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100 Jahre Polnische Unabhängigkeit. Die geopolitischen Modelle von Roman Dmowski und Józef Piłsudski

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Arthur Osinski ist Kulturhistoriker und Gedenkstättenpädagoge.

Von Arthur Osinski

Am 11. November jährt sich die Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit nach 123 Jahren Besatzung zum hundertsten Mal. Die Genese des nach dem ersten Weltkrieg wieder entstandenen polnischen Staates wurde durch zwei Staatsmänner dieser Zeit bestimmt. Roman Dmowski und Józef Piłsudski zählen bis heute zu den bedeutendsten Politikern dieser Zeit. Sie waren Vertreter verschiedener politischer Lager und Verfechter unterschiedlicher geopolitischer Modelle eines zukünftigen, unabhängigen polnischen Staates.

Zwei Staatsmänner, zwei Staatsideen

In den neunziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nahmen die politischen Programme und Bewegungen in dem von den drei Teilungsmächten besetzten Polen langsam Gestalt an. Am schnellsten geschah dies bei den Sozialisten. Ihre Vertreter aus dem von Russland besetzten Teil kamen 1892 in Paris zusammen, um einen Entwurf des Zukunftsprogramms der „Polnischen Sozialistischen Partei“ (PPS) zu verabschieden. Dabei beschlossen sie die Vereinigung aller sozialistischen Gruppierungen, derer Ziel ein unabhängiger und demokratischer polnischer Staat war. Als Organisator und Anführer dieser Bewegung schob sich Józef Piłsudski an die Spitze. Dem „Unabhängigkeitssozialismus“ der PPS gegenüber waren jedoch nicht alle Sozialisten positiv eingestellt, manche begegneten diesem sogar mit Kritik. Diese standen unter dem Einfluss von Rόża Luksemburg, die den Marxismus übernational definierte und die nationale Problematik nur auf die Erhaltung der eigenen Kultur beschränkte. Dies führte 1899 zur Entstehung der Partei "Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens", unter der Leitung von Feliks Dzierżyński.

Im Jahr 1893 kristallisierte sich auch eine nationale Orientierung im heraus. Sie führte zur Entstehung der Bewegung der "Polnischen Liga", aus der die "Nationale Liga" hervorging. Diese führte zur Entstehung des National-Demokratischen Lagers (die Endecja), einem konservativen, nationalistischen und antisemitistischen Lager. Die größte Rolle bei diesem Prozess spielte Roman Dmowski. Dieser opponierte offen gegen die sozialistischen Bewegungen.

Um die Jahrhundertwende gewann neben der rein politischen immer mehr die geopolitische Ausrichtung eines zukünftigen polnischen Staates an Bedeutung.

Das geopolitische Modell von Roman Dmowski

Dmowski gilt als Gründer und Chefideologe des nationalen Lagers. In seiner 1903 veröffentlichten Publikation "Die Gedanken eines modernen Polen" sprach er sich gegen weitere Aufstände aus, da er keine Chancen in einem bewaffneten Kampf der Polen gegen die Teilungsmächte sah. Er rief jedoch in Manifesten zu Demonstrationen gegen die drei Besatzer auf und mahnte, sich nicht mit dem Schicksal der Teilung abzufinden. Die Endecja sympathisierte offen mit dem Panslavismus, jedoch nur, weil dieser zur Zerstörung der bestehenden europäischen Ordnung hätte führen können, die wiederum – so die Hoffnung – zur Entstehung eines polnischen Staates führen sollte. Die Bestrebungen zur Schaffung eines unabhängigen Polens sah Dmowski eher an der Seite des russischen Vielvölkerstaates, den er als die schwächste und labilste Teilungsmacht ansah.

Die stark rechts orientierte Endecja warb offen für die Polonisierung der Ukrainer, Weißrussen und Litauer auf dem Gebiet eines künftigen polnischen Staates. Darüber hinaus zeigte das Programm der Endecja offene antidemokratische Tendenzen. Dmowskis Ideologie stand für vieles Negative des überall neuaufgekommenen nationalen Egoismus, wie für die Unterdrückung von Minderheiten, den in Europa hoffähig gewordenen Antisemitismus und den offenen Antagonismus gegenüber linken Parteien.

