Multiperspektivität und interkulturelles Geschichtslernen in der Jugendgeschichtsarbeit
Von Christian Schmitt
Multiperspektivisches Geschichtslernen setzt immer auch das Vorhandensein geeigneter Quellen sowie deren zielgerichtete Variation voraus. Dieser Umstand stellt insbesondere dann Multiplikator_innen vor Herausforderungen, wenn auch noch Aspekte von Interkulturalität in die Vermittlung einfließen sollen. Die didaktische Handreichung „Multiperspektivität und interkulturelles Geschichtslernen in der Jugendgeschichtsarbeit“ setzt da an und beinhaltet neben pädagogischen Anleitungen drei Praxisbeispiele für die außerschulische Jugendbildungsarbeit. Der Text ist 2010 im Rahmen des Modellprojektes „Meine Deine Unsere GeschichteN – Lokale Jugendgeschichtsarbeit und Interkulturelles Lernen“ der Landesjugendringe Berlin und Brandenburg entstanden.
Interkulturelles Lernen zum Holocaust
Das einführende Kapitel leistet Grundlagenarbeit, erläutert etwa Prozesse des historischen Lernens, stellt Oral History als wissenschaftliche Methode vor oder vermittelt die didaktischen Konzepte Multiperspektivität, Kontroversität und Interkulturalität. Während die ersten fünfzehn Seiten also lediglich eine Zusammenfassung der wichtigsten didaktischen Begriffe darstellt, liegt der wirkliche Nutzen der Handreichung in den drei darauf folgenden Praxisbeispielen. Hier finden Multiplikator_innen Material und Arbeitsaufträge zu den Themen „Erinnern und Gedenken an den Holocaust“, „Geschichte der Punks in der DDR“ und „Migrationsgeschichte“. Der erste dieser drei Blöcke soll hier kurz vorgestellt werden.
Ausgangsüberlegung ist der Umstand, dass „viele Jugendliche […] keine familiären Wurzeln in Deutschland“ (S.17) haben und sich ihnen „die Fragen der deutschen Verantwortung und die Aufgaben des Erinnerns und Gedenkens in einem anderen Licht“ (ebd.) stellen. Als Einstieg schlägt die Handreichung einen biografischen Zugang vor, um „Verbindungslinien zwischen historischen Entwicklungen und dem Leben der Jugendlichen sichtbar zu machen“ (S.18). Im Anschluss daran sind die Lernenden dazu angehalten, ihr eigenes bisheriges Leben Revue passieren zu lassen und als Fluss zu zeichnen, der Seen, Wasserfälle und Stromschnellen beinhalten oder auch ein langer ruhiger Fluss sein kann. Sie sollen so am eigenen Beispiel „zentrale Mechanismen der Erinnerung, der Konstruktion von sinnstiftenden Lebensgeschichten und den Prozess der Historisierung von Leben“ (ebd.) erfahren. Der folgende Rechercheauftrag sieht die Bildung kleiner Gruppen vor, die sich über Lebenssituation jüdischer Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern der Welt (z.B. Polen, Iran, Türkei) informieren sollen.
Fiktive Klingelschilder als Abgleich mit der eigenen Lebensrealität
Im Zentrum der Projektarbeit stehen jedoch die Klingelschilder eines fiktiven Berliner Mehrfamilienhauses. Die Jugendlichen sollen Kurzbiografien der dort lebenden Menschen erstellen und dabei Aspekte wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, Nationalität, Religiosität und weitere berücksichtigen. Es folgt der Abgleich mit der eigenen Lebensrealität: Leben vergleichbare Personen in der Nachbarschaft? Optional können die Lernenden in Archiven oder anderweitig Nachforschungen über ihre Straße oder ihr Haus oder auch über Ansätze des Erinnerns und Gedenkens in ihrer Umgebung anstellen.
Ein Rollenspiel stellt die Mieterversammlung eines Hauses nach, in dem eine Anwohnerinitiative mit einer Gedenktafel im Treppenhaus an die jüdischen Menschen erinnern will, die während der NS-Diktatur ermordet oder vertrieben wurden. Die Rollen sind in Form kurzer Porträts vorgegeben und beinhalten begründete Positionierungen von Zustimmung über wohlwollende Neutralität und Zurückhaltung bis hin zu offener Ablehnung. Die Jugendlichen sollen die Diskussion nachstellen und sich in ihrem weiteren Verlauf weitere Argumente für oder gegen eine solche Gedenkinitiative überlegen. Außerdem sollen die Überlegungen zum möglichen Ausgang einer solchen Debatte in ihrem eigenen Haus anstellen.
Zusammenfassung
Die Handreichung „Multiperspektivität und interkulturelles Geschichtslernen in der Jugendgeschichtsarbeit“ entwickelt Perspektiven, die für die Jugendlichen einerseits greifbar sind und sie andererseits zu zielgerichteten historischen Reflektionen anleiten. Die drei Projektarbeiten erfüllen alle Anforderungen zeitgemäßer Geschichtsvermittlung und können darüber hinaus allein aufgrund ihres Umfangs bereits einen gesamten mehrtägigen Workshop inhaltlich ausfüllen.
Die Handreichung „Multiperspektivität und interkulturelles Geschichtslernen in der Jugendgeschichtsarbeit“ ist auf der Website des Landesjugendringes Berlin kostenlos zum Download verfügbar.
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- 24 Mai 2017 - 06:33