Litauische Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg
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Von Ingolf Seidel
Litauen ist, ähnlich seiner baltischen Nachbarstaaten Estland und Lettland, gezeichnet durch eine wechselvolle und dramatische Geschichte. Im August 1940 besetzte de facto die Sowjetunion das Land, auch wenn es sich bei dem Akt offiziell um einen Beitritt Litauens handelte. Anfangs hatten noch Teile des litauischen Militärs und der Gesellschaft die Sowjetrepublik unterstützt. Dies änderte sich im Zuge der schnellen tiefgreifenden Sowjetisierung und infolge der massiven Repression, die von Erschießungen und Deportationen in die Gulags begleitet war. Diese Zeit hat sich tief in die litauische Erinnerung eingegraben, tiefer als die nachfolgende deutsche Besatzung, obwohl die Repression „weit hinter den Massenverbrechen der deutschen Besatzungszeit 1941 bis 1944 und der sowjetischen »Pazifizierung« 1944/1945 bis 1953“ (Dieckmann 2011: 151) zurückblieb. Bis zum Ende der deutschen Besatzung 1944 wurden ungefähr 200.000 Jüdinnen und Juden in Litauen ermordet (Vgl. Dieckmann: 792). Die Ermordeten fielen Pogromen und vor allem Massenerschießungen zum Opfer, an denen sich Litauer, wenn auch meist auf deutsche Initiative hin, beteiligten. Litauen war während der Besatzung das „Gebiet mit dem höchsten Anteil ermordeter Juden“ (Makhotina: 192), was sich in Teilen auf die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, aktiv am Morden mitzuwirken, zurückführen lässt. Nach der Frühjahrsoffensive der Roten Armee im Jahr 1944 wurde Litauen erneut sowjetisch.
In den Wäldern kämpften die „Waldbrüder“, antikommunistische und häufig antisemitische Partisanen, die sich zum Teil aus prodeutschen Einheiten rekrutierten, noch bis 1953 einen letztlich aussichtslosen Kampf, der in Terror gegen die lokale Bevölkerung mündete. Bis zu seiner Unabhängigkeit im Jahr 1990 war Litauen eine Teilrepublik der Sowjetunion.
Der litauische Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg ist bis heute ein schwieriges Kapitel, in dem die Verantwortungsübernahme für die Kollaboration mit den deutschen Besatzern und die Beteiligung an der Judenvernichtung kleingeschrieben werden. Bis wurde heute kein_e litauische_r Kollaborateur_in auch nur angeklagt. Die Nivellierung der litauischen Beteiligung am Judenmord steht für eine Tendenz in der litauischen Geschichtsschreibung. Sie versucht, die Kollaboration als Folge einer angeblichen Verantwortung von Jüdinnen und Juden für Deportationen von Litauer_innen in die sowjetischen Gulags zu rechtfertigen (vgl. S. 353). Demgegenüber untersuchen kritische litauische Historiker_innen die Verstrickung in den Massenmord und dekonstruieren Mythen über die vorgebliche jüdische Verstrickung in den Terror der Sowjetmacht von 1940/41 und über die angebliche Toleranz der litauischen Gesellschaft.
Diskurse und Repräsentationen des Zweiten Weltkriegs in litauischen Museen
Die Historikerin Ekaterina Makhotina hat sich in ihrer jüngst erschienenen Dissertation der litauischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg angenommen. Dafür hat sie sich mit den Diskursen, vor allem jedoch mit den Repräsentationen des Krieges in litauischen Museen beschäftigt. Darüber hinaus hat die Historikerin soziale Erinnerungspraxen, also Gedenkrituale und Akteure mittels Interviews untersucht. Um ein annähernd vollständiges Bild zu zeichnen, hat Makhotina auch die sowjetische Perspektive und ihre Geschichtspolitik sowie die Museumsgestaltung nach den Richtlinien des Marxismus-Leninismus ausführlich rekonstruiert. So gelingt es ihr, die Entstehung und Entwicklung des sowjetischen Narratives über den „Großen Vaterländischen Krieg“ vor allem in seiner Ausprägung in Litauen, aufzuzeigen. Diese Entwicklung war keineswegs stringent, sondern durch viele Improvisationen geprägt. In den baltischen Republiken waren die Rückgriffe auf nationale folkloristische Elemente besonders ausgeprägt, was sie zu regelrechten Schaufenstern für den Westen werden ließ (S.49). Gleichzeitig lag die Entwicklung eines eigenständigen litauischen Nationalismus nicht im Interesse der Sowjetmacht.
