„Ausmerzende Erbpflege“ an sogenannten Asozialen. Zwangssterilisierungen im Berliner Arbeits- und Bewahrungshaus Rummelsburg.
Von Bernhard Bremberger und Lothar Eberhardt
195 Insassinnen und Insassen des Berliner Arbeits- und Bewahrungshauses Rummelsburg wurden von 1934 bis 1945 zwangssterilisiert. Die Betroffenen waren Opfer eines erbbiologischen Kreuzzugs mit dem Ziel der „Unfruchtbarmachung zur Verhütung asozialen Nachwuchses“, wie der Leiter des Berliner Landes-Wohlfahrts- und Jugendamts Karl Spiewok im Frühjahr 1937 formuliert hatte.
Nach dem Anfang 1934 in Kraft getretenen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ sollten Personen auch gegen ihren Willen sterilisiert werden können, wenn bei ihnen eine erbliche Krankheit festgestellt wurde: etwa „angeborener Schwachsinn“, „Schizophrenie“, „erbliche Fallsucht“, erbliche Blindheit oder Taubheit. Aber auch wer unter „schwerem Alkoholismus“ litt, konnte unfruchtbar gemacht werden. Dies sollte vor einem Erbgesundheitsgericht geprüft und beschlossen werden.
Das Gesetz hatte in den Augen der Rassehygieniker jedoch einen Schönheitsfehler: Es argumentierte lediglich medizinisch und erlaubte somit zwar, gegen Menschen mit körperlichen und psychischen Leiden vorzugehen – doch gegen „sozial Unerwünschte“, gegen „Asoziale“, bot es keine unmittelbare Handhabe. Die Definition „asozial“ nutzte man, um Menschen mit abweichenden Verhalten, Lebensentwürfen oder familiären Hintergründen etc. stigmatisierend auszugrenzen. Von da war es im NS-Staat nur ein kurzer Weg zur Einweisung in Konzentrationslager bis hin zur Ermordung.
* Um „Asoziale“ nach dem Gesetz sterilisieren zu können, wurden diese erst als „Schwachsinnige“ oder „Trinker“ im Sinne des Gesetzes definiert.
* Dann aber versuchte man, so genannten „moralischen Schwachsinn“ oder „Schwachsinn im rassehygienischen Sinne“ als Hilfskonstruktion zu verwenden.
* Die Praxis zeigt jedoch, dass sogar dann Zwangssterilisierung „Asozialer“ beantragt wurde, wenn ihnen keine medizinische Diagnose im Sinne des Gesetzes anzuhängen war.
* Bald wurde ein „Sondergesetz“ zur „Unfruchtbarmachung Asozialer“ diskutiert.
* Schließlich gab es während des Krieges Forderungen, „Asoziale“ einfach nach dem „gesunden Volksempfinden“ zu definieren und ohne langen Prozess zu sterilisieren und damit auszumerzen.
Das Berliner Arbeits- und Bewahrungshaus Rummelsburg diente dazu, diejenigen Personen aus Randgruppen der Gesellschaft wegzuschließen, die man strafrechtlich nicht auf Dauer in Strafanstalten bringen konnte. Diese Institution der sozialen Ausgrenzung geriet erst vor einigen Jahren in die öffentliche Wahrnehmung und in die Forschung – auch aufgrund der Privatisierung der Gebäude. Eine wichtige Rolle bei der Erinnerungsarbeit spielte der Berliner „Arbeitskreis Marginalisierte - gestern und heute“. Dessen Mitglied Lothar Eberhardt begann 2011 mit der Auswertung der Register des Berliner Erbgesundheitsgerichts. Heute liegen nach zusätzlicher Auswertung von rund 21.000 Karteien des Gerichts gesicherte Zahlen vor.
Der Löwenanteil der 195 Rummelsburger Zwangssterilisationen fällt in die Jahre 1934 bis 1936 und ist meist mit „angeborenem Schwachsinn“ begründet, gelegentlich auch mit Alkoholismus, selten auch mit anderen sogenannten Diagnosen. Die genannte Zahl umfasst allerdings nur diejenigen Personen, gegen die im Verlauf ihres unfreiwilligen Aufenthaltes im Arbeits- und Bewahrungshaus ein Verfahren lief und daraufhin die „Unfruchtbarmachung“ erfolgte. Selbstverständlich bleibt unklar, wie viele Personen bereits zwangssterilisiert waren, bevor sie nach Rummelsburg kamen. Auch die Zahl derjenigen ist ungewiss, die erst nach ihrem unfreiwilligen Aufenthalt in der Anstalt in die Gewalt der „Erbgesundheitspflege“ gerieten. (So etwa ein 1905 geborener ungelernter Arbeiter, der aufgrund seiner Arbeitslosigkeit betteln musste und deswegen mehrfach bestraft wurde, bevor er in das Arbeits- und Bewahrungshaus eingewiesen wurde. Dort bekam er „Verwirrtheitszustände“, so dass er in eine Heil- und Pflegeanstalt überwiesen wurde. Erst dann wurde ein Antrag auf Unfruchtbarmachung wegen angeblichen „Schwachsinns“ gestellt.)
Zusammenfassung und Perspektive:
195 Insassinnen und Insassen des Arbeits- und Bewahrungshauses Rummelsburg fielen der nationalsozialistischen Zwangssterilisation zum Opfer - unverhältnismäßig mehr Frauen als Männer. Aus den ausgewerteten Karteikarten und Registern des Berliner Erbgesundheitsgerichts erfahren wir über sie kaum mehr als Namen, Geburtsdaten und Wohnadressen. Die von fast allen Opfern vorhandenen ein bis dreiseitigen Beschlüsse des Gerichts enthalten weitere biographische Informationen. Leider sind nur knapp zwei Dutzend Akten des Gerichts über Arbeitshausinsassen erhalten. Erst durch weitere Auswertung erfahren wir mehr über das Schicksal einzelner Personen aus dieser bis heute nicht anerkannten Opfergruppe des Nationalsozialismus.
Literatur
Anne Allex/Dietrich Kalkan (Hg.): ausgesteuert, ausgegrenzt ... angeblich asozial. Neu-Ulm 2009.
Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995.
Wolfgang Ayaß: „Demnach ist zum Beispiel asozial ...“ Zur Sprache sozialer Ausgrenzung im Nationalsozialismus; S. 69-89 in: Nicole Kramer/Armin Nolzen (Hg.): Ungleichheiten im „Dritten Reich“. Semantiken, Praktiken, Erfahrungen. Göttingen 2012.
Wolfgang Ayaß: „Asozialer Nachwuchs ist für die Volksgemeinschaft vollkommen unerwünscht.“ Die Zwangssterilisation von sozialen Außenseitern. S. 111-119 in: Margret Hamm (Hg.): Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und „Euthanasie“. Frankfurt (VAS) 2005.
Thomas Irmer: Zur Geschichte des Arbeitshauses Rummelsburg in der NS-Zeit. Vortrag, Deutsches Historisches Museum, 12. Juni 2013.
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- 28 Okt 2015 - 09:41