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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Marika Aviva Pradler studiert im 6. Fachsemester Politikwissenschaft (BA) an der Freien Universität Berlin. Im Rahmen eines sechs monatigen studienbegleitenden Praktikums bei der Agentur für Bildung e.V. schrieb sie diese Rezension.

Von Marika Aviva Pradler

Stolpersteine, der Name selbst sagt es schon, sollen uns zum Stolpern bringen, wobei dieses Stolpern nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinne zu verstehen ist. Sie sind Teile im Straßenbild, die uns an die Verbrechen des Nationalsozialismus bzw. explizit an die Verfolgung einzelner Menschen erinnern sollen. Die hier vorliegende Broschüre stellt pädagogisches Begleitmaterial für Stolpersteinprojekte in Schulen dar. Schüler_innen haben auch in der Vergangenheit häufig Stolpersteine verlegt, was den Anlass dazu bot eine Handreichung zu diesem Projekt speziell für den Standort Berlin zu schaffen. Vom NS Staat verfolgte Menschen wurden damals aus ihrem direkten Umfeld gerissen, was häufig im Mitwissen der Nachbar_innen geschah. Stolpersteine sollen heute dazu beitragen, dass die Menschen Verantwortung für den städtischen Raum und die dort lebenden Menschen übernehmen.

Das Buch widmet sich in den verschiedenen Kapiteln den jeweiligen Opfergruppen und ihrer spezifischen Geschichte in Berlin in den 1930er und 1940er Jahren. Es wird dabei auf die Strukturen der Verfolgung, die Verfolgungsbehörden, die jeweiligen Orte der Verfolgung (wenn möglich) eingegangen. Am Ende eines jeden Kapitels gibt es einen spezifischen Rechercheleitfaden und jeweils eine Beispielbiografie, die zeigt, wie biografische Eckdaten rekonstruiert werden können. Außerdem gibt es Hinweise auf gängige Fachliteratur. Es handelt sich um die Einleitung zu einem Projekt mit einem praktischen Ergebnis. Schüler_innen sollen sich über Recherche unter Anleitung durch das vorliegende Buch eine Einzelbiografie erarbeiten und im Anschluss daran einen Stolperstein für diese verlegen. Es wird der Hinweis darauf gegeben, dass die am Projekt beteiligten Schüler_innen ein Mindestalter von 12 Jahren haben sollten, da es sich immer um persönliche Geschichten handelt, die meist in Misshandlungen, Mord oder Ähnlichem endeten. Außerdem sollte vorher geprüft werden, ob das Projekt durchführbar ist, das heißt ob genügend Material vorhanden ist, um eine Biografie zu rekonstruieren und ob die Hinterbliebenen des Opfers mit der Verlegung eines Stolpersteins einverstanden sind.

Das erste Kapitel der Broschüre widmet sich der Gruppe der als „asozial“ verfolgten Menschen. Zu Beginn werden die Möglichkeiten der Kontextualisierung und des heutigen Bezuges dargestellt. Außerdem gibt es eine Erklärung des Begriffes „asozial“ und wie man heute sensibel mit diesem umgehen kann. Es geht des Weiteren um den Umgang mit dieser Gruppe im Nachgang der NS Zeit. Sie wurden häufig nicht als Verfolgte akzeptiert und erhielten somit auch keine Entschädigungen. Auch die Zeit vor der Machtergreifung der Nationalsozialist_innen wird thematisiert, bevor detailliert auf die Beschreibung ihrer Situation und deren kontinuierlicher Verschlimmerung unter der Nazi Herrschaft eingegangen wird. Hierbei geht es, wie bei den anderen Kapiteln auch, vor allem um Ereignisse im Berliner Raum, jedoch kommt es auch immer wieder zu einer gesamtdeutschen Betrachtung. Für den Berliner Raum werden explizit Orte des Geschehens genannt bzw. auch durch Fotos gezeigt, was es im Rahmen eines Bildungsprojektes auch möglich macht, diese zu besuchen. Die Vorkommnisse werden detailliert beschrieben, auch auf das Behördenwesen und die jeweiligen Zuständigkeiten wird eingegangen, um so verständlich zu machen, wie die systematische Verfolgung funktionieren konnte. Am Ende des Kapitels befindet sich die recherchierte Verfolgungsgeschichte einer Person, für die bereits ein Stolperstein verlegt wurde. Hierbei werden exemplarisch Recherchestrategien genannt. Außerdem gibt es noch eine Auflistung der verschiedenen Akten bzw. der Stellen an denen Informationen zu der betreffenden Opfergruppe eingeholt werden können, sowie ausführliche Literaturangaben, an denen sich gegebenenfalls orientiert werden kann. Dieser grundsätzliche Aufbau zieht sich durch alle Kapitel der Broschüre, wobei es natürlich immer wieder Besonderheiten und kleine Abweichungen die jeweilige Gruppe betreffend gibt.

