Proteste und soziale Kosten des Systemwandels. Der Fall Ungarn
Von Tanja Kleeh
In dem Aufsatz „Proteste und soziale Kosten des Systemwandel in der postkommunistischen Demokratie: der Fall Ungarn“ gibt Máté Szabó einen Überblick über die Zusammenhänge „zwischen Umbau des Sozialstaates, Demokratisierung und soziale[r] Mobilisierung in postkommunistischen Demokratien“. Die Transformationsprozesse im Ungarn der Jahre 1989 bis 1999 dienen hierfür als Beispiel.
Im ersten Teil des Aufsatzes arbeitet Szabó die allgemeinen Kosten und das Potential sozialer Proteste in postkommunistischen Demokratien heraus. Dabei folgt er überwiegend der Argumentation Claus Offes, die dieser in der Studie „Wohlfahrtsstaatliche Politik in nachkommunistischen Gesellschaften. Ausgangsbedingungen, Akteure und Agenda der Reform“ (1994) erarbeitet hat. Demzufolge seien die sozialpolitischen „Übergangskosten“ äußerst divers: Zum einen muss hier der Wandel der Wirtschaftsordnung mit seinen Folgen der Arbeitslosigkeit berücksichtigt werden, zum anderen fallen soziale Dienste von betrieblicher Seite weg. Insbesondere der letzte Punkt bietet ein großes Protestpotential. Zusammenfassend wird von dem Ausgangspunkt der Protestbewegungen als „gegen die sozialen Kosten der Einführung der Marktwirtschaft“ gesprochen, auch wenn diese mit Sicherheit nur ein Teilpotential bilden, abhängig von den weiteren Rahmenbedingungen wie institutioneller (In)Stabilität. Diese Rahmenbedingungen sind auch dafür verantwortlich, ob und in welchem Maße sich die Proteste radikalisieren und welches Ausmaß sie erreichen (S.3).
Gerade bei der Fokussierung auf den politischen Protest und die sozialen Bewegungen wird das Alter des Textets von Szabó ersichtlich. So behauptet er etwa, „Parteien, Gewerkschaften und „Massen“ oder „Bürgerbewegungen“ als Akteure der politischen Kultur werden wahrgenommen, über Prozesse ihre politischen Partizipation wird berichtet, aber die Rolle der weniger organisierten und formalisierten Integrationsformen der „Zivilgesellschaft“ und deren Bedeutung im Stabilisierungsprozess wird eher nur allgemein bedacht“ (S.4). Diese Sichtweise kann so nicht komplett unkommentiert stehen bleiben, hat sich doch in der Forschung in den letzten knapp 20 Jahren einiges getan. Insbesondere die von Szabó angesprochenen Handbücher zu den politischen Systemen Ostmitteleuropas haben inzwischen die Bedeutung der sozialen Bewegungen und politischer Proteste erkannt, so dass sich kaum ein solches Buch ohne die Betrachtung eben dieser finden wird. Doch trotz seines Alters ist der Aufsatz durchaus aufschlussreich und liefert interessantes Hintergrundwissen zum Transformationsprozess.
In Bezug auf Ungarn ist hierbei insbesondere der zweite Teil interessant. Wie bereits die Unterüberschrift „Neue Rahmenbedingungen der sozialen Proteste in Ungarn nach 1989“ verrät, liegt hier der Fokus Ungarn und den dortigen Bedingungen für soziale Proteste, die sich nach dem Systemwechsel herausbildeten. Der Wechsel selbst sorgte für die größten politischen Veränderungen der Rahmenbedingungen: „Öffentliche, legale Aktivitäten und die „Märkte“ der Politik sind für die Bewegungen zugänglich, und damit entsteht die Möglichkeit, daß soziale Bewegungen auch gegeneinander mobilisieren und protestieren können“ (S.6).
Ebenso kann die Konkurrenzsituation, der Bewegungen in modernen Demokratien ausgesetzt sind, zu diesen Rahmenbedingungen gezählt werden. Konkurriert wird dabei vor allem um die materielle und persönliche Unterstützung der Bevölkerung. Szabó betont, dass mit der Konkurrenz jedoch stets Kooperation Hand in Hand gehe, vor allem der verschiedenen Gruppierungen untereinander. Als Beispiel führt er das im Jahr 1992 entstandene „Alternative Netzwerk“ an, ein Koordinations- und Informationsnetzwerk verschiedener antimilitaristischer,
antirassistischer, antifaschistischer, ökologischer, feministischer und homosexueller Bewegungen und Gruppierungen. Solche Zusammenschlüsse sind beispielhaft für die Vernetzungen innerhalb der Bewegungen. Eine weitere Rahmenbedingung ist neben der zunehmenden Vernetzung der Proteste zudem die Internationalisierung der Netzwerke – ohne die Transformation seit 1989 wäre dies kaum in der heutigen Form möglich gewesen.
