In der Nähe des Potsdamer Platzes in Berlin, zwischen Kulturforum und Siegessäule bleiben einige Tourist/innen bei einer merkwürdigen blauen Glasscheibe stehen. Etwa zwanzig Meter lang und von der einen Seite flankiert von einem ebenso langem Steinsockel, befindet sie sich direkt vor der Berliner Philharmonie, abgesenkt zwischen grünem kurzen Rasen, der eingefasst wird von weißen Schwellen. Gegenüber erstreckt sich der Tiergarten, daneben gibt es zwei leere Bushaltestellen und eine große Skulptur aus rostigem Eisen. Geht man um das Kunstwerk herum, stößt man auf eine Bronzeplatte, im Boden eingelassen. Ihre Inschrift schließt: „Die Zahl der Opfer ist groß, gering die Zahl der verurteilten Täter.“

Gemeint sind die vergessenen Opfer der NS-“Euthanasie“. An sie und an die vielen Täter/innen erinnert der „Gedenkort T4“.Aktion T4“ hieß das nationalsozialistische Vernichtungsprogramm, in dessen Rahmen bis 1945 ca. 300.000 Kinder, Frauen und Männer mit psychischer Erkrankung oder geistiger Behinderung systematisch ermordet wurden. Eine psychiatrische Gutachterkommission entschied ab Oktober 1939 in der Villa Tiergartenstr. 4 allein aufgrund der Angaben in einem „Meldebogen“ über das Schicksal der Betroffenen. Ein rotes Plus bedeutete Tötung, ein blaues Minus Überleben. Die nationalsozialistische Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik sollte eine „erbgesunde arische Rasse“ schaffen. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg hatten sozialdarwinistische Ideen auch in anderen Ländern Europas und in den USA Eingang in die modernen Wissenschaften Eugenik und Rassenhygiene gefunden. Im NS setzte sich die Vorstellung durch, dass Individuen einen Wert für die Gesamtbevölkerung haben müssten, der sich an ihrer Produktivität bemisst. Trotz der hohen Opferzahl sind erst wenige Tausend Namen öffentlich zugänglich, noch weniger ihrer Geschichten sind bekannt.

Räumliche Erfahrung am Ort der Täter

Die Villa in der Tiergartenstraße 4 wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, ihr Gelände ist heute Teil des Kulturforums. Am historischen Ort befindet sich seit September 2014 ein Gedenk-Ensemble mit mehreren für die historisch-politische Bildung interessanten Ebenen: Die unmittelbare Aufgabe, eine Irritation im Stadtbild zu erzeugen und damit an die Verbrechen zu erinnern, die an diesem Ort eine beispiellose Systematik erhalten haben, scheint das Ensemble zu erfüllen. Die gläserne Wand richtet sich wie ein Keil zur Philharmonie aus. Passanten bleiben verwundert stehen, suchen Informationen.

Mit Schulklassen lässt sich anhand der Wand etwa das Thema Selektion mittels der ideologisch-politischen Kategorien „lebenswertes – minderwertiges Leben“ aufgreifen und räumlich erfahrbar machen. Durch die Schwellen begrenzt, die den Grundriss des ehemaligen Gebäudes Tiergartenstrasse 4 nachzeichnen, werden die Besucher/innen gewissermaßen zur Konfrontation mit der kaum sichtbaren Trennwand genötigt und zugleich auf diesen politischen Raum festgelegt. Diese Trennung ist dennoch in zwei – vielleicht zeitlich zu verstehende – Richtungen offen und kann jederzeit umgangen werden. Inwiefern dies gewollt ist, bleibt unausgesprochen, die Seiten der Glaswand sind nicht betitelt.

Von der Eugenik zu vergessenen Opfern

Auf der zweiten Ebene klärt das Mahnmal über die „Aktion T4“ und ihren Zusammenhang auf. Der lang gezogene Sockel neben der Scheibe erzählt die Geschichte der „Euthanasie“-Morde: der Weg von der Wissenschaft der Eugenik, d.h. der Rassenhygiene zur „Bürokratie des Todes“; wer Täter/innen, Mitwissende und Profitierende waren; wer die Opfer. Ein Abschnitt berichtet über die Entwicklung nach 1945 und den für viele Opfer vergeblichen Kampf um Anerkennung und Entschädigung. Die Geschichte des Erinnerungsortes bis heute und die Bemühungen, historische Bilder und Dokumente für die Aufarbeitung überhaupt sicher zu stellen, werden vertiefend dargestellt.

Abschließend können sich die Besucher/innen einen „T4-Meldebogen“ für die ermordete Klara B. im Detail anschauen. Er eignet sich für die Quellenarbeit im Unterricht. Aus ihm lassen sich die verschiedenen Dimensionen der Vernichtung durch „Euthanasie“ diskutieren: Bürokratie und Schreibtischtäter; die für Leben oder Tod entscheidende Rolle der vermeintlichen Arbeitsfähigkeit; die weiteren zentralen Faktoren, wie lang der Klinikaufenthalt schon dauert, die „Rassenzugehörigkeit“ und ob es Angehörige gibt, die regelmäßig zu Besuch kommen – und bei Verschwinden des Patienten nachfragen oder sogar protestieren könnten. Das Formular bietet darüber hinaus einen Ansatz, um über die Willkür der Selektion zu diskutieren. Denn obwohl Lernschwäche mindestens zur Sterilisation führen konnte, diagnostizierte der/die T4-Mitarbeier/in selbst „Schüzephrenie“ auf dem Beispiel-Meldebogen. Und während über den Mord der Patienten entschied, ob sie vermeintlicher Nutzen oder Ballast für die „Volksgemeinschaft“ seien, ergänzt ein Hinweis zum Todesdatum, dass die psychiatrische Anstalt noch mehrere Monate nach dem Mord Pflegegelder für Klara B. kassierte.

