Von Lucas Frings

Die zweite Ausgabe von „Aus Politik und Zeitgeschichte“ des Jahres 2020 trägt den knappen Titel „1945“. Das ist treffend, denn die Beiträge des Heftes befassen sich nicht mit dem Kriegsende oder den Kapitulationen, sondern mit der Bedeutung dieses Jahres sowie der mit ihm verbundenen Chiffre in der Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung und -forschung.

Ausgehend von der Generationskohorte der „45er“ (u.a. auch als „Flakhelfer-Generation“ bezeichnet) setzt sich Christina von Hodenberg mit den Funktionen des Generationenbegriffs auseinander und zeichnet die unterschiedlichen Interpretationen und Zuschnitte als Kohorte nach. Die zahlreichen Beschreibungen der Generation eint, dass die ihr zugerechneten – von jungen Soldaten bis HJ-Angehörigen – von Umbruch und Desillusionierung geprägt seien. Daraus würden aber unterschiedliche Bilder abgeleitet, etwa die eines unpolitischen Opportunismus oder eines demokratischen Reformgeists, der deutschnationale Traditionen ablege. Wichtig sei auch die Frage wie die „45er“-Generation zwischen den als NS-Täter-Generation bzw. „Kriegsjugendgeneration“ verstandenen Geburtenjahrgänge vom Beginn des 20. Jahrhunderts und den „68er“ verortet wird, wobei eine Generation generell durch die Abgrenzung zu anderen Gruppen konstituiert wird. So werde die „45er“-Generation als verständnisvoller mit den NS-Mitläufern verstanden, als es die ihr nachfolgende Generation sein sollte.

Die „45er“ als Narrativ böten „Identifikationsmöglichkeiten für viele zur rechten Zeit Geborenen, die sich rückblickend als Helden der Entwicklung feiern“ (S. 7) könnten.

Von Hodenberg formuliert eine fundamentale Analyse und Kritik des Generationenbegriffs im Allgemeinen wie im Konkreten auf die „45er“ bezogen. Dieser werde fast ausschließlich auf männliche Bildungsbürger angewandt und bilde somit lediglich ein vermeintliches Kollektiv als Bezugsrahmen, das vor allem medial funktioniere, nicht aber die gesamtgesellschaftliche Realität abbilde.

Die Historikerin Gabriele Metzler fasst das Jahr 1945 als globale Zäsur auf und betrachtet dabei vor allem die Vereinten Nationen und die Entwicklungen in Asien. Der Eintritt ins nukleare Zeitalter als prägend für den Kalten Krieg zeige sich auch in einer Formulierung von Campbell Craig und Sergey Rodchenko, „Hiroshima sei ‚der letzte amerikanische Einsatz im Zweiten Weltkrieg und Nagasaki der erste im Kalten Krieg’ gewesen“ (S. 12), da die Sowjetunion gemäß den Vereinbarungen von Jalta am 8. August 1945 bereits Japan angriff. Die Vereinten Nationen samt ihrer Charta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte seien zwar eine wegweisender Schritt zu einer globalen Sicherheit gewesen, hätten aber erst nach dem Ende des Kalten Krieges ihre beabsichtige Bedeutung erlangen können.

Spannend ist auch die Thematisierung von Unabhängigkeitsbewegungen in Asien, denen zu Kriegsende durch Japan, das seine Expansion und Idee einer panasiatischen Großmacht aufgeben musste, Vorschub geleistet wurde, wenngleich es teilweise noch mehrere Jahre bis zur endgültigen Unabhängigkeit Indonesiens, Vietnams oder den Philippinen dauern sollte.

Eine weitere Perspektive auf Asien bringt der Historiker Takuma Melber ein. Er befasst sich mit der Bedeutung des Jahres 1945 in der japanischen Erinnerungskultur, die angesichts der beiden Atombomben vom Motiv des Friedens geprägt ist. Melber geht dabei auf die japanische Diskussion über die Gründe der Kapitulation – Resultat der Atombomben oder Sorge vor dem Einmarsch der Roten Armee – ein und verortet diese in der politischen Landschaft Japans.

Anhand einer Reihe von Erinnerungsorten und –praktiken zeigt er, wie sich „Japans nationales Friedensmantra“ (S. 20) auch im Gedenken an Bombardierungen anderer Städte manifestiert. In seiner umfassenden Betrachtung der japanischen Erinnerungsmotive geht Melber auch auf das Opfernarrativ in (Anime-)Filmen und die staatliche Bagatellisierung von japanischen Kriegsverbrechen in Schulbüchern ein.

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz fasst Frank Bajohr die Entwicklungen, den Stand und die Perspektiven der Holocaustforschung zusammen. Bajohr geht dabei auf Veränderungen der Autor*innenschaft – von überwiegend jüdischen Wissenschaftler*innen nach 1945 zu einem stetig wachsenden Forschungsfeld – und Perspektivverschiebungen – von Schreibtischtätern zu Mordschützen in Einsatzgruppen und Hilfspolizisten anderen Nationalitäten in Osteuropa – ein. Durch letzteres sei zunehmend von einem „europäischen Genozid“ die Rede, wobei „neue Perspektiven [...] stets an ältere Erkenntnisse rückgebunden“ (S. 27) werden müssten. Auch ein differenzierter Blick auf den Alltag und den Überlebenskampf der Opfer sei erst mit zunehmender Forschung entstanden.

Neben dem Wandel von einer statischen Kategorisierung der Akteur*innen hin zu einem Verständnis von Herrschaft als „soziale Praxis“, in der sich Beziehungen und Haltungen wandeln, sind vor allem Bajohrs Gedanken zur Internationalisierung der Holocaustforschung interessant. Durch diese und eine zunehmende Interdisziplinarität seien zwar nationale Perspektiven abgeschwächt und mehrsprachige Quellen miteinander verknüpft worden, allerdings gebe es noch Nachholbedarf bei transnationalen Studien und Perspektiven auf den Holocaust. Zudem dürfe 1945 keine Grenze in der Forschung darstellen, die Ereignisse davor und danach – letztere zunehmend im Blick der Wissenschaft – seien oftmals verknüpft und auch der Holocaust noch lange nicht ausgeforscht.

„1945“ aus der „Aus Politik und Zeitgeschichte“-Reihe vereint spannende Perspektiven auf das gesellschaftliche Verständnis und den daraus folgenden Umgang mit diesem Jahr. Der forschungskritische Ansatz mehrerer Beiträge macht die Entstehung bestimmter Narrative sichtbar, ordnet sie politisch ein und irritiert sie.

Eine weitere Stärke des Hefts ist der globale Blick mehrerer Texte, der auch Ereignisse des Pazifikkrieges und daraus entstehende Erinnerungskulturen umfasst. Das Heft kann bei der Bundeszentrale für politische Bildung kostenlos bestellt werden oder als PDF heruntergeladen werden. 

 

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