Es folgen Kapitel zu den Opfern der „Euthanasie“-Morde, zur Homosexuellenverfolgung in Berlin, zur Verfolgung von Juden_Jüdinnen, zur Verfolgung von Berliner Sinti_Sintize und Roma_Romnja, zu Menschen die Widerstand gegen den Nationalsozialismus in Berlin leisteten und in Folge dessen verfolgt wurden sowie ein Kapitel über die Zeugen Jehovas als Verfolgte. Es wird jeweils auf ihr Leben vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten eingegangen, auf die spezifische Art und Weise der Verfolgung, der Reaktionen bzw. des Verhaltens der restlichen Bevölkerung zur Verfolgung und auch auf die Gründe für deren Verfolgung. Zusätzlich wird auch das Leben der jeweiligen Gruppen nach Ende des Nationalsozialismus thematisiert. Die detaillierte Beschreibung der Ereignisse und vor allem der Bezug auf die behördlichen Zusammenhänge und Strukturen, macht es möglich, sich zumindest ansatzweise vorzustellen, wie die Verfolgung in einem so großen Maße funktionieren konnte. Durch die Thematisierung von Einzelschicksalen wird es vor allem für die jugendliche Zielgruppe einfacher, sich die Situation der verfolgten Menschen vorzustellen. Es wird immer wieder auf mögliche Tücken im Projektverlauf hingewiesen, was es den zuständigen Betreuer_innen eines solchen Projekts möglich macht, manche Schwierigkeit vielleicht schon von vorn herein zu umgehen. Wie bereits angesprochen, ist ein solches Stolpersteinprojekt sehr praxis- bzw. ergebnisorientiert, was es erleichtern sollte, das Interesse von Jugendlichen zu wecken und sie dann auch bei der Sache zu halten. Die Angaben zu den Recherchemöglichkeiten werden sich zusätzlich als sehr hilfreich herausstellen. Auch wird immer wieder auf mögliche emotionale Tücken in der Bearbeitung solch aufwühlender Themenkomplexe hingewiesen, für die aber auch Lösungsstrategien genannt werden.

Alles in allem halte ich ein solches Stolpersteinprojekt mit der zur pädagogischen Begleitung angelegten Broschüre für sehr sinnvoll. Nicht nur birgt es die Möglichkeit sich mit einem Einzelschicksal eines im Nationalsozialismus verfolgten Menschen auseinanderzusetzen, was erfahrungsgemäß großes Interesse bei Jugendlichen weckt. Es birgt darüber hinaus auch die Möglichkeit, sich mit den die Verfolgung ermöglichenden Strukturen vom Einzelschicksal ausgehend auseinanderzusetzen. Die Verfolgtengruppen sind vielfältig, was es möglich macht sich mit einem passenden spezifischen Thema auseinanderzusetzen. Bei einem solchen Projekt lernen die Jugendlichen nicht nur inhaltlich etwas über die Vergangenheit und ihre Kontinuitäten in die Gegenwart, sondern sie sammeln auch Erfahrungen mit historischer Recherchearbeit. Zusätzlich, und dieser Punkt sollte nicht vernachlässigt werden, geht die Wirkung der geleisteten Arbeit über die Schüler_innengruppe hinaus, denn wenn es am Ende eines solchen Projektes zur Verlegung eines Stolpersteines kommt, wird dieser in der Stadt deutlich sichtbar sein und auch andere Menschen gedanklich zum Stolpern bringen. Die hier vorliegende Broschüre bietet für all das eine sehr gute Grundlage bzw. begleitende Stütze zur Betreuung eines solchen Projektes durch eine Lehrkraft.

Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin e.V. Koordinierungsstelle Stolpersteine Berlin (Hrsg.) Stolpersteine in Berlin – Pädagogisches Begleitmaterial. Berlin 2015. 105 Seiten. 8 EUR. ISBN 978 – 3 – 00 – 050185 – 2.

 

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