Die Sowjetisierung Litauens in der Nachkriegszeit kann aber aufgrund der Identifikationsangebote, die nicht zuletzt von den litauischen Eliten angenommen wurden, kaum als ein „totalitäres“ Projekt der Staatsspitze gewertet werden oder auch nicht, wie es dem litauischen Diskurs während der Perestroika entsprach, als „gewaltsame Russifizierung, als Kolonisierung oder auch als genozidale Politik in der okkupierten Litauischen Republik diskutiert und bewertet werden.“ (S.49) Makhotina zeigt auf, dass die litauische Sowjetisierung und die damit verbundene Geschichtspolitik komplexer abliefen. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg folgte in der litauischen Sowjetrepublik grundsätzlich dem heroischen Narrativ des „Großen Vaterländischen Krieges“ das vor allem aktive Kämpfer_innen und Märtyrer_innen in den Mittelpunkt stellte (Vgl. S. 119). Dazu kam für Litauen „die Aufgabe (...), nach den selbstlosen Kämpfern aus dem eigenen Volk zu suchen.“ (S. 119) Diese Suche stieß jedoch an Grenzen, „da der litauische nationale Widerstand gegen die deutschen Besatzer nicht sehr ausgeprägt war“ (S. 120). Diesem Umstand ist es zu verdanken, dass nicht nur an sowjetische Kriegsgefangene, sondern auch Jüdinnen und Juden als Märtyrer_innen erinnert wurde, ohne sich jedoch mit ihrem Schicksal detailliert zu beschäftigen oder sie als größte Opfergruppe zu kategorisieren.
Die vorrangige und integrierende Funktion sowjetischer Geschichtspolitik bestand darin, dass Litauer_innen sich ausschließlich als Opfer der deutschen Besatzung sehen konnten (S. 121). Makhotina weist die Sinnstiftungsfunktion der Kriegserinnerung nicht nur anhand der sowjetischen Geschichtspolitik nach, sondern geht im ersten Teil ihrer Arbeit auf die Symbolpolitik, die sich in litauischen Kriegsdenkmälern niederschlägt ein. Ihren Niederschlag findet die sowjetische Geschichtspolitik auch in den unterschiedlichen Museen in und außerhalb von Litauen. Dazu zählt in erster Linie das 1948 neu eröffnete Revolutionsmuseum, in dem der „Große Vaterländische Krieg“ in einem besonderen Raum präsentiert wurde. Der Ausstellung ging es darum, emotionalisierend die Einheit der litauischen Bevölkerung mit der Kommunistischen Partei und den Kampf gegen die deutschen Besatzer darzustellen (vgl. S. 148). Dabei spielen immer wieder die Motive des sowjetischen Patriotismus und der glorreich dargestellten Sowjetmacht als Identifikationsangebote mit. Heroismus, Märtyrertum, Emotionalisierung, sowjetischer Patriotismus und die litauische Nation als Opfer prägten auch andere Erinnerungsorte in Litauen wie die Gedenkstätten für das im Rahmen einer Mordaktion im Juni 1944 mitsamt der Bewohner_innen vernichtete Dorf Pirčiupis oder im Neunten Fort in Kaunas, wo während der Besatzung bis zu 50.000 Menschen ermordet wurden, davon 30.000 Jüdinnen und Juden. Im 1960 eröffneten „Gedenkmuseum“ (S. 165) von Pirčiupis wurden Gegenstände und eine Urne mit der Asche der Opfer ausgestellt, um Mitleid zu erwecken. Gleichzeitig wurden die Einwohner_innen als wehrhaft dargestellt. Grundlegend ist, entsprechend den Darstellungen im Revolutionsmuseum, die Präsentation des Sozialismus als neuem, modernerem und überlegenerem Gesellschaftssystem.
In der Symbolik des lokalen Denkmals, der „Mutter von Pirčiupis“ aus dem Jahr 1958, wurde auf eine Frauengestalt zurückgegriffen, die Trauer und Entschlossenheit darstellt. „Die Figur hatte (...) die Funktion der Mutter-Heimat inne“ (S. 160) und wurde zu einem Trauersymbol im gesamten Sowjetstaat. Auch im 1959 eröffneten Museum wurde in der musealen Inszenierung auf das Motiv kommunistischer Märtyrer, auf Heldenmotive und auf Emotionalisierungen durch schockierende Bilder von Massenerschießungen und Leichenbergen zurückgegriffen. Es sollte deutlich gemacht werden, dass die alte Ordnung, im Gegensatz zum Sozialismus stehend, für die Verbrechen verantwortlich war. Im Mittelpunkt der sowjetischen Gedenkstätten, so fasst Makhotina zusammen, stand nicht das Gedenken, sondern der erfolgreiche Kampf von Sowjetbürger_innen und Kommunist_innen (Vgl. S. 189).
