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„Jeder Name zählt“ - ein digitales und partizipatives Erinnerungsprojekt

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Christa Zwilling-Seidenstücker ist Redakteurin im Online-Archiv bei den Arolsen Archives. Sie hat das Projekt „Jeder Name zählt“ mit aufgebaut und ist Teil des Teams, das das Projekt begleitet und weiterentwickelt.

Von Christa Zwilling-Seidenstücker

Intro

Am 27. Januar 2020, dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, starteten die Arolsen Archives das Projekt „Jeder Name zählt“. Einen Tag lang gaben rund 1000 Schüler*innen aus 26 Schulen in Hessen Namen von Deportations- und Transportlisten in eine Datenbank ein. 

Das Crowdsourcing-Projekt ermöglicht eine neue, aktive Form des Gedenkens: Die Schüler*innen setzten sich intensiv mit den Schicksalen der Menschen auseinander, deren Namen sie eingaben. Gleichzeitig leisteten sie einen konkret greifbaren Beitrag gegen das Vergessen. Denn jeder Name wird geprüft und anschließend Bestandteil des weltweit größten Online-Archivs zur NS-Verfolgung. So können viele Tausend zusätzliche Namen von NS-Verfolgten auf den Dokumenten gefunden werden – und damit möglicherweise der letzte Hinweis auf das Schicksal eines Menschen.

Inzwischen wurde das Projekt ausgeweitet. Jede*r kann mitmachen – ganz einfach am PC von zuhause aus. 

Namen – der Schlüssel zu den Dokumenten

Über die Jahre wuchsen die Arolsen Archives zum heute weltweit größten Archiv zur NS-Verfolgung mit rund 30 Millionen Originaldokumenten. Bereits vor Kriegsende stellten Überlebende Schriftstücke der Täter sicher. Außerdem beschlagnahmten die Alliierten Unterlagen aus Konzentrationslagern – sofern diese nicht bereits von der SS vernichtet worden waren. Hinzu kamen große Mengen von Unterlagen, die bei der Betreuung der so genannten Displaced Persons durch die Alliierten entstanden waren. Diese Bestände wurden durch eine systematische Sammlung von Dokumenten zum Beispiel in Behörden, Firmen oder anderen Archiven in ganz Europa ergänzt. 

Die Dokumente belegen die Straftaten der Nationalsozialisten und geben wertvolle Hinweise bei der Suche nach Vermissten und der Klärung von Schicksalen. Außerdem waren sie eine wichtige Quelle zum Nachweis von Entschädigungsansprüchen Überlebender. 

Der Schlüssel zu den Dokumenten sind bis heute die Namen, die auf ihnen verzeichnet sind. Um möglichst schnell prüfen zu können, ob es Informationen zu einer gesuchten Person gibt, wurden die Namen von den Dokumenten auf Karteikarten übertragen. So entstand über einige Jahrzehnte hinweg die so genannte „Zentrale Namenkartei“, die mit ihren 50 Millionen Karten heute zum UNESCO-Weltdokumentenerbe gehört. Heute wird natürlich nicht mehr analog gesucht, sondern digital. Doch ist diese Suche zum Teil noch sehr umständlich und nicht für alle Dokumente möglich.

Die Bedeutung von „Jeder Name zählt“

Seit 2015 veröffentlichen die Arolsen Archives nach und nach ihre digitalisierten Dokumente online. Rund 500.000 Nutzer*innen aus der ganzen Welt haben dieses Angebot bereits angenommen und im Online-Archiv recherchiert. Noch immer sind Menschen weltweit auf der Suche nach Informationen über ehemals verfolgte Angehörige: Bis heute beziehen sich die allermeisten Suchanfragen auf konkrete Personen. Viele Millionen Namen können im Online-Archiv bereits gefunden werden. Doch besonders bei Namen, die auf Listen verzeichnet sind, liefert die Suche häufig noch keinen Treffer. Eine entsprechende digitale Verknüpfung zwischen dem Dokument und den darauf verzeichneten Namen fehlt. Es kann also sein, dass die Suche nach einem Namen nicht erfolgreich ist, obwohl sich ein Dokument zu dieser Person im Online-Archiv befindet. 

