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Über das Verhältnis von Rassismuskritik und Antisemitismuskritik

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Floris Biskamp ist Soziologe und Politikwissenschaftler und arbeitet derzeit als Koordinator des Promotionskollegs Rechtspopulistische Sozialpolitik und exkludierende Solidarität an der Universität Tübingen. 2016 erschien seine Dissertation „Orientalismus und Demokratische Öffentlichkeit. Antimuslimischer Rassismus aus Sicht postkolonialer und neuerer Kritischer Theorie“, 2017 der von ihm mitherausgegebene Sammelband „Ruck nach Rechts Rechtspopulismus. Rechtsextremismus und die Frage nach Gegenstrategien“.

Von Floris Biskamp

1. Bekenntnis ist leicht, Kritik ist schwierig

Auf den ersten Blick ist es ganz einfach: Wer sich als fortschrittlich, demokratisch, liberal oder auch nur halbwegs anständig verstehen will, muss sich sowohl gegen Antisemitismus als auch gegen Rassismus entschieden aussprechen – und das tun auch fast alle. Aber so einfach und konsensfähig wie das selbstbewusste Bekenntnis gegen Rassismus und Antisemitismus, so schwierig und umstritten ist die praktische Kritik rassistischer und antisemitischer Denkweisen, Strukturen und Handlungen. 

Gerade weil sich fast alle nachdrücklich gegen Antisemitismus und Rassismus aussprechen, will fast niemand antisemitisch oder rassistisch sein oder als eins von beidem gelten. Wenn Antisemitismus- und Rassismusvorwürfe erhoben werden, ist die Reaktion dementsprechend zumeist eine empörte Zurückweisung: Man selbst kann ja gar nichts mit Rassismus oder Antisemitismus zu tun haben, schließlich bekennt man sich ja entschieden dagegen! Und das schon mehr als einmal! Was fällt den Kritiker*innen bloß ein! 

Regelmäßig geht es dann anschließend nicht mehr um die Gefahr, die von diesen Ideologien ausgeht, sondern um die Frage, ob man diese ehrabschneidenden Begriffe so überhaupt verwenden darf oder ob man damit nicht unbescholtene Personen fälschlich angreift. Muss man das nicht noch sagen können dürfen, ohne gleich als antisemitisch oder rassistisch zu gelten? Zum Skandal werden dann nicht Antisemitismus und Rassismus, sondern Antisemitismus- und Rassismuskritik.

2. Konfliktfelder zwischen Rassismuskritik und Antisemitismuskritik: Islam und Israel

Aber die Probleme gehen noch weiter: Nicht nur sind die Begriffe Antisemitismus und Rassismus in der kritischen Praxis notorisch umstritten, Antisemitismuskritik und Rassismuskritik geraten auch immer wieder in direkten Konflikt miteinander. Dies zeigt sich insbesondere auf zwei Themenfeldern: erstens, wenn es um den Islam geht, zweitens, wenn es um Israel geht. 

In Bezug auf den Islam wird in antisemitismuskritischen Kontexten insbesondere die Gefahr hervorgehoben, die von einem unter Muslim*innen in Europa und weltweit besonders verbreiteten Antisemitismus ausgehe – oft verhandelt unter dem Stichwort „Neuer Antisemitismus“. Diesen zu thematisieren, sei heute besonders dringlich. Rassismuskritiker*innen dagegen sehen im Islam eher die Religion einer rassistisch marginalisierten Minderheit in Europa und ehemaliger Kolonien im Rest der Welt. Antimuslimischer Rassismus sei heute eine der vorherrschenden Artikulationsformen von Rassismus und drücke sich unter anderem durch Negativzuschreibungen an Islam und Muslim*innen aus. Diskussionen über islamischen oder „Neuen Antisemitismus“ gelten aus dieser Perspektive als Beiträge zur weiteren Stigmatisierung und Marginalisierung dieser Minderheit, als Fortschreibung kolonialer Dämonisierung sowie als Reinwaschung der westlichen Mehrheitsgesellschaft durch die Abgrenzung gegen einen vermeintlich antisemitischeren Islam.