Darstellung und Erinnerung an die Judenvernichtung
Bekanntlich gab es in der Sowjetunion keine spezifische Erinnerung an die Vernichtung der Jüdinnen und Juden. Deren Präzedenzlosigkeit wurde aufgrund der universalistischen Einordnung des antijüdischen Massenmordes als Teil der Gewalt gegen die Sowjetunion nicht erfasst. Dennoch geht Makhotina davon aus, dass von einer ausdrücklichen Tabuisierung des Holocaust nicht gesprochen werden kann. Vielmehr macht sie eine „Bemäntelung oder Marginalisierung der genozidalen Intention der deutschen Besatzer“ (S.194) aus. Die sowjetische Politik der Heroisierung und der Viktimisierung von ethnischen Litauer_innen ging eindeutig zulasten der Erinnerung an die jüdische Bevölkerung (Vgl. S. 198). Für die post-sowjetische Erinnerung macht Makhotina in der sowjetischen Geschichtspolitik eine Ursache darin aus, dass „Staaten wie die Ukraine, Lettland oder Litauen nach der Erlangung der Unabhängigkeit so zögerlich mit dem Holocaust umgingen“ (S. 240). Gleichzeitig habe in der Transformationszeit nach 1988 eine Nationalisierung der Geschichtsdeutungen stattgefunden, die mit Begriffen wie „nationale ’Wiedergeburt’“ oder „’die Geschichte Litauens kehrt zurück’“ umschrieben wurde (S. 240). In diesem Rahmen wurde das diktatorische Regime der Zwischenkriegszeit von Antanas Smetona rehabilitiert. Die litauische Nation wurde ausschließlich als Opfer einer fremden Macht, die für den Sozialismus verantwortlich sei, dargestellt. So wurde der autoritäre Sozialismus mit der Form einer Fremdherrschaft gleichgesetzt, „obwohl historische Studien - vor allem von Nijolė Maslauskienė – belegten, dass die Mehrheit der KPL Mitglieder Litauer waren.“ (S.251)
In Litauen wurden, wie in anderen postsowjetischen Staaten, im Zuge der Unabhängigkeit viele Denkmäler aus der sowjetischen Zeit abgerissen und gleichzeitig neue Erinnerungsorte eingerichtet, die an den sowjetischen Terror und den antisowjetischen Widerstand erinnern. Auch Museen und Ausstellungen wurden umgestaltet oder neu eingerichtet. So wurde die Ausstellung im Neunten Fort in Kaunas durch die noch aus der Sowjetzeit stammenden Mitarbeiter_innen umgestaltet. Aus der vormaligen Ausstellung über den Zweiten Weltkrieg wurde das Museum der Okkupationen, das sich schwerpunktmäßig mit den Verbrechen des Stalinismus beschäftigt (Ausführlich zum Neunten Fort s. den Artikel von Ekaterina Makhotina: Das Neunte Fort in Kaunas. Litauen zwischen Gulag- und Holocausterinnerung).
Makhotina zeigt anhand der Holocaust-Ausstellung im staatlichen jüdischen Museum in Vilnius, dem sogenannten Grünen Haus, eine Entwicklungslinie in der Präsentation der Judenvernichtung auf, die sich heute „nicht nur auf die Erfahrungsgeschichte jüdischer Überlebender“ stützt, sondern auch „Einflüsse der internationalen Musealisierungspraxis des Holocaust“ (S.351), wie sie in der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem präsent sind erkennen.
Musealisierung des Stalinismus
Ein anderer Strang der Untersuchung widmet sich der Musealisierung des Stalinismus in Litauen, für den als Ort das Museum für Genozidopfer in der Hauptstadt Vilnius steht. Von den sowjetischen Deportationen 1940/41 waren in Litauen ungefähr 142.000 Menschen aus allen sozialen Schichten und ethnischen Gruppen der litauischen Bevölkerung betroffen. Dazu gehörten Pol_innen, Jüdinnen und Juden, Russ_innen und Belaruss_innen, also nicht nur die litauische Mehrheitsgesellschaft. Viele der Verschleppten starben aufgrund der Bedingungen in den Gulags. Vor allem litauische Emigrant_innen benutzen für die Verbrechen der Sowjetmacht den Begriff Genozid und nutzten zu dessen Untermauerung erhöhte Zahlen von 350.000 bis 800.000 Opfern. Die Einordnung des sowjetischen Terrors als Genozid ist durchaus umstritten, allein, weil die entsprechende UN-Konvention aus dem Jahr 1948 die Ermordung sozialer und politischer Gruppen nicht einschließt. Das geschichtspolitische Ziel der öffentlichen Verwendung des Genozidbegriffs in Litauen seit 1989 dürfte vor allem darauf abzielen, Strukturgleichheiten von Nationalsozialismus und Stalinismus zu behaupten. Makhotina weist in diesem Zusammenhang daraufhin, dass die anderen baltischen Staaten sich dieser Terminologie enthalten und, dass er in der Ukraine erst seit 2006 verankert ist (vgl. S. 300).