Dies ist besonders gravierend, da es sich um die letzte Spur einer Person vor der Ermordung durch die Nationalsozialisten handeln kann. Was es für eine Familie bedeutet, den Namen eines*einer Angehörigen zu finden, beschreibt eine Nutzerin des Online-Archivs folgendermaßen: 

„Mein Vater hat nie über die Verwandten gesprochen, die er verloren hat. Selbst einen Namen auf einer Liste zu entdecken, bedeutet uns sehr viel. Diese Dokumente enthalten eine Menge Informationen und ich bin so dankbar, dass Sie sie hochgeladen haben.“

Daher haben sich die Arolsen Archives ein Ziel gesetzt: Bis zum Jahr 2025 sollen alle Namen, die auf Dokumenten der Arolsen Archives verzeichnet sind, bei der digitalen Suche im Online-Archiv gefunden werden können. Das Projekt „Jeder Name zählt“ ist ein Schritt auf dem Weg zum Erreichen dieses Zieles. 

Schüler*innen machen den Anfang

In der Vorbereitungsphase von „Jeder Name zählt“ wurden alle weiterführenden Schulen in Hessen angeschrieben und ihnen das Projekt vorgestellt. 26 Schulen sagten ihre Teilnahme zu. Einige andere Schulen meldeten zurück, dass sie das Projekt gerne zu einem anderen Zeitpunkt anbieten würden, da es erst dann pädagogisch sinnvoll in den Lehrplan einzubinden sei. 

Die teilnehmenden Schulen erhielten ein Materialpaket. Darin enthalten war ausführliches Unterrichtsmaterial zur Arbeit mit Quellen aus der NS-Zeit, Dokumentenpakete sowie Poster und Postkarten zur eigenen Gestaltung und für die Öffentlichkeitsarbeit. 

Das Material ließ sich je nach zeitlichen Kapazitäten flexibel von den Lehrkräften kombinieren. Schulen, denen nur wenige Stunden zur Umsetzung zur Verfügung standen, konnten nach einer Einführung bereits mit der Eingabe der Namen beginnen. In anderen Schulen wurde das Projekt „Jeder Name zählt“ über einige Wochen hinweg vorbereitet oder war Teil einer mehrtägigen Projektwoche. Dort konnten einzelne Biographien anhand der Dokumente rekonstruiert werden und die Arbeit am Projekt wurde kombiniert mit einem Gedenkstättenbesuch oder der Planung und Durchführung einer von den Schüler*innen gestalteten Gedenkveranstaltung. In Bad Arolsen verlasen zum Beispiel Schüler*innen und Mitarbeiter*innen der Arolsen Archives gemeinsam auf einem zentralen Platz die Namen von Deportierten, die sie zuvor eingegeben hatten.

Einige Kolleg*innen der Arolsen Archives reisten am Projekttag in Schulen, um bei der Umsetzung von „Jeder Name zählt“ zu helfen. Außerdem gab es bei Problemen und Fragen das Angebot, telefonisch oder per Mail Unterstützung zu erhalten.

Die Eingabe der Namen und Daten beim Projekt „Jeder Name zählt“ erfolgt über eine Internet-Plattform. Ein Dokument wird angezeigt und über eine Eingabemaske werden die einzelnen Attribute abgefragt, die eingegeben werden sollen. Die Handhabung ist sehr intuitiv und nach einer kurzen Einführung konnten die Schüler*innen weitgehend selbstständig arbeiten. Bei den zu bearbeitenden Dokumenten handelte es sich um Deportationslisten aus Kassel, Frankfurt am Main, Darmstadt und Wiesbaden. 

