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Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der IHRA

Peter Ullrich: Gutachten zur „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance, Oktober 2019. Ausschließlich online verfügbar: www.rosalux.de/publikation/id/41168/gutachten-zur-arbeitsdefinition-antisemitismus-der-ihra/.  

Im Mai 2016 verabschiedete die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), ein zwischenstaatlicher Zusammenschluss von Regierungen und Wissenschaftler*innen zur Forschung und Erinnerung an den Holocaust, eine „Arbeitsdefinition Antisemitismus“. Als Arbeitsdefinition soll sie auf europäischer Ebene eine Grundlage für die Erfassung und Bekämpfung von Antisemitismus etablieren. Sie besteht aus einer Kerndefinition in zwei Sätzen sowie einer Auflistung von Erscheinungsformen und Beispielen.

Der Inhalt der Definition ist nicht neu, in ihrer Kurzform wurde sie bereits 2005 vom European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia veröffentlicht und im Anschluss in verschiedenen Kontexten besprochen und angewandt. Das Aufgreifen der Definition durch die IHRA hat sie wieder in den Fokus der Wissenschaft und Öffentlichkeit gerückt. Spätestens seit das Bundeskabinett im September 2017 diese Definition zur Berücksichtigung in Bildung, Justiz und Exekutive empfohlen hat, wird in Deutschland über diese Definition erneut diskutiert. Rechtsverbindlich ist sie allerdings nicht.

Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung und medico international hat Peter Ullrich ein Gutachten zur Arbeitsdefinition verfasst. Der Veröffentlichungszeitpunkt wurde – so Ullrich an anderer Stelle – auf Ende Oktober 2019 verlegt, um nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Anschlag von Halle verstanden zu werden, das Gutachten sei bereits seit Sommer 2019 abgeschlossen. Im, der Analyse vorangestellten, Hintergrundtext gibt Ullrich einen Überblick über die Entstehung und den Status der „Arbeitsdefinition“ und geht dabei auf verschiedene Fassungen ein. So ist der seit Herbst 2017 von der Bundesregierung verwendeten Form, der Satz „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“ hinzugefügt worden. In der Arbeitsdefinition steht diese Formulierung beinahe identisch, ist jedoch nicht Teil der Kerndefinition sondern ist das erste „Beispiel zur Veranschaulichung“. 

Vorab, Peter Ullrich hat eine Reihe von Kritikpunkten an der Arbeitsdefinition. So sei bereits der Status und die Anwendung einer Arbeitsdefinition problematisch. „Arbeitsdefinition“ verweise auf den provisorischen Charakter, der durch die (angestrebte) Verwendung durch Polizei, Justiz und Verwaltung in Frage gestellt sei.

Eine grundlegende Problematik sieht Ullrich im Anspruch, sowohl eine wissenschaftlichen Standards genügende Definition, als auch eine für fachfremde Anwender*innen verständliche Beschreibung zu sein. Dieses Spannungsverhältnis aufzulösen ginge auf Kosten von „Genauigkeit, Komplexität und Abstraktion oder zulasten der Allgemeinverständlichkeit und Praxistauglichkeit“ (S.10). So sei er sich bewusst, dass dieser Anspruch nicht zu erfüllen sei, er könne dafür jedoch keine Lösungen anbieten. Im Ausblick zum Ende der Studie hält Ullrich eine klarer formulierte Definition von Antisemitismus sowie von antisemitischen Vorfällen für wünschenswert.

Auf inhaltlicher Ebene legt Ullrich einen Blick auf Phänomene die „sinnvollerweise als antisemitisch zu klassifizieren sind“ (S.10), allerdings nicht von der Definition erfasst werden, als auch auf Phänomene „deren Einordnung als antisemitisch möglicherweise problematisch ist“ (S.10).

Eine Reihe von Kritikpunkten an der Arbeitsdefinition führt Ullrich kleinteilig aus. In der Materie bewanderte Nutzer*innen werden verstehen wie die Formulierung der Arbeitsdefinition beabsichtigt ist. Als Empfehlung für Justiz und Polizei – man denke an hochproblematische Antisemitismusdefinitionen in vergangenen Gerichtsverfahren – kann eine für Laien verständliche Genauigkeit eine wichtige Rolle spielen.

