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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Katrin Hammerstein leitet seit Juni 2020 den Fachbereich Gedenkstättenarbeit bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des Landesarchivs Baden-Württemberg/Abteilung Staatsarchiv Freiburg und der Universität Heidelberg und hat zur Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus geforscht und publiziert.

Von Katrin Hammerstein

Baden-Württemberg zeichnet sich durch eine vielfältige Gedenkstättenlandschaft aus. Über das ganze Land verteilt gibt es zahlreiche Lern- und Gedenkorte sowie Gedenkstätteninitiativen, die an die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur erinnern und der Opfer gedenken. Damit werden der Nationalsozialismus und seine Verbrechen nicht nur konkret vor Ort (be-)greifbar, sondern es wird auch vor Augen geführt, wie flächendeckend und allgegenwärtig die NS-Verbrechen waren. Sie fanden nicht nur in den großen, auch international bekannten Konzentrationslagern wie Dachau, Buchenwald oder Auschwitz statt, sondern auch in der nahen Umgebung, teils in der unmittelbaren Nachbarschaft.

Thematische Bandbreite

Entstanden sind die baden-württembergischen Gedenkstätten ab den 1980er Jahren aus bürgerschaftlichem Engagement heraus und oftmals gegen Widerstände. Heute bilden sie ein dichtes und zugleich ausdifferenziertes Netz von Orten zur Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. So nehmen sie unterschiedliche Verfolgungs- und Verbrechenskomplexe in den Blick:

  • die politische Verfolgung an den Orten früher Konzentrationslager: 1985 wurde das Dokumentationszentrum Oberer Kuhberg (DZOK) in Ulm eröffnet. Das „Fort Oberer Kuhberg“ fungierte von 1933 bis 1935 als Konzentrationslager für das Land Württemberg. Etwa 600 Gegner des NS-Regimes waren dort inhaftiert, an deren Schicksal das DZOK erinnert. Im Land Baden bestand im Schloss Kislau von 1933 bis 1939 ein frühes Konzentrationslager, in dem ca. 1.500 Männer in Haft waren, v. a. politische Gegner, später auch Zeugen Jehovas, sogenannte Asoziale und andere „Volksschädlinge“. Dieser Geschichte widmet sich das 2012 gegründete Projekt Lernort Kislau.
  • die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung und den Holocaust: Zahlreiche Gedenkstätten und Jüdische Museen in ehemaligen Synagogen, einstigen Rabbinats- oder Schulgebäuden dokumentieren die Zerstörung und Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Baden und Württemberg durch die Nationalsozialisten. 1985 konnte das PKC Freudental seine Türen als Gedenk- und Begegnungsstätte öffnen, nachdem es das ehemalige Synagogengebäude vor dem Abriss bewahrt hatte. Die Orte zur jüdischen Geschichte thematisieren auch das teils jahrhundertelange Zusammenleben, so etwa im Museum zur Geschichte von Christ*innen und Juden*Jüdinnen in Laupheim. In der Ehemaligen Synagoge Rexingen informiert eine Ausstellung über die Auswanderung von Rexinger Juden*Jüdinnen im Jahr 1938 nach Palästina, wo sie gemeinsam die Siedlung Shavei Zion gründeten. Gedenkorte wie das Mahnmal zur Erinnerung an die nach Gurs deportierten badischen Juden*Jüdinnen in Neckarzimmern oder die Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“am Stuttgarter Nordbahnhof erinnern an die Deportationen der Juden*Jüdinnen aus Baden, Württemberg und Hohenzollern ab 1940/41.
  • Zwangssterilisierung und „Euthanasie“-Verbrechen: Das Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb war das erste von sechs Vernichtungszentren der „Aktion T4“ im Deutschen Reich. Im Januar 1940 begann hier der Mord an insgesamt 10.654 Menschen, die von den Nationalsozialisten als „lebensunwertes Leben“ stigmatisiert wurden. Das Dokumentationszentrum Gedenkstätte Grafeneck leistet Forschungs- und Vermittlungsarbeit, dokumentiert die Ereignis- und Aufarbeitungsgeschichte und vernetzt die Erinnerung an die Opfer der NS-„Euthanasie“. Zunehmend gerät in der Forschung auch das Thema Zwangssterilisation in den Blick. Am Standort des ehemaligen Erbgesundheitsgerichts Ulm informiert seit 2019 das Erinnerungszeichen für die Opfer von NS-Zwangssterilisation und „Euthanasie“- Morden über die Geschehnisse vor Ort und das Schicksal der Ulmer Opfer.
  • die Verfolgung aus „rassischen“ Gründen: Neben Juden*Jüdinnen wurden auch Sinte*zze und Rom*nja rassistisch verfolgt. Das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg zeichnet in seiner Ausstellung die Geschichte des NS-Völkermords an Sinte*zze und Rom*nja nach. Mit einer Namenswand wird der 21.000 Sinte*zze und Rom*nja gedacht, die in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verbracht und fast alle ermordet wurden.
  • Zwangsarbeit und späte Konzentrationslager: Mehr als 50 Außenlager gehörten zum KZ Natzweiler-Struthof im Elsass, 35 davon wurden ab 1942/43 im heutigen Baden-Württemberg errichtet. 13 Gedenkstätten und Initiativen im Land erinnern an das Leid der KZ-Häftlinge, die an diesen Orten zumeist für die Kriegswirtschaft arbeiten mussten und in der Rüstungsindustrie oder für den Abbau von Ölschiefer ausgebeutet wurden. Die Dokumentationsstätte Goldbacher Stollen in Überlingen am Bodensee befindet sich am Standort eines Außenlagers des KZ Dachau. Das System der Zwangsarbeit umfasste auch viele andere Bereiche: Industrie-Unternehmen und Betriebe, Landwirtschaft, Handwerk, Privathaushalte. Die Theresienkapelle Singen erinnert an Zwangsarbeiter, die als „Ostarbeiter“ von 1941 bis 1945 in Singen untergebracht waren und in lokalen Firmen wie z. B. der Niederlassung von Maggi eingesetzt wurden.
  • die Verfolgung von Gegnern und Widerstand: In Baden-Württemberg bestehen mehrere Gedenkstätten für bekannte Persönlichkeiten des Widerstands, jeweils an Orten mit biografischem Bezug: für Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seinen Bruder Berthold in Stuttgart und Albstadt-Lautlingen, für Hans und Sophie Scholl in Forchtenberg und Crailsheim und für Georg Elser in Königsbronn. Widerstand der ersten Stunde zeigten die Teilnehmenden des Mössinger Generalstreiks vom 31. Januar 1933. Im Rathaus Mössingen informiert seit Januar 2021 zusätzlich zu dem bisherigen virtuellen Geschichtsort im Internet ein Erinnerungs- und Ausstellungskubus über die Geschehnisse.

Auch die Tätergeschichte ist ein Thema in Gedenkstätten. Explizit befasst sich in Baden-Württemberg z. B. der Geschichtsort Hotel Silber in Stuttgart damit und präsentiert in der ehemaligen württembergischen Gestapo-Zentrale eine Dauerausstellung zur Geschichte von Polizei, Gestapo und Verfolgung. Im Entstehen sind außerdem mehrere NS-Dokumentationszentren, so im Mannheimer MARCHIVUM, in Freiburg und in Tübingen, wie insgesamt die Gedenkstättenlandschaft sich beständig weiterentwickelt: Neue Orte entstehen, bei der Gründung eingerichtete Dauerausstellungen werden überarbeitet und aktualisiert, wobei auch die Aufarbeitungsgeschichte nach 1945 in den Fokus rückt.

Eine Besonderheit der baden-württembergischen Gedenkstättenlandschaft stellt schließlich das DDR-Museum Pforzheim dar. Es ist das einzige DDR-Museum in Westdeutschland und erinnert als „Lernort Demokratie – Das DDR-Museum Pforzheim“ an die Geschichte der SED-Diktatur und der deutschen Teilung. Wie in allen Gedenkstätten ist hier die Demokratiebildung ein zentraler Aspekt der Erinnerungs-, Bildungs- und Vermittlungsarbeit.