Der regionale Bezug brachte die Jugendlichen zum Nachdenken: oft befand sich die letzte Adresse der Deportierten in einer Straße, die sie kannten oder im Ort, aus dem sie selbst stammten. Die Konfrontation mit den Originaldokumenten mit Namen, Alter und Wohnorten der Opfer war für die Schüler*innen ein ungewohnt direkter Zugang zu den Verbrechen des NS-Regimes. 

Die Dokumente werden bei der Eingabe nicht „unter pädagogischen Aspekten ausgewählt“, sondern vom Programm im Zufallsmodus angeboten. Dies ist technisch notwendig, da jedes Dokument mindestens dreimal von unterschiedlichen Personen eingegeben werden muss, um Fehler oder Missbrauch bei der Dateneingabe ausschließen zu können. Dies ist einerseits problematisch, da jedes Dokument aus seinem Kontext gerissen wird. Andererseits verstärkte dies das Gefühl der Schüler*innen, unmittelbar mit den Fakten „konfrontiert“ zu sein. 

Automatisch wurden dadurch Themen wie „Tätersprache“ oder „die Bürokratie der Ausbeutung und Ermordung“ aufgeworfen und diskutiert. Das Projekt bot damit die perfekten Rahmenbedingungen für ein aktives, forschendes Lernen. Die Schüler*innen betonten im Anschluss an das Projekt die positive Erfahrung, etwas Relevantes zu tun und durch ihre Arbeit einen wirklichen Beitrag gegen das Vergessen geleistet zu haben.

Eine Schülerin aus Frankfurt fasste ihre Mitarbeit bei „Jeder Name zählt“ folgendermaßen zusammen: „Sonst machen wir immer nur Sachen, bei denen klar ist, was rauskommt und das machen wir nur, damit Noten gemacht werden können. Hier helfen wir wirklich jemandem mit unserer Arbeit!“

Fazit und Ausblick

Das Projekt „Jeder Name zählt“ hat zwei Ziele: neben dem ganz praktischen Nutzen, dass die Arolsen Archives Unterstützung bei der Eingabe der Daten von NS-Verfolgten erhalten, setzen sich durch das Projekt viele Menschen mit den Dokumenten auseinander - und mit den Schicksalen der Menschen, deren Namen auf ihnen verzeichnet sind. 

Die Gewissenhaftigkeit und das Durchhaltevermögen, mit dem die Schüler*innen bei „Jeder Name zählt“ mitgearbeitet haben, waren beeindruckend. Die eingegebenen Daten sind von hoher Qualität und ein wertvoller Beitrag zur Erinnerungsarbeit. 

Als im Frühjahr 2020 die Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung verschiedener Konzentrationslager wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden mussten stand schnell fest, dass das Projekt international ausgeweitet werden soll, als Angebot einer alternativen Form des Gedenkens. 

„Jeder Name zählt“ steht nun auf Deutsch und Englisch zur Verfügung. Freiwillige auf der ganzen Welt widmen viele Stunden ihrer Freizeit der Erfassung von Namen von Verfolgten. In der Community werden persönliche Geschichten, Bilder und Hintergrundwissen geteilt und gemeinsam versucht, Antworten auf Fragen zu finden, die die Dokumente aufwerfen. 

Es steht fest, dass das Projekt fester Bestandteil des Angebots der Arolsen Archives bleibt und in Zukunft weiter ausgebaut wird. Floriane Azoulay, die Direktorin der Arolsen Archives, fasst die Motivation hierfür zusammen: „Die Teilnahme am Projekt „Jeder Name zählt” unterstützt nicht nur die Digitalisierung unserer Bestände. Jede bearbeitete Liste, jeder digitalisierte Name ist ein Ausdruck von Solidarität mit den Opfern der NS-Verbrechen und beinhaltet das Versprechen, nicht zu vergessen.

 

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