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Lernen mit Sachquellen in Museen und Gedenkstätten. Fragen und Antworten einer interdisziplinären Tagung

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Beitrags-Autor: Ingolf Seidel

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Der Historiker Dr. Jens-Christian Wagner ist seit 2014 leitet als Geschäftsführer die Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten. Zuvor leitete er von 2001 bis 2014 die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.

Von Jens-Christian Wagner 

Die Vermittlung von Geschichtsbewusstsein im Sinne einer kritischen und quellengestützten Auseinandersetzung mit der Geschichte ist unbestreitbar ein grundlegendes Ziel der Geschichtsdidaktik. Eine wichtige Rolle spielen dabei in der „public history“, aber auch im schulischen Unterricht und in der universitären Ausbildung Museen sowie Gedenk- und Dokumentationsstätten an historischen Orten. Hier wird Sachquellen – Originalobjekten, Denkmalen, Gebäuden oder Relikten davon – oftmals eine wichtige Rolle in der Vermittlungsarbeit zugeschrieben. Doch braucht man diese wirklich? Bietet das Lernen in Museen und Gedenkstätten (vor allem solchen an historischen Orten) gegenüber anderen Formen der Geschichtsaneignung, etwa durch Unterricht, Filme, Bücher, Internet, Theater, Kunst, transgenerationellen Dialog etc., wirklich einen Mehrwert? Inwieweit hilft das Lernen anhand und mit Sachquellen überhaupt bei der Entwicklung eines Geschichtsbewusstseins? 

Diese Fragen bildeten den Hintergrund einer Tagung zum Thema „Lernen mit Sachquellen“, die im November 2017 Gedenkstättenmitarbeitende mit Expert_innen aus dem Bereich der Museumskunde und -didaktik, der Geschichtswissenschaft und der Archäologie in Celle zusammenführte. Ganz bewusst sollten dabei die beiden Sphären der Gedenkstätten und der (historischen) Museen zusammengeführt werden – insbesondere vor dem Hintergrund, dass beide viel zu wenig miteinander in Dialog treten und von den jeweiligen Erfahrungen profitieren. 

Sowohl in den Museen als auch in den Gedenkstätten wurden in den vergangenen 20 Jahren fundierte didaktische Konzepte mit differenzierten Formaten zum Lernen mit Sachquellen entwickelt. Bisweilen wurden diese in ihrer Nachhaltigkeit und Sinnhaftigkeit jedoch nicht ernsthaft wissenschaftlich geprüft oder werden trotz fehlender positiver Erfahrungen weitergeführt. Im Rahmen von Werkstattberichten aus Gedenkstätten und Museen wurden während der Tagung etablierte und neue Bildungsformate vorgestellt und hinterfragt – auch vor dem Hintergrund, dass sich Methoden und Inhalte historischen Lernens im digitalen Zeitalter stark geändert haben. Dabei wurde deutlich, dass das Lernen an und mit Sachquellen, die eine haptische und/oder auratische Anmutung haben, angesichts der digitalen Gewohnheiten insbesondere junger Menschen eine ganz neuen Wert erhalten: Für Jugendliche, die kaum noch etwas anderes kennen, als ihre Informationen über das Smartphone wischend abzurufen, bieten die klassischen analogen Zugänge zur Geschichte mittels musealer, realer Dinge, die sie im Idealfall auch anfassen können, einen geradezu exotischen Reiz. 

Im Mittelpunkt der didaktisch ausgerichteten Tagung stand die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen historischen Lernens mit Sachquellen, hier vor allem verstanden als museale Objekte und bauliche Relikte an historischen Orten: Wie können die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften Haptik, Ästhetik, Aura, Authentizität und Emotionalität den Prozess der Geschichtsaneignung unterstützen? Was können diese Zeugnisse erzählen, was nicht auch andere Quellen erzählen? Wieviel Offenheit und Multiperspektivität erlauben Sachquellen an (KZ-)Gedenkstätten? Welche Rolle spielen historische Räume und bauliche Strukturen? 

Deutlich wurde während der Tagung, wie fruchtbar der interdisziplinäre Austausch zwischen der Welt der Gedenkstätten und der der Museen ist. Im Austausch können beide Seiten viel voneinander lernen. Allerdings wurden auch Unterschiede deutlich, insbesondere beim Blick auf die Funktion der in Ausstellungen und im Freigelände präsentierten Objekte: Sehr viel stärker als in den Museen sind Objekte in den Gedenkstätten, die die Geschichte von Verbrechen und ihren Opfern erzählen, nicht nur Anschauungsobjekte und historische Quellen, sondern auch Beweismittel. Aus diesem Grund haben sich in den Gedenkstätten das Prinzip der Spurensuche bzw. Spurensicherung durchgesetzt. Dieses beinhaltet ein Rekonstruktionsverbot – schließlich käme (hoffentlich) auch kein Kriminalpolizist an einem Tatort auf die Idee, Beweise nachzubilden. 

Grundsätzlich ist diese Funktionszuweisung an die Objekte und Relikte in den Gedenkstätten nach wie vor richtig. Es sind aber auch Zweifel an manchen Auswüchsen angebracht: Zum einen werden aus Relikten bisweilen Reliquien mit starker sakraler Aufla­dung. Zum anderen hat sich mancherorts ein gewisser Objekt-, Orts- und Reliktpositivismus breitgemacht. Das dokumentierende Prinzip, das sich in den 1990er Jahren in bewusster Abgrenzung zu den früheren ideologisierenden Ausstellungen in DDR-Zeiten in vielen Gedenkstätten durchsetzte, wurde bisweilen derart überzogen, dass erstens Ausstellungsbesucher_innen von einer kaum zu überblickenden Dokumenten- und Objektfülle, die nicht eingeordnet und kommentiert wird, schlicht überfordert sind, und dass zweitens manchen eigentlich banalen Relikten fast schon ein Fetischcharakter zugesprochen wird. (vgl. ausführlicher Wagner: 2018) 

Nötig ist es also, konsequent den Nutzen für die Bildungsarbeit zu hinterfragen und zu hierarchisieren, welche Relikte prioritär erhalten werden sollen. Zudem müssen die Sachquellen in den Gedenkstätten stärker gesellschaftsgeschichtlich kontextualisiert werden: Ausstellungsbesucher_innen muss aktiv dabei geholfen werden, die Botschaft der Sachquellen zu entschlüsseln.  

Die Entscheidung, welche baulichen Relikte erhalten bleiben müssen und was verzichtbar ist, müssen Historiker_innen, Denkmalpfleger_innen und Gedenkstättenpädagog_innen gemeinsam fällen, denn es geht hier nicht um einen instrumentellen Blick (erhalten bleibt nur, was meinem Narrativ nutzt), sondern um eine Herangehensweise, die Didaktik und Hermeneutik ernst nimmt: Erhalten bleiben Quellen, die erklärend entschlüsselt werden müssen – und das im festen Bewusstsein, dass unsere heutige Perspektive in zwanzig Jahren schon wieder überholt sein kann.

Literatur 

Jens-Christian Wagner, NS-Gesellschaftsverbrechen in der Gedenkstättenarbeit, in: Detlef Schmiechen-Ackermann u.a. (Hg.), Der Ort der ‚Volksgemeinschaft‘ in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, Paderborn 2018, S. 421-437, hier S. 430 ff.,

ders., Mut zum Verlust – ein Plädoyer gegen den Fetisch der Relikte, in: Thomas Kersting u.a. (Hg.), Archäologie und Gedächtnis. NS-Lagerstandorte erforschen – bewahren – vermitteln, Petersberg 2016, S. 169-171.

 

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