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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Dr. Akim Jah, Politikwissenschaftler, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Forschung und Bildung des International Tracing Service (ITS)

Von Akim Jah

Im Archiv des International Tracing Service (ITS) befinden sich Millionen von Dokumenten, die sich auf die Verfolgung im Nationalsozialismus, auf den Holocaust und auf die Displaced Persons beziehen. Hierzu gehören amtliche Schriftstücke und Formulare, Karteikarten aus Verwaltungen, aber auch Registrierungsausweise, Namenslisten und Antragsunterlagen. Bei einem großen Teil der Dokumente handelt es sich um personenbezogene Unterlagen, die sich auf konkrete Menschen, insbesondere ehemals Verfolgte des Nationalsozialismus beziehen. Die Dokumente eignen sich in geradezu paradigmatischer Weise für den archivpädagogischen Einsatz in der historischen Bildung, wenn es um die Auseinandersetzung mit der Verfolgung im Nationalsozialismus und dem Holocaust sowie mit der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte und der Situation der Displaced Persons geht. 

Der pädagogischen Arbeit mit historischen Dokumenten liegt die Annahme zugrunde, dass diese eine Möglichkeit darstellen, etwas über die Zeit und die Kontexte, in denen diese Quellen entstanden sind, zu lernen. Doch wie sieht dieses Lernen aus? Welche Schritte sind für eine qualifizierte Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten notwendig und welche Lernziele sind damit verbunden? Welche Potentiale ergeben sich schließlich daraus für die historische Bildung? Der Beitrag geht diesen Fragen nach und stellt Schritte einer pädagogischen Arbeit mit historischen Dokumenten vor. Die Arbeit mit historischen Quellen wird dabei als eine methodisch-didaktische Herangehensweise verstanden, bei der Jugendliche lernen, Quellen selbständig einzuordnen und zu interpretieren. 

Archivdokumente als Quelle für die historische Bildung

Anders als Sachtexte über Geschichte stehen Archivdokumente nicht für sich. Das heißt, sie erklären sich nicht – zwangsläufig – aus sich selbst heraus. Das, was auf den ersten Blick auf Dokumenten zu sehen und zu lesen ist, ist nicht unbedingt identisch mit ihrer historischen Aussagekraft. Da sie in einem bestimmten Kontext und für einen bestimmten Zweck erstellt worden sind, geben sie die Sicht der jeweiligen Verfasserin oder des Verfassers wieder und enthalten ausschließlich Informationen, die für die bestimmte Funktion des Dokuments damals relevant waren. Oftmals sind diese Informationen zudem aus heutiger oder aus fachfremder Sicht nicht immer verständlich oder eindeutig. Zudem spiegeln historische Dokumente in der Regel die Haltung der Verfasserin oder des Verfassers wieder, welche sich beispielsweise an der Art der Formulierung oder den verwendeten Begrifflichkeiten, die diskriminierend, verharmlosend oder beschönigend sein können, ablesen lässt. Dies trifft in ähnlicher Weise auch auf Karteikarten und Formulare, zum Beispiel Fragebögen, zu. Auch diese wurden zu einem bestimmten Zweck und mit einer bestimmten Haltung erstellt. Diejenigen, die das Formular ausfüllten, waren wiederum an die vorgegebene Struktur und Regeln für die zweckdienlichen Eintragungen gebunden, also in ihren Antworten eingeschränkt. Zudem befanden sie sich in einer bestimmten (Zwangs-)Situation und verfolgten selbst eigene Interessen. Manche Formulare wurden darüber hinaus nicht von den Betroffenen selbst ausgefüllt, sondern von einem Dritten. Hinzu kommen (nachträgliche) Ergänzungen durch Stempel oder Anmerkungen. 

Um historische Dokumente zu verstehen, müssen sie daher entschlüsselt, kritisch gelesen und interpretiert sowie in einen Zusammenhang gebracht werden. Anders als beim Lesen von Sachtexten, kann das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten sein, dass gegebenenfalls nicht alle Sachverhalte abschließend geklärt, Fragen offen bleiben oder Widersprüche nicht aufgelöst werden können. Dadurch können sich jedoch neue Fragen ergeben, die die Beschäftigung mit weiteren Quellen, einschließlich einer eigenen (Archiv-)Recherche, zur Folge haben kann. 