Treffend ist etwa Ullrichs Kritik an der Vagheit. Die Arbeitsdefinition spricht von „Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen“ während in der Antisemitismusforschung häufig betont wird, dass sich Antisemitismus gegen Personen als Jüdinnen*Juden richtet, also auf die Wahrnehmung als Jüdinnen*Juden im Unterschied zu einem Akt gegen eine Einzelperson, der mit deren Jüdisch-Sein nicht in Verbindung steht.

Ullrich fehlt zudem die Beschäftigung mit der „diskursive[n] und sinnstrukturierende[n] Ebene von Antisemitismus“ (S.11) sowie mit Elementen der Einstellungsforschung. Er zählt weitere Ebenen auf, die nicht erwähnt würden: die Mobilisierung von Antisemitismus in Bewegungen und Parteien, diskriminierende Gesetze, oder auch die Ablehnung von jüdischen bzw. jüdisch konnotierten Handlungen wie der Beschneidung.

Der Hauptkritikpunkt des Gutachtens ist jedoch die Schwerpunktlegung auf den Bezug zu Israel und den Nahostkonflikt bei den elf Beispielen in der Erläuterung des Gutachtens. Die Beispiele sollen veranschaulichen, wie Antisemitismus auftreten kann bzw. seine Facetten aufzeigen. Sechs Beispiele wie Holocaustleugnung oder die Kollektivhaftung von Jüdinnen*Juden für Handlungen Israels sieht Ullrich sogar sehr gut geeignet, um den Abstraktionsgrad aufzubrechen. Christlicher Antijudaismus und Antisemitismus im Rechtsextremismus blieben darin hingegen unterrepräsentiert, so Ullrich.

Bei den anderen Beispielen, die sich allesamt um Antisemitismus im Kontext von Israel bzw. dem Nahostkonflikt drehen, bedarf es laut Ullrich mehr Kontextinformationen, um eine Situation eindeutig als antisemitisch einordnen zu können. Das Antisemitismusbeispiel aus der Arbeitsdefinition „Das Aberkennen des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung, z.B. durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen“ könne durchaus eine Ablehnung eines jüdischen Staates und die tendenziell verschwörungstheoretische Einordnung des Zionismus als eine Form des Rassismus als eindeutig einer antisemitischen Sinnstruktur entsprechend erfassen. Ullrich führt an, dass es jedoch auch jüdische Stimmen gebe und gegeben habe, die einer jüdischen Nationalbewegung ablehnend gegenüber ständen, als auch Kritik an „Aspekten des Zionismus, die als rassistisch eingestuft werden können“ (S.14) hätten. Daraus folgert er in seinem Gutachten, dass ohne eine Kontextualisierung das Beispiel „bestimmte Haltungen zu Israel per Definition aus dem Spektrum des Sagbaren ausschließen und post- bzw. antinationale Standpunkte als antisemitisch definieren“ (S.14) würde.

Während der Analyseteil des Gutachtens detailliert abwägt und Ullrich seine Gedanken begründet, sind die zwei Zusammenfassungen zu Beginn und Ende des Gutachtens im Ton deutlicher. Ullrich bekräftigt vor allem seine Kritik an der Arbeitsdefinition als „inkonsistent, widersprüchlich und ausgesprochen vage formuliert“ (S.3), bemängelt die Leerstellen bei Verschwörungstheorien und Rechtsextremismus und drückt seine Zweifel an dem Merkmal des „Doppelstandards“ aus. Der letzte Satz seiner abschließenden Zusammenfassung lautet: „Die ‚Arbeitsdefinition Antisemitismus’ bietet ein Einfallstor für die damit mögliche Stigmatisierung und öffentliche Benachteiligung missliebiger Positionen im israelisch- palästinensischen Konflikt. Dies ist angesichts ihres quasi-rechtlichen Status als Bedrohung der Meinungsfreiheit zu bewerten.“ (S.17)

 

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