Das geopolitische Modell von Józef Piłsudski

Als sich Piłsudski im Rahmen der Internationale im Juli 1896 in London mit Karl Liebknecht traf, sprach er mit ihm über die „polnische Frage“. Liebknecht sah ein zukünftiges autonomes Polen sich weit nach Osten erstrecken, jedoch ohne den preußischen Teil, in dem man aber der polnischen Bevölkerung mehr Autonomie einräumen wollte. Das Konzept der westlichen Grenzziehung gefiel Piłsudski zwar nicht, die Pläne des sich weit nach Osten erstreckenden Staates und die antirussischen Akzente der deutschen Sozialisten haben ihn jedoch positiv gestimmt. Die Antwort auf Dmowskis prorussische, zur Unabhängigkeit Polens führende, Konzeption war nach Piłsudski nur durch eine Loslösung aus dem russischen Imperium zu erreichen. Dies war für ihn am wahrscheinlichsten durch eine Niederlage Russlands gegen die Mittelmächte. Als einen strategischen Partner, um seine Ziele zu erreichen, schien ihm nur Österreich-Ungarn geeignet, da er dort die größten Chancen für Polen sah, sich später loszulösen. Das hätte aber zuvor zu einem Dreibund Österreich-Ungarn-Polen geführt. Piłsudskis geopolitisches Model eines künftigen unabhängigen Staates beinhaltete eine föderative, multiethnische Konzeption, wie die der I. Polnischen Republik, in der viele Völker friedlich nebeneinander lebten. Er verkörperte genau das Gegenteil dessen, was Dmowski propagierte.

Die Erlangung der Unabhängigkeit

Um das Jahr 1908 skizzierte sich auf dem alten Kontinent allmählich ein neues Bild der internationalen Kräfteverhältnisse heraus. Die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich-Ungarn führte zu einem noch größeren Antagonismus zwischen Moskau und Wien. Hinter Wien stand Berlin, auf der anderen Seite bildete sich die „Entente cordiale“, die Allianz Paris-London-Moskau. Als am ersten August 1914 das deutsche Kaiserreich Russland den Krieg erklärte, expandierte aus einem lokalen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ein gesamteuropäischer, der zum I. Weltkrieg führte.

Polen konnte das Machtvakuum, das nach dem I. Weltkrieg entstanden war, erfolgreich ausnutzen. Piłsudskis Föderationspläne eines großen polnischen Staates waren jedoch nicht realisierbar. Es fehlte an Partnern, denn der Antagonismus zu fast allen Nachbarn war aufgrund der Grenzstreitigkeiten und der unüberwindbaren nationalen Egoismen noch größer geworden. Die multiethnische Bevölkerung der II. Polnischen Republik war nur schwer miteinander zu versöhnen. Ein Drittel gehörte den Minderheiten an. Dazu kam noch der Wahlsieg des nationalen Lagers im Nachkriegspolen, der ein Zusammenleben der verschiedenen Ethnien in Polen zusätzlich erschwerte. Die verbliebenen Deutschen dachten an ihre verlorene Eliterolle, die sie einmal im alten polnischen Besatzungsteil ausgeübt hatten und sehnten sich nach einer Wiedereingliederung an Deutschland. Die polnischen Ukrainer_innen dachten an eine Autonomie und Eigenstaatlichkeit. Die von den polnischen Großgrundbesitzern ausgebeutete weißrussische Minderheit sehnte sich nach einer Verstaatlichung des Bodens, wie in der Sowjetunion. Nur die jüdische Bevölkerung war größtenteils dazu bereit mit den Polen friedlich zusammenzuleben, obwohl die Politik der nationalistischen Endecja ihnen gegenüber offen antisemitisch eingestellt war. Im Mai 1926 putschte sich Piłsudski an die Macht und bekämpfte mit seiner "Sanacja-Bewegung" offen die Endecja. Die innenpolitischen Probleme des jungen Staates wären vielleicht noch zu bewältigen gewesen, die außenpolitische Isolation jedoch, resultierend aus den Grenzstreitigkeiten mit fast allen Nachbarn, stellte ein viel gravierenderes Problem für die Zukunft der II. Polnischen Republik dar. Polens einziger Verbündeter war Frankreich, das sich jedoch 1933 nicht an einem Präventivkrieg gegen die Nationalsozialisten in Deutschland beteiligen wollte. Obwohl ein Einmarsch der polnischen Armee in Deutschland mit seinem damals auf 100.000 Soldaten limitiertem Heer kein großes Unterfangen gewesen wäre, wollte Piłsudski nicht noch isolierter dastehen. Im Nachhinein hat sich dies als fatal erwiesen, Polen wurde 1939 zum vierten Mal geteilt.

 

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