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„Demokratie als Enttäuschung“. Transformationserfahrungen in Ungarn

Von Lucas Frings

In der kompakten Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Januar 2017 widmen sich András Bíró-Nagy, Dalma Dobszai, Tibor Kadlót und Annamária König den Einstellungen der ungarischen Bevölkerung zur Transformation nach 1989 und dem Zusammenhang mit der „illiberale(n) Innenpolitik seit 2010“ (S. 2). Dabei zeichnen sie ein Bild einer ungarischen Gesellschaft, die von großem Misstrauen gegenüber politischen Institutionen und der Demokratie und gleichzeitig vom Wunsch nach einem starken (Fürsorge-)Staat geprägt ist.

Ein Desinteresse gegenüber der aktuellen politischen Situation – einem Drittel der Bevölkerung sei es egal, „ob das Land autoritär oder demokratisch regiert wird“ (S. 2) – und ein Vertrauen in die Demokratie benötige eine Verbesserung der Lebensbedingungen und der sozialen Mobilität.

Die Autor_innen haben in ihre Studie eine große Menge an internationalen und nationalen Erhebungen, wie der World Values Survey und dem Eurobarometer, einfließen lassen. Dabei wenden sie ein Modell von Ronald Inglehart an um Werte wie „Religion, Familie und nationale Identität, Respekt für Traditionen und das Ausmaß sozialer Kontrolle über das Individuum“ (S. 3) und den Wert von politischer Selbstentfaltung, über materielle Bedürfnissen hinaus, zu erfassen. Danach denkt die ungarische Bevölkerung konstant weitestgehend rational und säkular, gleichzeitig aber auch intolerant und wenig progressiv.

In den Jahren 1989 bis 2009 sank das Vertrauen in die Regierung und das Parlament kontinuierlich, beides rangierte 2009 unter 20 Prozent, den Parteien misstrauten gar 90 Prozent der Ungar_innen. Die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und eine bekanntgewordene Wähler_innentäuschung dürfte diese Ergebnisse 2009 mitbestimmt haben. Aber auch unter Fidesz-Regierung bleibt das Misstrauen hoch. Gleichermaßen genießen auch staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen, das Rechtssystem und große Unternehmen nur wenig Vertrauen, ihren Mitbürger_innen vertrauen 20-25 Prozent, wobei die Veränderungen zwischen 1999 und 2009 nur sehr gering ausfallen.

Die auffällige Forderung nach einem starken Staat sehen die Autor_innen als eine Fortsetzung des Staatssozialismus, die von Privatisierungen und Marktwirtschaft zwar geschwächt, aber nicht aufgelöst wurde. Noch immer sieht ein großer Teil der ungarischen Bevölkerung den Staat in der Verantwortung Einkommensunterschiede klein zu halten und Sozialleistungen bereitzustellen.

Die Ambivalenz dieser Forderungen bei gleichzeitigem Misstrauen in den Staat und politische Akteur_innen sind unter anderem durch die starke Verknüpfung von Wirtschaftswachstum und Wohlstand mit der Demokratie erklärbar. Kriselt die Wirtschaft, sinke auch das Demokratievertrauen, womit dieses äußerst fragil sei.

Die Selbstverortung der Ungar_innen auf einer politischen Rechts-links-Skala wandelt sich im Verlauf der untersuchten Jahre. So positionieren sich 2015 deutlich mehr Menschen auf der rechten Seite statt der linken Seite der Mitte, während diese aber gleichbleibend die Mehrheit stellt. Hier verkürzt die Analyse leider ihre, sonst hilfreiche, prozentuale Angabe von Umfragewerten und nennt nur die Werte für die Positionierungen an den extremen Enden. Ein Blick in die Quelle, eine Studie der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, zeigt, dass sich eine große Zahl der Befragten tendenziell rechts positioniert. Zudem wäre ein Erklärungsansatz für die spannende Feststellung, dass die Verortung auf der Skala stark von der favorisierten Partei abhängig ist (und nicht andersherum wie in vielen Ländern), wünschenswert gewesen.

Von Privatisierungen nach 1989 profitierten besonders Wirtschaftsführer und Politiker des alten Systems. Auch Arbeiter_innen verloren durch Schließungen ihre Jobs und fanden, wie Menschen mit geringer Bildung häufig keine neue Arbeit.