Zuletzt sind die zahlreichen Orte der „Euthanasie“-Morde in Nazi-Deutschland auf Karten zu sehen.

Die einzelnen Beiträge sind mit Bildern und Dokumenten illustriert, kurze Biographien von Opfern und Täter/innen erinnern daran, dass die pseudo-wissenschaftlichen und bürokratischen Schriften konkrete Menschen betrafen und nur durch verantwortlich Handelnde möglich waren. Alles kann auf Deutsch, Englisch, Leichter Sprache und in Blindenschrift gelesen werden. Ein Video gibt alle Texte zum Hören und in Gebärdensprache wieder.

Schichten der Erinnerungspolitik

Auf einer weiteren Ebene ermöglicht es der Gedenkort T4, Erinnern und Geschichtsschreibung als politischen Prozess zu reflektieren. Beispielsweise können Jugendgruppen die verschiedenen Elemente suchen, die ihrer Vermutung nach eine Gedenkfunktion haben. Sie finden Tafeln in den zwei Bushaltestellen, die Bronzetafel im Boden, die Skulptur von Richard Serra und die Dokumentation, wie langwierig und mühsamen die vergessenen Opfer, ihre Angehörigen und solidarische Initiativen für den Gedenkort kämpfen mussten. Aussagekräftig ist zum Beispiel, dass der Berliner Senat erst 1988 zum Gedenken beitrug – indem er die rostige Großplastik von Serra, die ursprünglich für die deutsche Teilung durch den sogenannten Eisernen Vorhang stand, kurzerhand umwidmete. Die Bodentafel von Volker Bartsch kam 1989 dazu. Das heutige Denkmal von Ursula Wilms, Heinz W. Hallmann und Nikolaus Koliusis wurde im September 2014 eingeweiht, fast 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vielfältiges Ergänzungsmaterial und „andersartig gedenken“

Ein Katalog zum Gedenkort erscheint am 5.11.2015. Damit lassen sich Unterricht, Workshop und Seminar stützen, er versammelt Quellen und ebenso prägnante wie vertiefende Texte zur Geschichte von „Euthanasie“, Eugenik und zum Gedenken am historischen Ort.

Ebenfalls Anfang November wird der neu überarbeitete virtuelle gedenkort-t4.eu frei geschaltet. Auf der Website wird neben einer Mediathek umfangreiches Material zu finden sein: ca. 100 Biographien von Opfern, Lebenswege von Täter/innen und der Tiergartenstrasse 4 als ihrer Schaltzentrale, zu Zwangssterilisation, den verschiedenen Tötungsanstalten und zum Widerstand gegen die Aktion. Der Schul- und Amateurtheater-Wettbewerb „andersartig gedenken“ prämiert Theaterprojekte „gegen das Vergessen“ und stellt Opfer-Biographien in den Mittelpunkt. Einsendeschluss ist der 29. April 2016. Außerdem erscheint die Publikation »Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Morde« von Annette Hinz-Wessels. Am 5. November 2015 wird diese zusammen mit dem neuen Ausstellungskatalog im Dokumentationszentrum der Topographie des Terrors in Berlin präsentiert werden.

Zur historisch-politischen Reflexion mit Jugendlichen gut geeignet ist der Umstand, dass nach dem öffentlichen Protest des Münsteraner Bischoffs Graf von Galen das offizielle Vernichtungsprogramm T4 1941 gestoppt wurde. Hier bieten sich Diskussionen über historische individuelle Handlungsspielräume im historischen Kontext an. Da das Morden inoffiziell in vielen Anstalten weiter ging, liegt die Frage nahe, ob NS-Morde nur auf Befehl oder oft aus ideologischen Motiven durchgeführt wurden. Dass es soziale Normen sind, die festlegen, was gesund und „normal“ gilt und was nicht, kann am Beispiel von Opfer-Biographien reflektiert werden, die als homosexuell – also als vermeintlich krank - denunziert wurden. Und schließlich, inwieweit ist die Abwertung sozial Schwacher v.a. nach Kriterien ihrer Verwertbarkeit heute noch aktuell? Möglich wäre dabei ein Bezug auf zeitgenössische Bestseller wie Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“.

Der Gedenkort T4 und das ergänzende Material bietet insgesamt sehr viele Möglichkeiten für die historisch-politische Bildung.

Links

http://www.gedenkort-t4.eu/

http://www.andersartig-gedenken.de/startseite/

Literatur

Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas (Hg.): Tiergartenstrasse 4. Gedenk- und Informationsort für die Opfer der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Morde, Bonifatius Paderborn 2015, ISBN 978-3-942240-18-5

Annette Hinz-Wessels: Tiergartenstraße 4. Schaltzentrale der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹-Morde, Ch. Links Verlag Berlin 2015, ISBN 978-3-86153-848-6 

 

 

 

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