Analog zur Vorgehensweise in der Geschichtswissenschaft besteht diese Auseinandersetzung in der Pädagogik aus den Schritten ErschließungQuellenkritik und Quelleninterpretation. Idealerweise sind diese, gegebenenfalls in verkürzter Form, bei der pädagogischen Beschäftigung mit einem Dokument anzuwenden und von der Lehrkraft beziehungsweise den Pädagog_innen entsprechend anzuleiten.

Erschließung, Quellenkritik und Quelleninterpretation

Bei der Erschließung eines Dokuments geht es darum zu verstehen, um was für ein Schriftstück es sich handelt, d.h. wann es von wem für welchen Zweck erstellt wurde und was die zentrale Aussage ist. Ein Teil dieser Information, z.B. die Bezeichnung des Dokuments kann sich unmittelbar aus diesem selbst ergeben, andere müssen erst entziffert, dekodiert oder gedeutet werden. Bei vielen Dokumenten, insbesondere solchen, die aus ausgefüllten Formblättern oder Karteikarten bestehen, sind die Eintragungen zwar lesbar, aber ohne eine spezifische Erklärung kaum oder nur eingeschränkt zu verstehen. Für die Einordnung eines Dokuments in den konkreten historischen Kontext, aber auch um die Bedeutung von Begriffen, Abkürzungen und Bezügen zu verstehen, kann es daher notwendig sein, auf bereits bestehende Informationen zurückzugreifen. Bei der Arbeit mit Dokumenten aus dem ITS-Archiv ist dies auf zweierlei Weise möglich: 1. Die Workshopkonzepte [LINK Workshops] und die pädagogischen Handreichungen des ITS enthalten historische Einführungen und Kontextualisierungen, die die Dokumente in einen Zusammenhang stellen und daher „lesbar“ machen. 2. Im internetbasierten e-Guide des ITS werden die häufigsten Dokumentenarten beschrieben und häufige Eintragungen insbesondere in Formularen und Verwaltungsakten mit Hilfe einer graphischen Oberfläche erklärt.

Ist ein Dokument erschlossen, besteht der nächste Schritt darin, den Inhalt in Form einer Quellenkritik zu untersuchen. Dies bedeutet, das Dokument hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Richtigkeit zu hinterfragen. Dies kann in Form einer immanenten Kritik erfolgen, z.B. im Erkennen, dass die junge Altersangabe auf einer Häftlings-Personal-Karte aus einem Konzentrationslager mit dem dort angegebenen Beruf nicht in Übereinstimmung zu bringen ist. Dies ist aber auch im Vergleich von verschiedenen Quellen möglich, z.B. indem widersprüchliche Angaben in verschiedenen Dokumenten analysiert und erklärt werden. Im Sinne der Idee eines forschenden Lernens können so auch verschiedene Informationen zu einer Person aus unterschiedlichen Dokumenten zusammengetragen und zueinander kritisch in Bezug gesetzt werden. Auch Fragen nach den Interessen und der Perspektive des Autors oder der Autorin sind Teil der Quellenkritik. 

Bei der Quelleninterpretation schließlich werden die gewonnenen Informationen in den historischen Kontext eingeordnet und im Sinne einer Fragestellung ausgewertet. Die Quelleninterpretation setzt dabei ein gewisses historisches Wissen voraus. Für den Geschichtsunterricht bedeutet dies, dass auf vorher behandelten Inhalte zurückgegriffen werden kann oder der Kontext im Zuge der Auseinandersetzung mit den Quellen von den Schülern und Schülerinnen erarbeitet wird. Hier geht es also nicht mehr nur um die aus der Erschließung eines Dokuments gewonnenen Informationen, sondern um allgemeinere historische Erkenntnisse. Dies trifft insbesondere auch für die Arbeit mit biographischen Dokumenten zu: So stehen hier nicht einzelne biographische Details oder die Rekonstruktion einer Biographie im Mittelpunkt, sondern strukturelle Fragen etwa zur Verfolgung im Nationalsozialismus, zur KZ-Haft oder zur Situation und zu den Perspektiven von Displaced Persons nach der Befreiung. 

Das Ziel einer Auseinandersetzung mit historischen Dokumenten erschöpft sich daher nicht in einer bloßen Aneignung von Informationen, sondern besteht darüber hinaus in einer Förderung der Analyse- und Deutungskompetenz, die auch in den Rahmenlehrplänen der Bundesländer vorgesehen ist.

 

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