Akademiker_innen kamen mit dem Umbruch besser klar als andere Bevölkerungsgruppen, obwohl auch unter ihnen eine Mehrheit angab, dass es ihnen 1996 schlechter geht als noch sieben Jahre zuvor. In den zehn Jahren nach dem Umbruch sah die ungarische Bevölkerung überwiegend eine negative Entwicklung. Inflation, Lohneinbuße und geringere staatliche Sozialleistungen – an das Demokratievertrauen gekoppelte Aspekte – spielten dabei insbesondere in den Anfangsjahren nach 1989 eine wichtige Rolle. Aber auch 2014 bewerteten die Ungar_innen, mit Ausnahme von Universitätsabsolvent_innen, das alte Regime der aktuellen Demokratie überlegen, wobei eine knappe Mehrheit den Umbruch als notwendig bezeichnet. Erlangte individuelle Freiheitsrechte können die Sorge um eine gesicherte Existenz nicht aufwiegen.

Insbesondere im EU-Vergleich zeigen sich die Ungar_innen deutlich weniger offen für eine freie Marktwirtschaft, was maßgeblich mit den Wirtschaftskrisen Anfang der 1990er-Jahre und 2009 zusammenhängen dürfte.

Zur Globalisierung lässt sich eine ambivalente Haltung herauslesen, etwa gleich viele sehen in ihr eine Förderung des Wirtschaftswachstums oder eine Schädigung ungarischer Unternehmen bzw. eine Bedrohung der ungarischen Kultur. Der darin ausgedrückte Nationalismus findet sich auch in der Einstellungsforschung, 2016 bezeichnete sich die Hälfte der Befragten selbst als fremdenfeindlich, vier Fünftel möchte keine Eingewanderten als Nachbar_innen haben. (Vgl. S. 11)

Misstrauen prägt die Gesellschaft nicht nur in die Politik sondern auch gegenüber den Mitmenschen, ein Faktor, der Toleranz in der Gesellschaft hemmt.

Die Zustimmung zur EU-Mitgliedschaft scheint von diesem Nationalismus jedoch nicht gefährdet und stieg seit dem Beitritt 2004 sogar an. Andererseits sank in den Jahren nach 2010 das Vertrauen in die EU, bleibt aber immer noch höher als in die nationalen Institutionen. Die meisten hier ausgewerteten Erhebungsdaten hierzu stammen von 2015, gerade an dem Umgang mit den EU-Außengrenzen könnten sich die Meinungen hierzu in den Folgejahren deutlich verändert haben.

In der Analyse wird deutlich, dass das abgenommene Demokratievertrauen der Ungar_innen nach 1989 vor allem durch sozio-ökonomische Faktoren – steigende Arbeitslosigkeit, sinkende soziale Stabilität und Mobilität – bedingt ist, wobei die Autor_innen anmerken, dass die Erwartungen überhöht waren. (Vgl. S. 8) Die Analyse stellt heraus, dass aus der Unzufriedenheit kein Wunsch nach einer Diktatur resultiert, bezeichnet es jedoch als „Warnzeichen (...), dass es heute einem Drittel der Bevölkerung egal ist, ob das Land diktatorisch oder demokratisch regiert wird“ (S. 14). Bei dieser Gleichgültigkeit sei es der Fidesz-Partei ab 2010 auch ohne großen Widerstand gelungen, Justiz-und Wahlsystem zu ändern und die Arbeit von unabhängigen Medien und NGOs einzuschränken.

Paradox und spannend ist, dass die Ungar_innen sich wünschen, dass staatliche Institutionen sich für eine Verbesserung ihrer finanziellen Lage einsetzen, obwohl sie diesen gleichzeitig nicht vertrauen. 

Durch die breite Grundlage von Erhebungen, insbesondere auch die internationalen Vergleichsdaten, zeichnen die Autor_innen auf nur wenigen Seiten ein überaus dichtes Bild der ungarischen Bevölkerung zwischen Misstrauen in politische Institutionen und Wunsch nach einem starken Staat. Dass an manchen Stellen die Erklärungen für bestimmte Haltungen zu kurz ausfallen, liegt in der Natur einer Analyse quantitativer Daten.

Auch wenn die dicht geschriebene Analyse stellenweise Hintergrundinformationen – z.B. einen Abriss des ungarischen Transformationsprozesses – bietet, richtet sie sich an Leser_innen mit Vorwissen über die politische Situation in Ungarn und einem Verständnis von politischen Prozessen.

Bíró-Nagy, András (Hg.): Demokratie als Enttäuschung. Transformationserfahrungen in Ungarn, Internationale Politikanalyse der Friedrich Ebert Stiftung, Januar 2017. 17 Seiten. Kostenlos zum Download erhältlich.

 

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