Wenn es um Israel geht, sehen Antisemitismuskritiker*innen in erster Linie den Staat der Shoah-Überlebenden, der gegen antisemitische Feind*innen um seine Existenz kämpfe. Rassismuskritiker*innen sehen dagegen einen Staat mit kolonialer Vorgeschichte, der die arabische Bevölkerung rassistisch unterdrücke und verdränge. Taucht dann beispielsweise auf einer Demonstration in Deutschland eine Israelflagge auf, erscheint das den einen als ein selbstverständliches Zeichen der Solidarität mit den wehrhaften Opfern von Antisemitismus, den anderen als ein Symbol rassistischer Unterdrückung. Tauchen ein „Palästinensertuch“ oder eine palästinensische Flagge auf, gilt das den einen als antisemitische Mikroaggression, den anderen als selbstverständliches Zeichen der Solidarität mit den Opfern von Rassismus und Kolonialismus.

Auch wenn sich fast alle gegen Antisemitismus und gegen Rassismus bekennen, kommt es so regelmäßig dazu, dass Antisemitismuskritiker*innen und Rassismuskritiker*innen einander wechselseitig Rassismus und Antisemitismus vorwerfen.

3. Drei Differenzen: Theorie, Geschichte, Begriffe

Diesen Konflikten in Bezug auf den Islam und Israel entsprechen grundlegende Differenzen in theoretischen und begrifflichen Fragen.

Theoretisch ist Antisemitismuskritik stark durch Theoreme aus Kritischer Theorie und Psychoanalyse geprägt. Damit einher geht ein zunächst positiver, wenn auch „dialektischer“ Bezug auf Begriffe von Aufklärung, Moderne, Zivilisation, Vernunft, Emanzipation usw. Aufklärung sei die Bedingung dafür, dass Menschen frei und selbstbestimmt leben könnten. Jedoch habe sie immer auch das Potenzial, regressiv und gewalttätig zu werden – Antisemitismus sei ein Ausdruck dieses Potenzials. Die Geschichte der letzten Jahrhunderte erscheint dann zunächst durchaus als Fortschrittsgeschichte, in deren Rahmen sich Freiheit und Demokratie entwickelt haben. Jedoch hätten sich auch die destruktiven Tendenzen realisiert, nämlich in der Shoah. Diese gilt aus antisemitismuskritischer Perspektive als welthistorische Katastrophe, die für den Blick auf die Geschichte zentral ist und deren Wiederholung zu verhindern das dringlichste politische Ziel sei. Entsprechend gelte es, die destruktiven Potenziale des aufklärerischen Projekts zu reflektieren, ohne es aufzugeben – Antisemitismuskritik versteht sich als Teil dieses Unterfangens. 

Die Rassismuskritik ist eher durch poststrukturalistische und postkoloniale Perspektiven geprägt und neigt zu einer stärker vernunftkritischen Positionierung. Aufklärung usw. werden dann nicht als an sich positive Entwicklungen verstanden, denen ein negatives Potenzial innewohnt. Vielmehr gelten sie als Entwicklungen, die auf der einen Seite – zunächst insbesondere in Europa und später im ganzen „Westen“ – positive, im Rest der Welt aber negative Effekte hatten und haben. Die koloniale „Barbarei“ erscheint dann als das Gegenstück zur europäischen „Zivilisation“. Auch aus dieser Perspektive ist Geschichte durch eine zentrale Katastrophe geprägt, nämlich eben Kolonialismus und gegenwärtigen „Neokolonialismus“. Diese gelten dabei aber weniger als ein katastrophales Ereignis, sondern vielmehr als Katastrophe in Permanenz. Die dringende politische Aufgabe besteht aus dieser Perspektive entsprechend darin, die permanente Katastrophe sichtbar zu machen und zurückzudrängen sowie mit den Kämpfen ihrer Opfer solidarisch zu sein – Rassismuskritik versteht sich als Teil dieses Unterfangens.