Bürgerschaftliches Engagement und vernetzte Arbeit

Mit ihrer Arbeit, die in weiten Teilen ehrenamtlich erbracht wird, leisten die baden-württembergischen Gedenkstätten einen essentiellen Beitrag für die Schaffung und Stärkung eines kritischen Geschichtsbewusstseins und den Erhalt einer lebendigen Demokratie. Mittlerweile erreichen sie über 300.000 Besucher*innen im Jahr. Die Arbeit der Gedenkstätten würdigt auch der Landtag von Baden-Württemberg in seiner 2010 verabschiedeten Konzeption „Kultur 2020“: „Gedenk- und Erinnerungsstätten sind Teil unserer politischen Kultur. […] Die Ehrenamtlichen haben, oft als einzige, in meist jahrelanger Forschung und Archivarbeit zur Erhellung des dunkelsten Kapitels der Geschichte in unserem Land beigetragen. […] Mit ihrem Engagement leisten sie einen wesentlichen Beitrag zu einer demokratischen Erinnerungskultur.“

Zur gegenseitigen Unterstützung und Interessenvertretung gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit haben sich die Gedenkstätten 1995 in der Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten (LAG) zusammengeschlossen. Heute umfasst die – inzwischen um Gedenkstätteninitiativen erweiterte – Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Gedenkstätteninitiativen (LAGG) mehr als 70 Gedenk- und Lernorte sowie Initiativen. Zum gemeinsamen Austausch trifft sich die LAGG jährlich zu ihrer Delegiertenversammlung; alle zwei Jahre wählt diese den Sprecherrat. Dieses Gremium, das aus acht Personen besteht, vertritt die Anliegen der Gedenkstätten im Land.

In Arbeitskreisen greift die LAGG aktuelle Fragestellungen auf. Der Arbeitskreis Jugend- und Vermittlungsarbeit hat z. B. den Leitfaden „Erinnern – Erfahren – Erlernen. Pädagogische Ansätze und Konzepte für Jugend- und Vermittlungsarbeit an Gedenkstätten“ erarbeitet und Module für eine Ausbildung zu Jugendguides an Gedenkstätten entwickelt. Mit Fragen der Erfassung, Verzeichnung und Verwahrung von Archivgut befasst sich der AK Archivarbeit und hat auf der Grundlage der Handreichung „Das materielle Erbe der Zeitzeugen sichern“ des DZOK in Ulm hierfür Hilfsmittel erstellt. Auch das Thema Digitalisierung spielt zunehmend eine Rolle.

Bei ihren Aktivitäten arbeitet die LAGG eng mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) zusammen, die vom Landtag mit der Förderung der Gedenkstätten beauftragt ist. Der Fachbereich Gedenkstättenarbeit der LpB koordiniert die Gedenkstättenförderung des Landes. Neben der finanziellen Förderung begleitet er die Arbeit der Gedenkstätten auch beratend und inhaltlich, mit Konzepten und Angeboten u. a. im Bereich der Gedenkstättenpädagogik, mit Veranstaltungen, Vortragsreihen, Fachtagungen, Fortbildungen und der Herausgabe von Publikationen. In der Reihe MATERIALIEN z. B. erscheinen Lese- und Arbeitshefte, die in Zusammenarbeit mit einzelnen Erinnerungsorten erarbeitet werden und für die Bildungsarbeit im Schulunterricht, in der Jugendarbeit und an Gedenkstätten genutzt werden können. Auch die Vernetzung mit verschiedenen Akteur*innen im Land, aber auch über Baden-Württemberg hinaus, mit Schulen, Universitäten, Museen, Archiven ist eine wichtige Aufgabe, der sich LAGG und LpB gemeinsam widmen.