Neben der theoretischen Einführung in die veränderten Rahmenbedingungen durch den Transformationsprozess bietet der Artikel von Szabó zudem praktische Beispiele, wie etwa Boykottaufrufe gegen staatliche Verpflichtungen. So gab es beispielsweise Aktionen gegen die Fernsehgebühren, Steuerzahlungen und den Wehrdienst. Kritisch zu sehen ist die Bewertung der Protestformen durch Szabó. Straßenblockaden etwa werden von ihm als Überschreitung des Versammlungsrechtes gewertet und er stellt die Frage, inwieweit es begründet gewesen sei, dass der „zivile Ungehorsam“ überhaupt in Aufrufen und Selbstdarstellungen ins Spiel gebracht worden sei. Auch wenn der Autor im Text selbst sagt, dass nicht jeder illegale Protest als „ziviler Ungehorsam“ zu werten sei, wirkt diese Einschätzung fehlt am Platz und die Bewegungen bzw. Proteste herabgewertet.
Anhand einer umfangreichen Tabelle wertet Szabó die Protestformen aus. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass im Ungarn der Jahre 1989-1994 ein deutlicher Trend zu gewaltlosen Protestformen „mit einem gewissen Anteil an gewaltlosen und legalen Störung der öffentlichen Ordnung“ bestanden habe. Auch hier ist wieder die Methode zu hinterfragen. Die Unterteilung der Proteste in gewaltsam und gewaltlos, Störung der öffentlichen Ordnung und keine Störung der öffentliche Ordnung. Diese Unterteilung wirkt auf den ersten Blick etwas zu kurz gegriffen. Allerdings ermöglicht die sorgfältige Auflistung und Auswertung der ganz unterschiedlichen Formen des Protestes, zum Beispiel in schriftlicher Form oder Hungerstreiks, sich ein detailliertes Bild von sozialen Protesten in Ungarn zu machen. Dabei werden auch solche Proteste berücksichtigt, die nicht unmittelbar im Blickfeld liegen, wenn sich mit den Transformationsprozessen in Ungarn auseinandergesetzt wird. Die Zahlen zeigen zudem auf, dass gefühlte Wahrheiten – wie etwa die Konfrontation mit Waffen – in Wahrheit oftmals deutlich kleiner ausfielen. Insgesamt kommt Szabó zu dem Ergebnis, dass in Ungarn eine relativ milde, legalitische, wenig disruptive Protestkultur vorherrsche, die als Gegenbild zu Terror und Konfrontation gelesen werden könne. Auch wenn der Text und seine Ergebnisse nun beinahe 20 Jahre alt sind, so hat sich an diesen Ergebnissen wenig bis gar nichts verändert, da die untersuchten Ereignisse bereits stattgefunden hatten.
Im dritten Teil wirf Szabó einen kurzen Blick auf die Konflikt- und Protestmobilisierung im sozialen Bereich in Ungarn von 1989 bis 1994. Hierfür arbeitet der Autor mit Beispielen, wie der „Taxifahrer-Blockade“ aus dem Oktober 1990 und Unterschriftenaktionen aus den Jahren 1992/93, die sich beispielsweise gegen die „unsoziale“ Wirtschaftspolitik richteten.
„Proteste und soziale Kosten des Systemwandels in der postkommunistischen Demokratie: der Fall Ungarn“ bietet einen guten Überblick über die Entstehung einer gesamtgesellschaftlichen Protestbewegung, die als Kosten für den Systemwandel gesehen werden können. Stärke gewinnt der Artikel vor allem durch seine Detailliertheit und die stetige Nutzung von konkreten Beispielen. Máté Szabó bietet umfangreiche Hintergrundinformationen zu der Entstehung der Zivilgesellschaft in einem postkommunistischen Land, was das Verständnis der heutigen Situation dort fördern kann. Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich um einen Text aus dem Jahr 2000 handelt. Manche schwächere Stellen lassen sich damit erklären. Insgesamt jedoch ist der Artikel eine gute Grundlage, um sich mit Ungarn und seiner Transformation auseinanderzusetzen.
„Proteste und soziale Kosten des Systemwandels in der postkommunistischen Demokratie: der Fall Ungarn“ ist beim Frankfurter Institut für Transformationsstudien erschienen und kann hier online abgerufen werden.
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- 27 Mär 2019 - 08:08