstellt und die digitalen Produkte auch analog (durch Plakate und Postkarten, u.a. an den historischen Orten selbst) beworben.

Die digitalen Graphic Novels sind in deutscher, tschechischer und englischer Sprache abrufbar. Alle Interessierten sind eingeladen, sie für ihre Zwecke zu nutzen – sei es für internationale Jugendbegegnungen, Gedenkstättenfahrten, Schulunterricht oder Angebote der außerschulischen Bildung. Mit jeder*jedem Leser:in kommen wir unserem Ziel ein kleines Stück näher, die benannten erinnerungskulturellen Leerstellen zu füllen.

 

Projektname: Digital Lines of Life and Death

Homepage: https://digitallines.eu

Projektträger: Europäische Akademie Berlin

Landesverband Deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg

Gedenkstätte Zwangslager Berlin-Marzahn

Museum der Roma-Kulturen in Brno

Materialien: Didaktischer Leitfaden

 

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