Mehrere Gedenkstätten in Baden-Württemberg haben sich räumlich oder thematisch in Verbünden zusammengeschlossen, zum Teil auch über Landesgrenzen hinweg. Der Gedenkstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e. V. vereint 13 Gedenkstätten und -initiativen in Südwürttemberg. Sechs badische Gedenkstätten haben den Verbund Gedenkstätten südlicher Oberrhein gegründet. Die Gedenkstätten an Standorten von Außenlagern des KZ Natzweiler-Struthof im Elsass haben sich zum Verbund der Gedenkstätten im ehemaligen KZ-Komplex Natzweiler e. V. (VGKN) zusammengeschlossen. 2018 wurde dieser gemeinsam mit dem Centre Européen du Résistant Déporté (CERD) der französischen Gedenkstätte am Ort des früheren Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof für die grenzüberschreitende Vermittlungsarbeit mit dem Europäischen Kulturerbe-Siegel ausgezeichnet. Über 80 Gedenkorte in Oberschwaben und im angrenzenden Ausland (Schweiz/Österreich) bringt das Denkstättenkuratorium NS-Dokumentation Oberschwaben zusammen. Die Gedenkstätten vernetzen sich auch auf Bundesebene, z. B. in der 2019 gebildeten AG „Gedenkstätten an Orten früher Konzentrationslager“. Die LAGG insgesamt ist Mitglied des im Dezember 2020 gegründeten Verbandes der Gedenkstätten in Deutschland e. V.

Diktaturgeschichte und Demokratie

Anknüpfungspunkte bestehen auch zu den Erinnerungsorten der Demokratiegeschichte, von denen es in Baden-Württemberg u. a. mit der Erinnerungsstätte für die deutschen Freiheitsbewegungen in Rastatt, der Friedrich-Ebert-Gedenkstätte in Heidelberg, der Erinnerungsstätte Matthias Erzberger in Münsingen-Buttenhausen oder dem Theodor-Heuss-Haus in Stuttgart ebenfalls eine Vielzahl gibt. Die Erinnerungsstätte Salmen in Offenburg steht zugleich für die badische Freiheitsbewegung 1847 und als einstige Synagoge auch für die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in der NS-Zeit. Dies macht sie zu einem eindrücklichen Ort für die Reflexion und Vermittlung von Geschichte im Spannungsfeld von Demokratie und Diktatur. Die Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte führt immer wieder auch in die Gegenwart. Die Gedenkstätten richten nicht nur aktuelle Fragen an die Vergangenheit, sondern treten auch aktiv gegen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus ein und setzen sich für das Engagement für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte ein.

In diesem Sinne unterstreicht die seit 2016 amtierende baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras die Bedeutung der Gedenkstätten im Land: „Die vielen Gedenkorte in Baden-Württemberg […] erinnern uns […] nicht nur an historische Ereignisse. Sie erinnern uns, dass unsere Grundwerte eine Antwort sind, auf Unrecht, auf Hass, auf Unmenschlichkeit. Und sie mahnen uns, für diese Grundwerte auch einzustehen. Weil unsere liberale, moderne Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, sondern etwas, woran wir täglich arbeiten müssen.“ (https://muhterem-aras.de/praesidentin/gedenken/

Weiterführende Hinweise und Literatur

Eine Übersicht über die Gedenkstätten in Baden-Württemberg und weitere Informationen zu ihrer Arbeit finden sich auf dem von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (LpB) eingerichteten Gedenkstättenportal www.gedenkstaetten-bw.de. Dort ist auch der von LpB und LAGG gemeinsam herausgegebene Guide „Gedenkstätten in Baden-Württemberg“ online abrufbar.

Sibylle Thelen, Gedenkstätten in Baden-Württemberg. Ohne Erinnerung keine Zukunft, in: bildung & wissenschaft 06/2018, S. 19–23.

Sibylle Thelen, Gedenkstättenarbeit in Baden-Württemberg. Zusammenarbeit – Ausbau – künftige Aufgaben, in: GedenkstättenRundbrief Nr. 179 vom 1. Oktober 2015, S. 15–24.

 

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