In begrifflichen Fragen zeigt sich, dass die beiden Ansätze etwas ganz anderes unter ihrem jeweiligen Gegenstand verstehen: In der Antisemitismuskritik gilt Antisemitismus als ein bestimmtes Weltbild, das die Probleme der modernen Gesellschaft als jüdische Machenschaft deutet und dabei das Gute, Konkrete, Ehrliche, Natürliche als nichtjüdisch, das Böse, Abstrakte, Verschlagene, Künstliche dagegen als jüdisch imaginiert. Die besondere Gefahr dieses Weltbildes bestehe darin, dass es in letzter Konsequenz auf die Vernichtung des jüdischen Anderen ziele.

In der Rassismuskritik gilt Rassismus dagegen als ein soziales Dominanzverhältnis. Dabei würden zwei soziale Gruppen diskursiv konstruiert und gegeneinander abgegrenzt, sodass im Ergebnis eine „weiße“ Eigengruppe bei der Verteilung materieller und symbolischer Ressourcen privilegiert, eine rassifizierte Gegengruppe marginalisiert wird.

Beide Begriffe sind ihrem jeweiligen Gegenstand angemessen – man versteht Antisemitismus am besten, wenn man die Besonderheiten des antisemitischen Weltbildes hervorhebt, man versteht Rassismus am besten, wenn man ihn als gesellschaftliches Dominanzverhältnis betrachtet. Zum Problem wird diese begriffliche Differenz dadurch, dass sie oftmals zum Missverständnis oder auch zur Verharmlosung des je anderen Gegenstands führt. In der Antisemitismuskritik wird Rassismus dann auch als bloßes Weltbild missverstanden, sodass die soziale Struktur, die ihn ausmacht, unsichtbar wird. Dies geht immer wieder mit einer relativen Verharmlosung einher: Antisemitismus ziele auf Vernichtung, Rassismus „nur“ auf Beherrschung. Andersherum wird Antisemitismus in der Rassismuskritik als soziales Dominanzverhältnis verstanden, was ebenfalls zur Verharmlosung führt: Jüdinnen*Juden seien heute in westlichen Gesellschaften keine wirklich marginalisierte Minderheit mehr, sondern zumeist Teil der weißen Mehrheit, sodass Antisemitismus ein weniger drängendes Problem sei.

Für einen unbequemen Umgang

Der bequeme Umgang mit diesem hier idealisiert und überspitzt skizzierten Gegensatz besteht darin, sich auf eine Seite zu schlagen und die andere zu verwerfen. Der sinnvolle Umgang besteht darin, sich der begrifflichen Differenz bewusst zu sein und gegenüber beiden Kritiken lernbereit zu zeigen, auch wenn das die kritische Praxis komplizierter werden lässt. Lernbereit zu sein heißt auch, Kritik ernst zu nehmen, die die eigenen Positionen als antisemitisch oder rassistisch angreift, und zu Aushandlungen bereit zu sein.

Eine Möglichkeit der Entschärfung besteht darin, sowohl in der Kritik als auch im Umgang mit Kritik mehr über Antisemitismus und Rassismus, aber weniger über Antisemit*innen und Rassist*innen zu sprechen. Antisemitismus und Rassismus sollten nicht als Charaktereigenschaft besonders bösartiger Personen verstanden werden, sondern als gesellschaftliche Strukturen und Ideologien, die die Einzelnen in ihrem Handeln reproduzieren. Eine solche Perspektive befreit die Einzelnen nicht von der Verantwortung für ihr Denken und Handeln; es führt aber dazu, dass eben nur gewisse Muster des Denkens und Handelns und nicht die Persönlichkeit oder Identität zur Debatte stehen. Das heißt, wenn man Antisemitismus und Rassismus kritisiert, geht es in der Regel nicht darum, Personen als Antisemit*innen und Rassist*innen zu bezeichnen – diese Ausdrücke sollten für Extremfälle reserviert bleiben. Es geht um antisemitische und rassistische Strukturen, Denk- und Handlungsweisen, auf die die kritisierten Personen hingewiesen werden.

Kritik bleibt anstrengend.

 

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