Das heutige Museum für Genozidopfer ist als historischer Ort vielfältig. Das Gebäude diente seit Ende des 19. Jahrhunderts als Gerichtsgebäude unter russischer und polnischer Herrschaft. Zum Gefängnis für politische Gegner_innen wurde es erst ab 1940, also im Zuge der ersten Sowjetisierung Litauens. Die deutschen Besatzer nutzten es für den Generalstab der Gestapo. Die im Keller befindlichen Zellen dienten als Gefängnis für Kommunist_innen, Pol_innen sowie Juden und Jüdinnen. In der zweiten sowjetischen Periode war der Bau erst Gefängnis. Zu Beginn der 1060er Jahre fungierte es Lager des KGB-Archivs. Bereits 1992 wurde es als das heutige Genozidmuseum eingerichtet (vgl. S.309f). Obwohl der Fokus auf beiden Besatzungen liegen sollte, ist allein die sowjetische Zeit gemeint. Wie an anderen von Makhotina analysierten Orten wird auch im Museum für Genozidopfer in erster Linie auf Emotionalisierung gesetzt. Ein quellenkritischer Umgang mit den Exponaten unterbleibt zugunsten der nationalen Opferstilisierung. Das fällt besonders bei der Darstellung der antisowjetischen Partisanen ins Gewicht. In den beiden Räumen, die dem antisowjetischen Widerstand gewidmet sind, wird, wie der Rezensent durch Augenschein bestätigen kann, aufwendig mit Audio-Effekten und einer Waldinstallation gearbeitet. Nationale Symbole sind nahezu omnipräsent. Abstoßend wirkt die unkommentierte Verwendung von antisemitischen Karikaturen, die sich gegen die Sowjetmacht richten und das Stereotyp des „jüdischen Bolschewismus“ aufgreifen (vgl. S.318). Bei der Präsentation von Fotografien wird im Museum auf Schockeffekte gesetzt, ohne dass zwangsläufig der historische Kontext verdeutlicht wird. So wird durch die Verwendung von Schienensträngen und Koffern eine Assoziation zu Bildern aus Auschwitz hergestellt. Makhotina konstatiert, dass die postsowjetischen litauischen Musealisierungen „die Beschränkung der eigentlich ethnisch übergreifenden Gewalterfahrungen der Einwohner Litauens (...) auf die ethnisch litauischen Opfer steht in der Tradition des Geschichtsbildes, wie es in der Umbruchszeit der 1980er Jahre formuliert wurde und welches wiederum an die nationalistischen Konzeptionen der Zwischenkriegszeit anknüpft.“ (S.332)
Obwohl die heutige litauische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg durchaus heterogen und konfliktbeladen ist, dominieren in den staatlichen musealen Repräsentationen nationalistische Konzeptionen, die einer modernen offenen Museumskultur und didaktischen Grundprinzipien zuwiderlaufen. Makhotinas differenzierte Darstellung ist ein großes Verdienst. Sie entwirft ein kritisches Bild der sowjetischen Kriegserinnerungen, ohne in totalitarismustheoretische und somit ideologische Fallen zu geraten. Mit ihrer Analyse der postsowjetischen Diskurse und Musealisierungen bewegt sie sich auf einem geschichtspolitisch und identitätspolitisch aufgeladenen Feld. Desto wichtiger ist ihre sachliche Analyse der nationalen Vereindeutigungen litauischer Museen. Das Buch „Erinnerungen an den Krieg – Krieg der Erinnerungen“ hat auch in diesem Sinn das Potenzial, für die nächsten Jahre ein Standardwerk für die Auseinandersetzung um postsowjetische Erinnerung zu werden.
Weitere Literatur
Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941-1944. Göttingen 2011.
Gedenkstättenportal zu Orten der Erinnerung in Europa, Stichwort Litauen, http://www.memorialmuseums.org/laender/detail/14/Litauen (eingesehen 16. Januar 2017)
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- 22 Feb 2017 - 06:54